Eine Stätte, von wo Licht ausging

Textdaten
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Autor: Hermann Richter
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Titel: Eine Stätte, von wo Licht ausging
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[747]
Eine Stätte, von wo Licht ausging.
Von Prof. Richter in Dresden.

Es giebt Oertlichkeiten, an welche sich die dankbare Erinnerung der Völker in mehr oder weniger feierlicher Weise anknüpft. Nicht die Stellen meine ich, wo einst rohe Gewalt gehaust, wo Geschöpfe, die sich Menschen nannten, einander abgeschlachtet haben, – sondern solche Stellen, von wo ein neues Licht über die Völker ausging, das die Gemüther erwärmt oder die Geister aufgeklärt, das den Hoffnungen auf einen endlichen Sieg des Besseren frische Nahrung gegeben hat! – Solche Stätten verehrt der Christ in Bethlehem und Jerusalem, der Alttestamentliche am Sinai, der Mohamedaner in Mekka, – solche Stätten sind die Wartburg, das Schillerhaus, das Lessingstift u. a. m

Auch die naturwissenschaftliche Heilkunde, die sogenannte neue oder physiologische Schule der deutschen Medicin hat eine solche Stätte, von wo für sie und Andere Licht ausging und an welche Hunderte von neueren Aerzten mit Dank und Verehrung gedenken. Und wirklich ist es auch, wie in Mekka, eine kleine Hütte, eine Kaaba, an welche sich dieses Andenken festheftet. Ein Hüttchen, welches vielleicht bald ganz abgebrochen werden wird! Deshalb beeilten wir uns, es noch bei Lebzeiten photo- und xylographisch zu verewigen. Wir hoffen uns dadurch ein Verdienst und den Dank vieler jüngerer Aerzte zu erwerben.

Diese Localität ist, wie die Unterschrift zeigt, das alte Leichen- und Sectionshaus des großen allgemeinen Krankenhauses zu Wien: in der That ein kleines niedriges unansehnliches Gebäude, aus welchem aber nichtsdestoweniger geistige Errungenschaften von unberechenbarer Tragweite hervorgegangen sind. In diesen engen Räumen sind jene zahlreichen, mühsamen und aufopferungsvollen anatomischen Untersuchungen angestellt worden, deren Endergebnisse die gesammte deutsche Medicin umgewandelt und zu einer ganz neuen Wissenschaft gemacht haben, – oder besser ausgedrückt: durch welche die Medicin aus einem Gemenge von Einzelthatsachen, Meinungen und Träumereien in eine solide, selbstständig forschende und stetig fortschreitende Naturwissenschaft umgestaltet worden ist. Eine Umgestaltung, welche von da aus (schon jetzt und in der Folgezeit immer mehr) auch auf alle anderen Facultäitswissenschaften, auf Volkswirthschaft und Staatsverwaltung durchgreifende Einwirkungen haben wird.

Um diese Bedeutung des kleinen Wiener Sectionssaales anschaulicher zu machen, ersuche ich den Leser, mir nach der großen und glanzvollen Hauptstadt selbst zu folgen.

Im westlichen Stadtteile Wiens, in der Herrnalser Vorstadt, zwischen der Alser und Währinger Straße, befindet sich ein Complex von Gebäuden, welcher an Umfang und Bewohnerzahl den Namen einer kleinen Stadt verdienen dürfte. Derselbe besteht aus etwa neun Höfen, deren Riesenumfang man danach ermessen kann, daß in dem vordersten Hofe ein großes Gebäude, die ganze berühmte Wiener Universitätsklinik enthaltend, frei dasteht, ohne die Uebersicht des Hofraumes und seiner Einfassung wesentlich zu beeinträchtigen. Dieser Häusercomplex ist eine Art von Krankenstadt, nämlich das weltberühmte allgemeine Krankenhaus: eine der großartigen Stiftungen des menschenfreundlichen Kaisers Joseph II., welche allein schon hinreichen würde, seinen Namen unsterblich zu machen. Es giebt kein zweites derartiges Krankenhaus auf der ganzen Erde; denn in allen gleichgroßen oder größeren Hauptstädten sind die Krankenhäuser kleiner und in den verschiedenen Stadttheilen vertheilt. (Was auch seine großen Vorzüge hat.) In diesem allgemeinen Krankenhause finden alle in Wien oder dessen Umgegend (bis weithin) Erkrankten ohne Unterschied der Provinz, des Glaubensbekenntnisses etc. nöthigenfalls Aufnahme und Verpflegung. Es ist begreiflich, daß dadurch Jahr aus Jahr ein sich ein ungeheuer reiches Material für ärztliche Wissenschaft und Kunst, für Beobachtungen, Versuche und Entdeckungen in allen Zweigen der Krankheits- und Heilungslehre, der Geburtskunde und anderer ärztlicher Wissenschaftszweige zusammenfinden muß. Nach den mir vorliegenden sechs letzten gedruckten Jahresberichten dieser Anstalt, – denen ebenfalls an Reichhaltigkeit und tüchtiger Verarbeitung des Stoffes kein anderes ähnliches Erzeugniß der medicinischen Literatur zur Seite gestellt werden kann,[1] – wurden daselbst jährlich zwischen 21,557 bis 25,606 (durchschnittlich 24,255) Personen behandelt, von denen etwa ein Neuntel starb. (Denn begreiflich wiegen unter den Eingelieferten die schwerer Erkrankten und Todescandidaten vor!) Da nun, sofern nicht Einsprüche erhoben werden, jede Leiche zur Obduction an das sogenannte [748] Leichenhaus abgeliefert und jede wissenschaftlich interessante auch auf eine höchst genaue und vollständige Weise geöffnet und darüber ein ausführliches Protokoll geführt wird: so bietet dieser Centralpunkt, wo Tag für Tag, Jahr für Jahr unausgesetzt gearbeitet wird, ein anatomisches Material, wie man es ebenfalls in der ganzen Welt nicht in gleicher Fülle findet. Nach den eben erwähnten Krankheitsberichten wurden in den letzten Jahren durchschnittlich 1275 Sectionen im Jahre gemacht, ungerechnet die von Gerichts- und Polizeiwegen in demselben Locale vorzunehmenden und zu Protokoll zu bringenden!

