Ein preußischer Volksvertreter

Textdaten
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Autor: Schmidt-Weißenfels
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Titel: Ein preußischer Volksvertreter
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aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 747–750
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ein preußischer Volksvertreter.

Wohl ist es ein auffallender Umstand, daß in der preußischen Volksvertretung ein Reichthum an tüchtigen und populären Männern, an glänzenden Rednern sich findet, wie nirgend anderwärts.[1] Man braucht dabei gar nicht die kleineren Landesvertretungen Deutschlands in Vergleich zu stellen, obwohl sie im Verhältniß doch viel localeren Charakter haben, als sie bei einer größeren Zahl von auf der Höhe der Zeit stehenden Capacitäten haben könnten. Nirgends in Europa, kann man behaupten, sind in den letzten dreizehn Jahren, seitdem in Preußen überhaupt Abgeordnete des Volks existiren, so viele glänzende und volksthümliche Parlamentsmänner erstanden, wie hier. Ihre Bedeutung, ihr Name reicht weit über die Grenzen des engeren Vaterlandes, vielfach sogar über Deutschland hinaus. Und dabei muß man bedenken, wie kümmerlich das constitutionelle und parlamentarische Leben gerade in Preußen bis zum Jahre 1859 gestaltet war, wie nichts unversucht blieb, es unvolksthümlich und zu einer leeren Form zu machen, und das eigentliche Volk davon fern zu halten. Aber trotz alledem ist neben den alten parlamentarischen Helden ein neues kräftiges Geschlecht, ein deutscher Kernschlag von Volksmännern entstanden, welches mit dem ersten Eintritt in die Landesvertretung eine Fülle des Talents und der Begabung entfaltete, wodurch der gekünstelten Form des preußischen Constitutionalismus ein lebendiger und volksthümlicher Inhalt gegeben und das preußische Abgeordnetenhaus schnell zu seiner jetzigen imposanten Höhe und politischen wie moralischen Bedeutung für ganz Deutschland getragen wurde. Männer wie Virchow, Hoverbeck, Forkenbeck, Hagen, Duncker, Baron von Baerst, Twesten, sie gehören alle zu dem jüngeren und jüngsten Geschlecht des preußischen Parlamentarismus, und Niemand wird leugnen, daß das deutsche Volk diese Namen kennt.

Diesem glanzvollen Rednertalent und der volksthümlichen, mannhaften Gesinnung, welche so viele Männer des preußischen Abgeordnetenhauses besitzen, verdankt die große Debatte über das Budget vornehmlich die Bedeutung, welche sie in ganz Deutschland und selbst im Auslande gefunden. Der 11., 12. und 15. September, der 6., 7. und 13. October, das waren heiße Tage im Abgeordnetenhause, aber auch große Ehrentage, die das deutsche Volk aller Stämme nicht vergessen wird. An diesen Tagen schlug das preußische Abgeordnetenhaus die Schlacht gegen die geheime Partei im Lande, welche die Ausübung wirklicher Rechte des Volks nicht ertragen kann; an diesem Tage zwangen die Volksmänner Preußens den Scheinconstitutionalismus, sich offen zu erkennen zu geben als der falsche Freund und der alte Feind. Klarheit mußte in das Verhältniß kommen; es mußte erprobt werden, ob denn die Ausübung der noch unverkümmerten Volksrechte in der Verfassung eine leere Form oder eine Wahrheit sei.