Lange Zeit hindurch scheint man in Oesterreich kaum geahnet zu haben, welch ein Schatz von Aufklärungen zum Besten der leidenden Menschheit, nicht blos für die prakticirenden Aerzte, sondern für öffentliche Gesundheits- und Krankheitspflege, Statistik und Volkswirthschaft in diesem Material des Wiener Kranken- und Leichenhauses verborgen stecke. – Es war einem einzigen Manne, einem wahrhaft Einzigen, beschieden, diesen Schatz zu heben und in einer Weise zu verwerthen, daß die gesammte Medicin davon Gewinn ziehen mußte. Dies geschah aber nicht etwa durch einen kühnen Griff, sondern durch eine jahrelange, mit unerhörter Ausdauer

Das alte Leichen- und Sectionshaus des allgemeinen Krankenhauses in Wien.

und Hingebung und ohne höhere Ermuthigung fortgesetzte Arbeitsthätigkeit.

Dieser Mann ist es, den wir unsern Lesern in wohlgelungenem Bilde (in nächster Nr.) und mittels einer kurzen Lebensgeschichte vorführen wollen. Es ist der Dr. Carl Rokitansky zu Wien, Professor der pathologischen Anatomie, jetzt Regierungs- u. Ministerialrath – bei allen jüngeren Aerzten „Vater Roki“ genannt. Derselbe stammt (wie eine Mehrzahl der hervorragenden Professoren der sogenannten neuen Wiener Schule) aus Deutschböhmen und ist der Sohn eines Regierungsbeamten in Königingrätz. Hier und in Leitmeritz vollendete er seine Gymnasialstudien, zu Prag und Wien seine medicinischen. Er ward 1828 zu Wien Doctor und kurz darauf als Gehülfe an der obenbesprochenen pathologisch-anatomischen Anstalt angestellt. Nach dem frühzeitigen Tode seines Vorgesetzten, des Professor Wagner, eines begabten jungen Mannes, wurde Rokitansky im Jahre 1832 Vorsteher dieser Anstalt. Er begann dieses Amt, welches er noch jetzt bekeidet, sofort mit der Sorgfalt und Gründlichkeit, durch welche sich das Institut noch heute auszeichnet und vielen anderen als Vorbild gedient hat. Ganz im Stillen nutzte er dessen reiche Schätze aus. Aber er speicherte seine Erfahrungen auf, um zu festbegründeten Ergebnissen zu gelangen, von denen nur Einzelnes zur Oeffentlichkeit kam. So blieb Rokitansky und sein Sectionssaal in seinem eigenen Vaterlande lange Zeit wenig beachtet, und es waren anfangs hauptsächlich fremde Aerzte, welche dessen Werth zu schätzen wußten. Erst nach zehnjähriger Wirksamkeit, nachdem sich Rokitansky über das Gesammtgebiet der Krankheiten, soweit sie an der Leiche, unter steter Beihülfe der Beobachtung am Krankenbette[2], erforschbar sind, die ausreichendste Kenntniß und Uebersicht verschafft hatte, begann derselbe die Herausgabe seines berühmten „Lehrbuchs der pathologischen Anatomie“ (1842 bis 1846), welches fortan die Grundlage jedes ärztlichen Forschens werden und nicht nur die deutsche, sondern auch bald (in mehrere lebende Sprachen übersetzt) die ausländische Medicin nach und nach im Geiste neuerer Naturwissenschaft umgestalten sollte. Zu gleicher Zeit etwa sammelten sich auch um ihn die strebsameren Aerzte Oesterreichs (längst vorausgegangen war sein Busenfreund Skoda, welcher neben Rokitansky als zweiter Grundpfeiler der neuen Schule stets zu nennen ist). Diese Schüler, in ihre Heimath zurückgekehrt und bald in Besitz der wichtigeren klinischen Stellen getreten, übertrugen nun die von Rokitansky gewonnenen Erfahrungsthatsachen eine nach der andern auf die Beobachtung und Behandlung am Krankenbette und setzten seine Forschungen am Leichentisch weiter fort. So entstand die weitberühmte Wien-Prager Schule, welche besonders für Erkenntniß der Krankheiten (Diagnostik) und für einfache naturgemäße Behandlung derselben (Therapie) in kurzer Frist so Ausgezeichnetes geleistet hat.

Um die Bedeutung der durch Rokitansky bewirkten Reform zu würdigen, möge der Leser sich Folgendes vergegenwärtigen. Bis dahin war die Medicin ein, wie schon oben erwähnt, – trotz manches glücklichen Anfangs, namentlich der Pariser Schule – nur ein buntes Gewebe von Thatsachen und Meinungen, Beobachtungen und Einbildungen, welches durch allerlei dichterische Einfälle und hochklingenden Wortkram zusammengehalten wurde. Erst durch Rokitansky wurde das Gesammtgebiet der Heilkunde (der inneren, chirurgischen und geburtshülflichen) hinsichtlich seines eigentlichen Vorwurfes (Gegenstandes, Objects), nämlich des erkrankten Körpers und seiner Unterschiede vom gesunden, auf jene Grundlage gestellt, welche von anderen Naturwissenschaften schon längst eingenommen wird, nämlich auf die nüchternste und gewissenhafteste Durchforschung des Einzelnen (des Details), verbunden mit stufenweise fortschreitender Verknüpfung der Thatsachen zu allgemeineren Sätzen und zur Enträthselung des gesetzmäßigen Entwicklungsganges der einzelnen organischen Vorgänge (Processe) im Verlauf der Krankheiten und Genesungen. Dazu war es eben nothwendig, daß ein und derselbe Mann – wie hier unser Rokitansky – die Gelegenheit hatte und jahrelang benutzte, um an zahlreichen Leichen, von denen jede doch nur einen einzelnen Zeitabschnitt eines Krankseins darstellt, die verschiedensten Seiten dieser Vorgänge aufzufinden und nach ihrer wirklichen Folge aneinander zu reihen. Diese Hingebung, dieses wohlbewußte Zögern, binnen nunmehr dreißig Jahren, vielleicht an mehr als 40,000 Leichenöffnungen geübt, erwirbt unserm Rokitansky allein schon das Recht auf den Titel des ärztlichen Fabius Cunctator, „welcher allein durch sein Zaudern das Reich errettet hat,“ wie Ennius sagt:

Unus homo nobis cunctando restituit rem.

Es gehörte aber zu solch umfassender Arbeit noch ein zweites und drittes Erforderniß. Erstens eine anschauliche Kenntniß des Verlaufes der Krankheiten am lebenden menschlichen Körper. Dazu bot das reiche Material des Wiener [749] Krankenhauses und die Gefälligkeit der ihm befreundeten Aerzte eine Gelegenheit, welche Rokitansky emsig benutzt hat. Endlich gehörte dazu eine allgemeine über alle Zweige der Medicin und ihre Hülfswissenschaften ausgebreitete Bildung, eine Universalität des Wissens, wie sie dem Einzelforscher in der Regel zu mangeln pflegt. In allen diesen Zweigen, mit Einschluß der physikalischen (Lichtlehre, Mikroskopie, Mechanik etc.), der Chemie, der Naturgeschichte etc. mußte sich unser Rokitansky im Stillen mit fortbilden, um seiner Aufgabe gewachsen zu bleiben. Er mußte sich zugleich durch allgemeinere philosophische Studien die Freiheit des Blickes erhalten, welche nothwendig ist, um Massen von Thatsachen richtig zu ordnen und zur Gewinnung von Naturgesetzen übersichtlich zusammenzufassen. Allen diesen Ansprüchen genügte Rokitansky schon in der ersten Auflage seines Lehrbuchs in einer solchen Weise, daß dieselbe für ihre Zeit als etwas Vollkommenes gelten konnte.

Das neue pathologisch-anatomische Institut zu Wien.


Rokitansky hat jedoch noch eine zweite Aufgabe gelöst, welche wir ihm weit höher anrechnen. Es ging ihm nämlich bei jener ersten Arbeit, wie es fast allen Reformatoren ergangen ist: beim ersten Reform-Anlauf bleibt auch den erleuchtetsten Geistern in der Regel noch ein Rest von alten Anschauungen übrig, deren sie sich nicht gleich auf einmal zu entledigen vermögen. Diesen Rest tilgen dann gewöhnlich ihre Schüler und Nachfolger aus und werden radicaler, als der Meister war. Etwas Aehnliches begegnete unserm Rokitansky mit seiner sogenannten Krasenlehre, welche noch jetzt von übelwollenden und schlecht unterrichteten Leuten als Argument gegen die neue Wiener Schule benutzt wird. Es giebt nämlich gewisse Krankheiten, welche scheinbar oder wirklich den ganzen Organismus, wenigstens dessen Hauptorgane und Systeme gemeinsam ergreifen. Rokitansky hat diese Constitutionskrankheiten, wie man sie jetzt nennt, in ihrer anatomischen Beschaffenheit mit Meisterhand geschildert. Er legte hierbei die uralte Voraussetzung (Hypothese) zum Grunde, als ob hier die Säfte, insbesondere das Blut, erkrankt seien und durch ihre fehlerhafte Beschaffenheit die verschiedentlichen auffindbaren Krankheitsbildungen erzeugt hätten (Säfteverderbnisse, Dyskrasien oder Krasen. d. h. krankhafte Blutmischungen). Spätere Untersuchungen haben gezeigt, daß auch in solchen Krankheiten die wunderbar vielseitige Thätigkeit der Zellen, aus denen jeder lebende Körper besteht, eine Hauptrolle spielt. (Daher die neuere, besonders von Virchow vertretene Zellentheorie.) Aber es läßt sich nachweisen, daß Rokitansky selbst der Erste gewesen ist, welcher durch neuere mikroskopische Untersuchungen die Axt an seinen eigenen Baum legte und in der Entzündungslehre die krankhafte Zellwucherung (das Auswachsen der Bindegewebe) an die Stelle der sich organisirenden Ausschwitzungen (Exsudate) setzte. Und sobald die neue Zellenlehre hinreichend begründet war, hat Rokitansky nicht angestanden, sein ganzes altes Gebäude einzureißen und in einer völlig neuen Ausarbeitung sein pathologisch-anatomisches Hauptwerk mit Ausscheidung alles unhaltbar Gewordenen frisch herauszugeben. Eine Selbstverleugnung, welche nur derjenige würdigen kann, der da weiß, wie schwer sich berühmt gewordene Gelehrte entschließen, ihre gewonnenen allgemeineren Anschauungen einer fortschreitenden Erkenntniß zu opfern und von Grund auf neue Ansichten zu adoptiren.