Die Volksmänner des preußischen Abgeordnetenhauses sagten: Ihr Minister habt unserer Meinung nach ohne gesetzliche Berechtigung eine neue Heeresorganisation eingeführt, die Millionen jährlich mehr kostet. Gut, wir wollen weiter darüber reden, aber erst bringt das Gesetz für diese neue Organisation ein und bittet uns, wie es euere Schuldigkeit ist, das ohne unsere Zustimmung von euch dafür verausgabte Geld nachträglich zu bewilligen. Si non, non. Thut ihr das nicht, so handelt ihr nicht constitutionell und verfassungsmäßig, und dann gebrauchen wir unser Recht und bewilligen euch das verausgabte Geld für die ungesetzliche Heeresorganisation nicht. – Den Ministern indessen schien diese Haltung des Hauses völlig über dessen Befugniß hinauszugehen, und sie erklärten geradezu, daß die Rechte des Königs verletzt würden, wenn die Rechte des Volkes sich soweit erstrecken sollten. In der Schlacht am 11. und 12. September wurde diesem Theil des Scheinconstitutionalismus die Maske von den Abgeordneten abgerissen, und als er nun so nackt und offen dastand, da sagten 308 von 319 Abgeordneten: Nein, wir sind dieser Nichtachtung unserer Rechte müde. Ihr respectirt diese nicht; gut, so wenden wir sie an und bewilligen euch nicht die sechs Millionen, welche ihr ungesetzlich für eine neue ungesetzliche Heeresorganisation verausgabt habt.

Am 6. und 7. October fand die zweite Schlacht statt. Ein neuer Minister, Herr von Bismarck, wollte sich das Regieren erleichtern. Da die Abgeordneten das Budget für 1862 um sechs Millionen vermindert hatten, so hätten sie dies natürlich auch bei dem Budget für 1863 gethan, welches gleichfalls für die Reorganisation seine Millionen enthielt. So hielt’s denn Herr von Bismarck für angemessener, sich sein Budget für 1863 zurück zu nehmen. Aber darauf erklärten 251 Abgeordnete gegen 36, daß die Regierung verfassungswidrig handle, wenn sie für 1863 Gelder ausgebe, die ihr nicht bewilligt seien. Herr von Bismarck lächelte; er hatte schon längst sich die „beklagenswerthe“ Freiheit gesichert, ganz ohne Budget zu regieren, falls die Abgeordneten nicht ihr Recht so verstehen, daß sie sich der Regierung zu fügen haben.

Während im Abgeordnetenhause das einzige Bollwerk der Verfassung vertheidigt wurde, begann auch das Herrenhaus Hand an dies Bollwerk zu legen. Es erklärte in seiner junkerlichen Neigung, der Regierung immer Recht zu geben, den Etat, wie ihn das Abgeordnetenhaus feststellen wolle, zu verwerfen und die Vorlage der Regierung anzunehmen. Das war Seitens des Herrenhauses ein offener Bruch der Verfassung, und noch in der letzten Stunde seines Lebens erklärte das Abgeordnetenhaus einstimmig: Was die Herren beschlossen, ist null und nichtig; wir halten fest an unserem guten Recht!

Ganz Deutschland, das ganze gebildete Europa hat erwartungsvoll auf diesen Kampf gesehen; denn dabei handelte es sich nicht um ein paar Millionen mehr oder weniger, sondern darum, ob das klare [748] und verbriefte Recht des Volkes anerkannt oder mißachtet werde. Hier galt es einen Kampf des echten, wahren Constitutionalismus gegen den scheinbaren und von der Partei des Absolutismus nur als moderne Maske benutzten, und der Ausgang desselben ist für ganz Deutschland wichtig, für jedes Volk von Bedeutung. Brav und tapfer haben die preußischen Abgeordneten diesen Kampf bisher bestanden; aber er ist noch nicht aus, noch lange nicht zu Ende, und noch oftmals wird man die preußischen Volksmänner in allem Glanz und im Stahl ihrer Rüstung für die Idee unserer Zeit, für das Recht des Volkes, streiten sehen. Denn das übersehe man doch gar nicht, daß Alles, was das preußische Abgeordnetenhaus sich erkämpfen wird, der allgemeinen Sache des politischen Fortschritts zu Gute kommt.

Aus dem oben erwähnten jüngeren Geschlecht der preußischen Volksmänner heben wir diesmal einen Mann heraus, der gerade in dem Kampf gegen den Scheinconstitutionalismus die glänzendsten Fähigkeiten, die entschlossenste Energie entwickelte, nämlich Rudolph Virchow.

Virchow, geboren 1821 bei Cöslin in Pommern, ist ein Zögling der königlichen Pepinière in Berlin. Mit 22 Jahren machte er sein Doctorexamen und trat darauf als Unterarzt in die Charité. Drei Jahre später war er bereits Prosector. Zugleich begann er Vorlesungen über physiologische und pathologische Chirurgie zu halten, die wegen der Schärfe ihrer Auffassung eines sehr vernachlässigten Gegenstandes und wegen der Neuheit der Schlüsse bald ungewöhnliches Aufsehen erregten. Physiologie und Pathologie sind die beiden Grundeintheilungen der Organik, die eine sucht die Bedingungen des Lebens in der organischen Natur, die andere die der Krankheiten und Abnormitäten, die Erkenntniß der Ursachen, welche jede Abweichung von dem natürlichen Typus einer Form oder einer Function bestimmen. Beide Wissenschaften kann man die Philosophie der Medicin nennen, und sie nach langer Mißachtung wieder zu Ehren gebracht und mit neuen großen Entdeckungen und Forschungen bereichert zu haben, ist die Ursache, welche Virchow schon früh zu einer der vornehmsten Zierden der medicinischen Wissenschaften machte. Mit der unerbittlichen Energie und dem gewaltigen Fleiß, die Virchow zu bethätigen weiß, verfolgte er sein wissenschaftliches Bestreben. Er gründete 1847 mit Reinhardt zusammen das „Archiv für pathologische Anatomie und klinische Medicin“, welches die Waffe der Eroberung für seine Forschungen wurde. Nach Reinhardt’s Tode, im Jahre 1847, leitete Virchow diese hochangesehene Zeitschrift allein weiter und hat ihr bis heute mit rastlosem Eifer seine Thätigkeit gewidmet.

Aber der junge Gelehrte mit einem den Neid erregenden Ruhm erfaßte mit seinem vielseitigen Geist auch die Politik. Die Bewegung des Jahres 1848, als er Docent an der Berliner Universität war, rief in Virchow den Geist wach, der bis dahin vergeblich nach Aeußerungen gestrebt hatte. Er war im Februar 1848 vom Ministerium nach Oberschlesien gesandt worden, um die Ursachen des dort wüthenden Hungertyphus zu erforschen. Als er zurückkam, noch voller Eindruck von dieser Reise durch das Elend, fand er den Absolutismus niedergeworfen, das Volk freudetrunken auf den eroberten Citadellen des alten Staatswesens. Was er in der medicinischen Wissenschaft erstrebt, ganz dasselbe war jetzt in dem politischen Leben zum Durchbruch gekommen. Virchow’s wissenschaftlicher Kampf ist durchaus demokratischer Natur, reformatorischen Charakters, der auf die Grundtiefen des Bestehenden hinarbeitet, um von hier aus sich gegen die Abnormitäten, Gebrechen und Heucheleien des medicinischen Gelehrtenstands zu richten und diesen vielfach auf ganz neuen Grundlagen aufzubauen. Aehnlich richtet sich die Demokratie gegen die verrotteten Zustände des Feudalismus und das bequeme Recht des Absolutismus. Wie die Demokratie gewissermaßen die Pathologie, die Lehre von der Krankheit des absolutistischen Staatswesens betreibt, so war Virchow speciell den medicinischen Wissenschaften ein Lehrer und Bekämpfer ihrer Krankheiten. Es ist interessant genug, daß Virchow später diese beiden Richtungen in sich vereinigte und, wie ein großer Demokrat der Wissenschaft, so auch ein bedeutender Demokrat der Politik wurde.