Die Wirkung von Rokitansky’s Lehre, nachdem er einmal durch Wort und Schrift Obermeister der deutschen Medicin geworden war, läßt sich nicht mit wenigen Worten schildern. Sie bedürfte eines besonderen Geschichtschreibers. Zunächst wurden allenthalben die gewonnenen Anschauungen auf das Krankenbette angewendet. Man untersuchte nach Rokitansky’s Schilderungen die lebenden Kranken (hauptsächlich mittels der inzwischen so sehr vervollkommneten Hülfsmittel der Diagnostik: Klopfen, Horchen, chemische Reagenzen u. s. w.), und fand in ihnen bald die am Leichentische festgestellten charakteristischen Zeichen. Um diese Zeit regnete es förmlich neue Entdeckungen in den Krankensälen. – Mit diesen Arbeiten kam aber auch ein neuer Geist in das praktisch-ärztliche Wirken, ein Geist des wahrhaft thatsächlichen, realistischen Forschens. Geistreiche Einfälle und wortreiche Phrasen kamen ganz in Mißcredit. Von dieser Zeit her datirt die Ausscheidung aller mystischen Bestrebungen aus der Medicin, so sehr [750] sie auch noch immer durch den leichtgläubigen, einbildungsreichen Charakter der Laienwelt begünstigt werden. Gediegene Untersuchungen, klare Experimente, gehaltvolle statistische Zusammenstellungen, nüchterne aber desto haltbarere Fortschritte vom Einzelnen und Untergeordneten zum Allgemeineren und Höheren bezeichnen den Geist der heutigen Medicin. Wir stehen jetzt in der wissenschaftlichen Heilkunde auf einem festen Felsen, und dieser Felsen heißt Rokitansky!

Soweit, lieber Leser, die kurze Skizze über Rokitansky’s wissenschaftliche Bedeutung. Nun noch ein paar Worte über Rokitansky’s fernere Schicksale, zugleich zur Erläuterung unseres zweiten Bildchens.

So lange das Metternich’sche System in Oesterreich herrschte, hatte man Rokitansky in seinem Leichenhof so zu sagen eben nur gewähren lassen. Selbst dies verdankte er nur seiner gänzlichen Harmlosigkeit in politischer und jeder anderen Hinsicht. Denn ein Paar seiner Schüler, welche zu sehr sich als ärztliche Freidenker bemerkbar machten und „die würdigen berühmten Professoren der alten Schule für Ignoranten erklärten“, wurden theils gemaßregelt, theils polizeilich beaufsichtigt. Mit dem Umschwunge des Jahres 1848 änderte sich dies. Die neue Schule, längst im Auslande hochgeehrt, kam nun auch im österreichischen Inlande zu Ehren und mit ihr (fast möchte man sagen, zu allerletzt) unser Rokitansky. Er ward Ehrendoctor der Prager Universität und Mitglied der k. k. Akademie der Wissenschaften zu Wien (1848), erhielt jetzt auch eine Erhöhung seines bis dahin unbedeutenden Gehaltes, ward Decan der medicinischen Facultät (1849) und Rector der Wiener Universität (1850), endlich Vorsitzender der berühmten k. k. Gesellschaft der Aerzte zu Wien, welche zwei weitverbreitete medicinische Zeitschriften herausgiebt. Mehrere dieser Posten hat er seitdem wiederholt verwaltet. Im Jahre 1858 ernannte ihn die k. k. Regierung „in Würdigung seiner vielfältigen und mehrjährigen Verdienste um die Wissenschaft und um die leidende Menschheit“, wie es in dem betreffenden Patent heißt, zum Regierungsrath. Diese Ernennung gewinnt dadurch an Gewicht, daß sie wenig Wochen nachher erfolgte, nachdem Rokitansky zum ersten Mal vor das größere Publicum mit einem ganz von den freisinnigen Grundsätzen der neueren Naturwissenschaft ausgehenden Glaubensbekenntniß aufgetreten war. Er hatte nämlich von der Akademie der Wissenschaften den Auftrag erhalten, bei deren feierlicher Sitzung am 31. Mai 1858 den öffentlichen Vortrag zu halten und wählte dazu das Thema: „Zur Orientirung über die Medicin und deren Praxis.“ (Abgedruckt in der Zeitschrift der Gesellschaft der Aerzte zu Wien 1858.) Offen und unbefangen entwickelte er darin den Standpunkt der neueren Naturforschung und der auf diese begründeten Heilwissenschaft, schilderte deren Verfahrungsweise zur Ermittelung der Wahrheit und zur Uebertragung der gewonnenen Ergebnisse auf die Praxis und beleuchtete die Aufgaben und Schwierigkeiten der letzteren und die sittliche (ethische) Bedeutung des ärztlichen Wirkens. Aus letzterem Abschnitte gestatten wir uns eine kurze Mittheilung, die unsern Mann am besten kennzeichnen wird.