Schon 1848 zeigte sich diese Vereinigung. Virchow gründete ein neues Journal: „die medicinische Reform“, in der die demokratischen Tendenzen stark genug zu Tage traten, um der Reaction von 1849 Veranlassung zu geben, es zu unterdrücken. Doch auch außerhalb der Presse kämpfte Virchow für die politische Sache. Mit seiner fertigen Rednergabe wirkte er von der Tribüne herab, und zwar, da er ein Mandat zur Nationalversammlung ablehnen mußte, weil er noch nicht dreißig Jahr alt war, gründete er mit einflußreichen Freunden zusammen den seiner Zeit sehr bedeutenden Bezirksverein der Friedrich-Wilhelmstadt. Später trat er als dessen Vertreter in den Berliner Centralbezirksverein und nach Auflösung der Nationalversammlung präsidirte er als Mitglied des Centralwahlcomités der volksthümlichen Partei den stürmischen Sitzungen des dritten Berliner Wahlkreises.

Wie nun die Reaction regierte, suchte sie ihre kleinliche Rache auch an dem demokratischen Prosector der Charité zu üben. Man unterdrückte, wie gesagt, sein Journal und setzte ihn überdies ab. Aber diesmal siegte denn doch die Macht des Wissens über die Bornirtheit der Gewalt. Die ärztlichen Vereine Berlins drangen auf Wiederanstellung eines so hervorragenden Anatomen und Pathologen wie Virchow, und das Ministerium mußte zuletzt nachgeben. Indessen rächte es sich doch insoweit, daß diese Wiederanstellung widerruflich und mit Verlust der freien Station erfolgte.

Virchow hatte inzwischen von der Universität Würzburg als Professor der pathologischen Anatomie einen Ruf erhalten und sah keinen Grund, in einer seinen Verdiensten unwürdigen Stellung zu Berlin zu bleiben. So nahm er hier seinen Abschied und ging nach Würzburg. Aber das baierische Ministerium hatte gehört, daß der neue Professor ein Demokrat sei, und deshalb verweigerte es ihm die Bestätigung. Es mußte erst die ganze Facultät und der Senat auf Bestätigung ihres Rufes dringen, ehe dieselbe endlich erfolgte. Bei seinem Abschied von Berlin veröffentlichte er die berühmte Abhandlung über die „Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medicin“ (September 1849), in der gewissermaßen die Idee, welche die Demokratie jener Tage aus dem Sturm der Revolution für eine zukünftige Entwicklung mit fort trug, in medicinischer Gewandung ausgedrückt war.

Würzburg hatte Virchow’s Berufung nicht zu beklagen; die Universität kam zu neuem Flor, und mehrere Hundert Schüler, darunter 200 bis 300 Ausländer, sammelte dort sein gelehrter Ruf. Virchow arbeitete in dem nun folgenden Jahrzehnt mit einer erstaunlichen Energie auf sein Ziel der medicinischen Reform hin; es war die Epoche der politischen Apathie, die er mit den höchsten wissenschaftlichen Leistungen ausfüllte. Wir müssen uns hier mit kurzen Andeutungen derselben begnügen. Virchow gründete zunächst die zu hohem Ansehen gekommene Gesellschaft für Medicin und Naturwissenschaft, deren Präsident er später wurde; er übernahm neben seinem „Archiv“ noch einen Theil der Redaction des berühmten Canstatt’schen Jahresberichts über die Fortschritte der Medicin in allen Ländern. Wie einst die Ursachen des Hungertyphus in Oberschlesien, untersuchte er 1852 auf Wunsch der bayrischen Regierung den Typhus im Spessart und veröffentlichte seine geistvollen Beobachtungen in einer besonderen Schrift; wir fügen gleich bei, daß er 1859 eine eben solche Mission für Norwegen erhielt. Im Jahre 1856 erschienen seine „gesammelten Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medicin“, in denen bereits die große Entdeckung angedeutet liegt, welche Virchow’s mikroskopische Forschungen an den organischen Körpern bewirkte und die für die moderne Medicin eine wirklich neue Aera eröffnete. In späteren Vorlesungen erst gab Virchow seinen erstaunten Zuhörern als Beweise, was so lange in ihm als Ahnung gelegen: es war seine aus mühsamsten Eigenuntersuchungen hervorgegangen Cellularpathologie, in welcher als Grundform der gesammten organischen Welt die Zelle, und in deren Beschaffenheit, Störung oder Verletzung nunmehr die erste Ursache alles Krankseins und aller Abnormität hingestellt wurde. „Das Wesen der Krankheit ist die veränderte Zelle“, das war der kühne und viel befehdete Satz, zu dem sich Virchow’s Schlüsse in seinem weitberühmten Werke: „Die Cellularpathologie in ihrer Anwendung auf physiologische und pathologische Gewebelehre“ gipfelten.