Nachdem Rokitansky erörtert, wie kein Beruf so sehr wie der ärztliche den ganzen Menschen in Anspruch nehme, – wie derselbe, weit entfernt, das Gemüth abzunutzen, vielmehr zum reinsten und aufopferndsten Wohlwollen zu führen pflege, – wie die Aerzte deshalb an allen menschenfreundlichen (philanthropischen) Bestrebungen Theil zu nehmen pflegen, – so fährt er fort: Die hervorragende Geltung der ärztlichen Leistung liege jedoch darin, daß der Arzt in seiner Berufserfüllung dasjenige einsetzt, was er dem Anderen zu retten strebt – das Leben! Gegenüber dem Werke solcher Nächstenliebe schrumpft die Belohnung, welche dem Arzte zu Theil wird, so glänzend sie auch sein mag, zu einer sehr mäßigen zusammen. Zunächst bleibt er angewiesen auf sein Gefühl der inneren Befriedigung. Ueber dieses hinaus ringt er um die Anerkennung seiner Standesgenossen, – als Einer, dem die Wissenschaft den Organismus erschlossen, – als Einer, dessen Gemüth die empfindlichsten Leiden der Menschen in sich aufgenommen, der aber inmitten ihrer erschütternden Einwirkungen besonnen und stark geblieben, – als Einer, dem es vor vielen Anderen beschieden ist, jenen Standpunkt zu erklimmen, von welchem aus sich ein tiefer Einblick in die Bedeutung des Daseins und die Zwecke der Vorsehung eröffnet und von welchem aus er mit dem Sänger ruft: „Der Busen wird ruhig, das Auge wird helle!“

[757]

Carl Rokitansky.

[758] Es war ein Ereigniß, den Mann, welchen man bisher nur als einen tüchtigen Fachmann, aber trocknen Anatomen geschätzt hatte, in so tief gedachter und innig gefühlter Weise über die höchsten wissenschaftlichen und sittlichen Aufgaben des ärztlichen Standes und die ihm eigenthümliche Form der Religiosität sich aussprechen zu hören. Namentlich in Oesterreich machte es einen freudigen Eindruck, vor Allem im ärztlichen Stand selbst und unter den Hunderten von Rokitansky’s eigenen Zöglingen. Die damaligen Journale geben davon zahlreiche Beweise, und die kurz darauf erfolgte Beförderung Rokitansky’s mußte deshalb um so mehr Befriedigung erregen.

Hieran schloß sich bald nachher ein zweiter Erfolg. Längst genügte das kleine Local, in welchem der Meister seine berühmten Forschungen gemacht, nicht mehr den billigsten Ansprüchen und dem Andrang einheimischer wie fremder Lernbegieriger aus allen Erdtheilen. Dasselbe stand in grellem Contrast gegen den Glanz und die reiche Ausstattung der anderen Wiener Anstalten. Schon in den Jahren 1849 und 1850 hatte daher Rokitansky in Gemeinschaft mit Professor Dr. Skoda und dem neuen Krankenhaus-Director Regierungsrath Dr. Helm[3] einen Neubau des pathologisch-anatomischen Locals beantragt und spezielle Pläne nebst Kostenanschlägen eingereicht. Aber dazumal war ihre Sache noch mißliebig. „Die neue Medizin,“ sagt Helm in der Einleitung zu der weiter unten zu erwähnenden Festrede, „trat mit der alten Medicin und ihren Vertretern zu sehr in Gegensatz, als daß ihr daraus nicht Hindernisse aller Art erwachsen wären; aber sie schienen nach und nach beglichen. Da gab sich mit einem Male ein Bedenken über sie in den höchsten Kreisen kund; der Herr Minister selbst war dieser Richtung nicht freundlich gewogen, und der Bau des Hauses wurde vertagt.“ Aber es sollte nicht immer so bleiben. „Der Minister Bach sah ein, daß er Unrecht gethan, und beeilte sich es öffentlich in jedermann wahrnehmbarer Weise wieder gut zu machen.“ Er rief 1856 Vertreter der neuen Richtung um sich und bildete eine Commission für den Bau einer neuen pathologisch-anatomischen Anstalt, mit dem wörtlichen Bemerken: „Die Angelegenheit unmittelbar an ihn selbst zu leiten, damit sie nicht in den Büreaux verschleppt werde.“ (Helm.) So kam der Plan zu Stande; der Bau ward im November 1858 begonnen und binnen Jahresfrist, trotz des ausgebrochenen italienischen Krieges, am 31. Octbr. 1859 schon vollendet. Die Seele des Baues war begreiflich unser Rokitansky.

Dies stattliche Gebäude, dessen Außenseite unser zweiter Holzschnitt in voriger Nummer zeigte, ist zuvörderst dazu bestimmt, die (wissenschaftlich-)pathologischen und die (behördlich-)legalen Leichenöffnungen auszuführen und zum Besten der Wissenschaft wie des öffentlichen Gesundheitswesens auszubeuten. Es befinden sich daher in demselben, außer den zur Aufbewahrung, späteren Einsargung, beziehentlich Ausschmückung und feierlichen Fortschaffung der Leichen bestimmten Räumen, Localitäten für die Vornahme gesundheitspolizeilicher und landesgerichtlicher Sectionen, für die diensthabenden Sanitäts- und Gerichtsärzte, für die zum Belehrungszweck vor zahlreichen Zuhörerkreisen vorzunehmenden Leichenöffnungen; ferner Arbeitslocale für die Professoren der pathologischen Anatomie, der gerichtlichen Medicin und für alle klinischen Lehrer (innere, chirurgische, augenärztliche, geburtshülfliche Abtheilungen); sodann ein vollständiges Institut zum Betrieb und Unterricht der pathologischen Chemie und Mikroskopie; endlich große helle Säle zur Aufstellung der seltneren pathologischen Präparate (eine kostbare Sammlung, bisher, wie Rokitansky selbst sagt, auf eine troglodytische Unterkunft angewiesen). Ueberall sind Raum und Mittel geboten, auch für Jünger der Wissenschaft, welche sich der Lösung einer Aufgabe aus den Gebieten der pathologischen Anatomie oder Chemie widmen oder Versuche im Gebiet der Krankheitslehre anstellen wollen. Das neue Institut ist nun eine Musteranstalt geworden, wie keine zweite für dieses Fach in der Welt besteht, würdig der großen Kaiserstadt, würdig des kolossalen Joseph’schen Krankenhauses, würdig vor Allem des Meisters, der es gründete und durch seinen wissenschaftlichen Ruf zum unentbehrlichen Bedürfniß machte.

Charakteristisch ist die Inschrift, welche Rokitansky über dem Haupteingang anbringen ließ. Sie bezeichnet ganz das bescheidene Wesen dieses seltenen Mannes, denn sie bezweckt nichts Anderes, als das ganze Verdienst, das wir ihm zuschreiben, auf einen Anderen abzulenken. Sie lautet:

indagandis sedibus et causis morborum.

Das heißt: „zu Erforschung des Sitzes und der Ursachen der Krankheiten.“ Nun muß man aber wissen, daß vor 100 Jahren ein Mann lebte, welcher ebenfalls nach langjährigen Leichenzergliederungen in seinem 80. Jahre ein Werk veröffentlichte, das die wichtigsten Befunde enthält und in der That zuerst die pathologische Anatomie als Wissenschaft möglich machte. Dieser Mann war der Italiener Morgagni, Professor zu Padua, und sein Werk führt den Titel: „de sedibus et causis morborum per anatomen indagatis.“ Die Rokitansky’sche Inschrift soll bedeuten (wie auch seine Eröffnungsrede darthut): „nicht mir, sondern Morgagni gebührt die Ehre“. Es wird wenig Gelehrte geben, welche in dem Augenblicke, wo sie das Ziel ihres langjährigen Strebens erreichen, einer solchen Selbstverleugnung fähig sein würden.

Nachdem die mannigfachen inneren Einrichtungen noch geraume Zeit beansprucht hatten, erfolgte am 24. Mai 1862 die feierliche Eröffnung dieser neuen Anstalt. Rokitansky selbst hielt die Festrede. Es war seine zweite öffentliche, d. h. für ein aus Laien und Aerzten gemischtes Publicum bestimmte Rede. Sie erregte in noch höherem Grad als die obengenannte im ganzen Kaiserreich eine allgemeine Sensation und die freudigste Zustimmung, sowohl ihres Inhaltes als ihrer Tendenz wegen[4]. Denn sie sagte gerade heraus, daß der Bau und die Anlage des Gebäudes und die Tendenz des Institutes, wie der ganzen neuen Medicin, auf der Freiheit der wissenschaftlichen Forschung fußen und eine weite Zukunft unaufhörlicher Forschungen im Auge haben. Sie beginnt und schließt mit dem Motto aus Steffens: „wo der Gelehrte ein Knecht ist, kann Keiner frei sein.“ Wir gestatten uns, auch aus diesem Vortrag einige der treffendsten Stellen herauszuheben.

„Vor Allem möge mir erlaubt sein,“ sagt Rokitansky am Anfang, „ein Blatt erlebter Geschichte aufzuschlagen, um bei feierlicher Gelegenheit mit den Genossen, welche sie versammelt hat, in der Erinnerung an Jugend und ungeschwächte Manneskraft zu erwarmen. Es ist, als hätte zu jener Zeit an dieser Stelle (nämlich im Leichenhof des allgemeinen Krankenhauses) ein Blockhaus gestanden, bewohnt von einigen wenigen Ansiedlern, heimgesucht von einigen wenigen vertrauten Freunden, welche einen langen Kampf unverdrossen gegen offene und versteckte Mißgunst durchgekämpft haben, einen Kampf, dessen Mühen endlich zum dauernden Siege geführt und mit diesem der Medicin ein umfangreiches Gebiet gesichert haben, auf welchem die Forschung feste Grundlagen, der Zweifel seine Aufklärung, der Streit seinen Richterstuhl findet. Zu den Triumphen dieses Sieges gehört der der Besitznahme dieses Gebäudes, der des Einzuges der Wissenschaft und ihres Unterrichtes in die Räume dieses Palastes etc. Lassen Sie uns seiner Bedeutung recht innig bewußt werden. Nicht allein zur Vornahme von Leichensectionen, mit Rücksicht auf das Bedürfniß einer größeren Oeffentlichkeit derselben, sind diese großen Räume bestimmt, sie sind daneben der Wissenschaft und ihrer Erweiterung gewidmet. Die Anlage und Weitläufigkeit des Gebäudes ist augenscheinlich auf eine ferne Zukunft und ihren Fortschritt berechnet; sie fußt auf der Freiheit der Naturforschung. Es sei daher erlaubt, zur Feier dieses Tages in eine Erörterung über jene Freiheit einzugehen!“