Virchow, von den Akademien zu Paris und London mit hohen Auszeichnungen beehrt, hatte mittlerweile von den verschiedenen Berufungen, die an ihn ergingen, die nach Berlin angenommen. Im Jahre 1856 kehrte er hierher zurück, und die auf ihrer Höhe stehende Reaction mußte wohl oder übel dem berühmten Gelehrten eine seiner Bestrebungen würdige Stellung geben. Die Wissenschaft triumphirte hier abermals über die Parteifanatismen, denn die Berliner medicinische Facultät unter specieller Mitwirkung von Johannes Müller hatte diese Rückberufung Virchow’s durchgesetzt. Man gab ihm nun nicht nur eine Professur, sondern ernannte ihn

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Rudolph Virchow.
Nach einer für die Gartenlaube gefertigten Photographie.

[750] auch zum Director des pathologischen Instituts und einer Abtheilung der Charité. Dem ersteren verlieh Virchow eine totale Umgestaltung, so daß es heut das ausgedehnteste und bedeutendste in seiner Art ist.

So wurde die Epoche, in der das Volk lethargisch die Reaction wirthschaften ließ, von Virchow mit glänzenden wissenschaftlichen Erfolgen ausgefüllt. Er war gerade auf einem ruhefordernden Höhepunkt als Gelehrter, da erwachten die Geister wieder, um von Neuem mit dem Feind des Fortschritts zu ringen. Nun lebte auch in Virchow wieder der Sinn auf, aus der Studirstube in die offene Arena des politischen Lebens zu treten und hier für die Sache des Volks und des Fortschritts mitzukämpfen. Beim Seciren der Leichen hatte er für den frischen Geist des Lebens die Theilnahme niemals verloren; aber was er im Jahre 1848 nur mit dem Feuer der Jugend begeisterungsvoll erfaßte, das war jetzt zu einer unerschütterlichen Ueberzeugung in ihm geworden, und mit der Ruhe des Mannes erfaßte er die Ziele, nach denen die Idee der Zeit sich zuwälzte. Der Student der Politik war, so zu sagen, jetzt auf die Praxis angewiesen. Die jüngere Demokratie machte die Bewegung von 1848 wie ein Universitätsjahr durch, und als sie in’s praktische Leben trat, nahm sie den Boden, wie er war, d. h. sie fand einen Verfassungsstaat vor, über dessen Grenzen hinaus sie nicht wollte, aber dessen Ausbau und Festigung ihre Aufgabe blieb. Darin liegt der Unterschied zwischen der alten Demokratie und der jüngeren in Preußen, daß jene mit dem octroyirten Verfassungsstaat im Stillen lange grollte und auch wesentlich preußisch war, diese aber auf dem Boden der Verfassung von 1850 wie auf einem heimischen stand und vor Allem die deutschen Interessen Preußens in’s Auge faßte. Diese Andeutung hielten wir für nöthig, um die Stellung Virchow’s im politischen Leben genau erkennen zu lassen, die Idee seiner Thätigkeit nach dieser Richtung hin. Es ist dies um so wesentlicher, als er eins der hervorragendsten Häupter der jüngeren Demokratie ist, die das wahre und erhaltende Stammelement der deutschen Fortschrittspartei bildet.