Nachdem Rokitansky hierauf erörtert, daß jeder Mensch die Berechtigung in sich trage, die Natur zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung zu machen, und daß wir unserer irdischen Rolle desto würdiger entsprechen, je mehr wir unsere Welt durch immer neue Anschauungen erweitern, je mehr wir dem unwiderstehlichen Drange nach Erkenntnis folgen: so kommt er auf die Schranken [759] und Hindernisse dieser Forschungsfreiheit. Er findet dieselben, außer den Eigenthumsfragen, hauptsächlich in den heutzutage so sehr üblichen Befürchtungen und Anklagen, als ob die Naturwissenschaften zum Materialismus führten. Diese Meinung wünsche er gründlich zu beseitigen. Er erinnert zuvörderst, nach Kant u. A., daß wir doch nicht eigentlich das Ding an sich erkennen, sondern nur die Sinneseindrücke, welche uns dasselbe verursacht, zum Bewußtsein bringen. Weil durch diese unsere Anschauung die Wesenheit der Dinge nicht erschöpft werde, so müsse man noch etwas Metaphysisches (d. h. etwas Übersinnliches, „was in des Menschen Hirn nicht paßt“, wie Goethe sagt) voraussetzen, mit welchem aber die Naturforschung nichts zu thun habe. Sie beschäftige sich nur mit den Erscheinungen, suche über diese durch Sinnes- und Verstandesthätigkeit haltbare Anschauungen zu bekommen und dann mittels der Vernunft höhere Begriffe, Vernunfterkenntnisse zu gewinnen, durch welche wiederum die Einsicht in die anschauliche Welt vermehrt und erweitert werde. Darüber hinaus leistet die Vernunft nichts; sie vermag uns keine tiefere Einsicht in das den Erscheinungen zu Grunde liegende Metaphysische zu geben, welches auch niemals ein anschauliches Object bilden werde. (Das heißt: der Glaube fängt erst da an, wo das Wissen aufhört.) Der Materialismus sei also kein vollständiges System der Weltanschauung, sondern nur eine Methode der Forschung, welche sich innerhalb der Erscheinungswelt, ihrer räumlichen und zeitlichen Verhältnisse, durchaus nur auf dem Wege der Erfahrung bewege. Weit entfernt, dadurch in Gegensatz zu der Transzendenz, d. h. zur metaphysischen Philosophie und zur Theologie, zu treten, werde vielmehr der Naturforscher, je mehr er sich vertiefe, desto mehr an ein allmächtiges Uebersinnliches erinnert. Schon Baco, der so streng darauf drang, die Naturforschung von jeder theologischen Speculation fern zu halten, habe anerkannt, daß tiefere Naturstudien nicht zum Atheismus, sondern zu Religiosität führen.

Es sei also kein Grund vorhanden, dem Drang nach Wissen, welcher das Menschengeschlecht beseelt, Schranken zu setzen. Forschung und Wissenschaft seien übrigens unaufhaltsam; jede Stagnation derselben sei stets nur scheinbar gewesen; jeder Verirrung sei eine desto gründlichere Einsicht und Aufklärung gefolgt; jeder Druck habe ihre Kraft nur zu noch rascherem Fortschritt gesteigert. Napoleon selbst, der Mann mit dem gebrochenen eisernen Willen, habe es auf St. Helena anerkannt: „Das Licht der Wissenschaft macht nur Rückschritte, um nachher desto kräftiger vorzuschreiten.“

Die Wirkung, welche diese Rede, an solcher Stelle und aus solchem Munde vernommen, im Lande des Concordats hervorbrachte, war außerordentlich. Jeder schien zu fühlen, was Dr. Helm in den obenerwähnten einleitenden Worten zu derselben Festrede sagt: „Die Steine, aus denen dies Haus zusammengefügt, sprechen aus: früher oder später überzeugt die Wahrheit doch; auch sie ist eine Macht, sie kann zwar unterdrückt werden, tritt aber zuletzt glänzend wieder im Triumphe hervor.“ In ärztlichen und nichtärztlichen Blättern wurde Rokitansky’s Rede wiederholt abgedruckt und applaudirt. Von allen Seiten kamen Deputationen und Adressen zur Beglückwünschung herbei.

Die glänzendste Anerkennung aber und zugleich die grundsätzlich bedeutungsvollste, fand Rokitansky einige Monate nachher von der Staatsregierung selbst. Als nämlich der bisherige Chef des Medicinalwesens, der um die neue Medicin und ihre Jünger vielfach verdiente Dr. von Nadherny, in den Ruhestand zurücktrat, wurde Rokitansky an dessen Stelle in das Cultus- und Unterrichtsministerium berufen, unbeschadet seiner bisherigen Thätigkeit als Universitätsprofessor und Krankenhausanatom. „Diese Berufung (28. April 1863 veröffentlicht) erregte“, nach den eigenen Worten verschiedener österreich. medicin. Zeitschriften, „im ganzen ärztlichen Stand Oesterreichs eine einstimmige und aufrichtige Freude. Mit seltener Einmüthigkeit hat das Urtheil aller Collegen und aller medicinischen Journale sich darüber ausgesprochen. Man rühmte nicht nur die Berufung eines Fachgenossen, statt eines Bureaukraten, sondern die Wahl gerade desjenigen Mannes, dessen Name mit der Geschichte der Wissenschaft und dem Ruhme des Vaterlandes so innig verknüpft sei.“ „Was Rokitansky am letzten Jahresfest der Gesellschaft der Aerzte zu Wien so innig und wie vorahnend aussprach, daß der Wissenschaft höchstes Ziel das Wohl der Allgemeinheit sei, das ist das schönste Programm, welches der an solche Stelle Berufene sich für seine Aufgabe stellen konnte.“ Selbstverständlich sprachen zahlreiche Deputationen aus allen Theilen der Monarchie dem Gefeierten diese Gesinnungen aus. Wir wählen aus den dabei gehaltenen Ansprachen die der Wiener Privatdocenten heraus. Ihr Vertreter, Dr. Schlager, „drückte die Freude aus, mit welcher das Collegium die Berufung ihres hochberühmten Meisters begrüße, des Mannes, der durch seine Forschungen der Heilkunde neue Bahnen vorgezeichnet, der durch die Schwungkraft seines Geistes den Ruhm und den Glanz der Wiener Schule begründet habe. Seine Berufung habe auch eine principielle Bedeutung; sie sei der Sieg der Wissenschaft über die Bureaukratie; sie sei eine Garantie für die kräftige Förderung der freien Forschung!“

Mögen diese Worte in Erfüllung gehen! Mögen unsere österreichischen Brüder recht lange solche Zustände erleben, wo Männer, wie Rokitansky, an der Spitze des Unterrichtswesens mit Ehren und Nutzen wirken können! Uns anderen Deutschen aber, „draußen im Reich“, wie der Oesterreicher sagt, sei es vergönnt, diesen Mann auch zu den Unsrigen zu rechnen. Denn trotz seines slavischen Namens ist er in Gesinnung und Bildung, Gemüth und Dauerfleiß unverkennbar ganz ein deutscher Mann!

Und nun, liebe Leser, gestattet mir zum Schluß dieser Skizze noch eine kleine Nutzanwendung. (Haec fabula docet.) Die Gartenlaube hat Euch binnen Jahresfrist die drei namhaftesten pathologischen Anatomen Deutschlands geschildert: Virchow in Berlin (Jahrg. 1862. S. 747), Bock in Leipzig (Jahrg. 1863. S. 484) und nun Rokitansky in Wien. Diese drei Männer sind ihrem Wesen nach so verschieden, wie Männer nur irgend sein können. Virchow der scharfe geistvolle Norddeutsche, Bock der polternde und doch gemüthliche Leipziger, und Rokitansky der stille, fast kindlich harmlose Oesterreicher sind scheinbar ganz unvereinbare Charaktere. Und dennoch haben sie alle drei etwas Gemeinsames: dies ist die thatsächliche (realistische) Richtung ihres Strebens und die ehrenhafte Festigkeit, mit welcher sie die aus den Thatsachen gewonnenen Ueberzeugungen vor Jedermann aussprechen ohne Rücksicht, ob sie Gunst oder Ungunst damit erwerben. Sie geben der Wahrheit die Ehre und erwarten, was die Bibel verspricht: „durch die Wahrheit werdet ihr frei werden!“ Wir stehen nicht an, diese mannhafte Ehrlichkeit der genannten drei Männer gerade aus dem Gegenstand ihrer Studien abzuleiten: aus der steten Beschäftigung mit der Natur, welche ja überall wahr und überall gesetzlich ist, und aus der täglichen Betrachtung des menschlichen Wesens in allen seinen materiellen und immateriellen Beziehungen, welche sich am Leichentische von selbst aufdrängt. – Wir verweisen mit Stolz auf diese Männer und ihre zahlreichen Fachgenossen und Mitarbeiter, um ein für allemal die Besorgniß niederzuschlagen, welche das Geschrei der Verdunkelungsmänner heutzutage in manchen ängstlichen Gemüthern rege hält: die Besorgniß nämlich, als ob mit dem Fortschritt des modernen Realismus, das heißt mit der immer allgemeineren Ausbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse, irgendwie dem echten Humanismus, dem Fortschreiten wahrhafter Menschenbildung Eintrag geschehen könne. Im Gegentheil! Es würde uns nicht schwer fallen, wenn es der Mühe lohnte, nachzuweisen, daß heutzutage, wie von jeher, die Mehrzahl aller wissentlichen Lügner und Betrüger, Heuchler und Kriecher, die wahren Feinde der Humanität, aus den Hauptquartieren der Spiritualisten hervorgegangen sind!



  1. Sie führen den Titel: „Aerztlicher Bericht aus dem k. k. allgemeinen Krankenhause zu Wien“ und werden im Auftrage des österreichischen Ministeriums des Innern veröffentlicht durch die Direction des allgemeinen Krankenhauses.
  2. Ueber alle Kranke des Wiener allgemeinen Krankenhauses werden Tagebücher geführt, und jeder Chefarzt der zahlreichen klinischen Abtheilungen hat das Recht, eine Section jedes der ihm verschiedenen Kranken zu verlangen, welcher er dann nebst seinen Unterärzten beiwohnt. So bleibt das pathologisch-anatomische Institut immer in Verbindung mit den lebendigen Vorgängen des Krankenbettes.
  3. Letzterer ist den Norddeutschen als ehemaliger beliebter Brunnenarzt zu Franzensbad bekannt; er ward später Professor zu Padua und ist jetzt seit 14 Jahren Dirigent des großen allgemeinen Krankenhauses zu Wien.
  4. Diese Rede ist abgedruckt in mehreren österreichischen medicinischen Blättern (z. B. Wiener medicinische Wochenschrift 1862 Nr. 22, Prager medicinische Vierteljahrschrift 1862 IV.). Außerdem erschien sie in Sonderabdruck unter dem Titel: „Die feierliche Eröffnung des pathologisch anatomischen und chemischen Instituts etc. Festrede von Professor Dr. Carl Rokitansky, nebst einleitenden Worten von Regierungsrath und Professor Dr. Helm.“ Wien, Druck und Verlag von J. B. Wallishauser. 1862 gr. 8.