Die erste Gelegenheit, eine öffentliche Thätigkeit zu entfalten, fand Virchow durch seine Wahl zum Stadtverordneten. Er war als solcher einer der Entschlossensten, das Patzke’sche Polizeiregiment zu stürzen. Als bei den Wahlen im Jahre 1861 namentlich die jüngere Demokratie zum ersten Mal vom Volk berufen wurde, die constitutionelle Form nun endlich einmal mit wirklichem Inhalt zu erfüllen, da erhielt auch Virchow von Berlin wie von Saarbrücken Mandate.

Gleich bei der ersten und der einzigen größeren Debatte des neuen Abgeordnetenhauses, der über Kurhessen, zeigte sich Virchow als der entschlossene, schonungslose Kämpfer, als gewandter und glänzender Redner. Er ist kaltblütig, nüchtern, der zersetzende Anatom spricht aus ihm; er zergliedert unerbittlich die Argumente des Gegners, und hat er dann die Blößen desselben aufgedeckt, so stößt er schnell und fest, mit der Eleganz eines Fechters, sein Floret in dieselben. Die kalte Ruhe und die scharfe Ironie macht ihn zu einem gefährlichen Feind. Er trat instinctartig gegen die Altliberalen, gegen das Vincke’sche Sophistenwesen auf, mit Erbitterung und Rücksichtslosigkeit; denn lange, ehe es aller Welt klar wurde, erkannte er, daß diese Halbheit jener Partei und der Einfluß, den sie im Parlament besaß, indirect der Sache des Fortschritts den meisten Schaden brachte; denn sie scheute sich nicht, Principe des Constitutionalismus zu mißbrauchen, um nur ihrer Eitelkeit und ihrem Ehrgeiz genügt zu sehen. So glücklich Preußen auch unter den Liberalen war, so ist ihnen doch gewiß, ihrer Halbheit und Schwäche wegen, alles spätere so schwere Unheil zu danken.

Virchow erwies sich zugleich als einer der rastlosen Arbeiter in den Commissionen, ein Umstand, den man bei den preußischen Abgeordneten immer sorgfältig hervorheben muß. Er versteht es, sich mit durchdringendem Geist schnell zum völligen Herrn ihm fremder Materien zu machen, und in den Sitzungen dieses Sommers trat deutlich genug diese Mannigfaltigkeit seines Wissens, dieser brennende Eifer, Allem auf den Grund zu sehen, zu Tage.

Eine angreifende, energische Natur, die nicht stürmt, aber fest auf ihr Ziel losgeht, setzte Virchow auch bei jeder Gelegenheit den Hebel an, Mißbrauche und Steine des wahren Constitutionalismus fortzuschaffen und unverfälschte Grundsätze an deren Stelle zu setzen. Er war als Mitglied der Budgetcommission in richtiger Vorahnung des Kommenden schon im März 1862 mit dem Antrag hervorgetreten, die Regierung zu verpflichten, den Etat des nächsten Jahres vor Beginn desselben berathen zu lassen. Wenn damals dieser Antrag fallen gelassen wurde, so lernte man einige Wochen später erkennen, wie übel diese Rücksicht vergolten wurde. Und heut ist ein Hauptpunkt des Streites zwischen dem Ministerium und der Volksvertretung, daß das Budget für 1863 nicht zur Berathung und Feststellung gekommen ist.

In dem Kampf, der nach dem Rücktritt der liberalen Minister um die Bedeutung der verfassungsmäßigen Rechte begann, war Virchow immer unter den Vordersten und Muthigsten, für diese Rechte des Abgeordnetenhauses einzutreten. Mit dem Hagen’schen Antrag ward dieser offene Kampf begonnen; heut ist er bis auf die Grundlage der Verfassung gedrungen. Virchow hat die Bedeutung des Hagen’schen Antrages für die größere Specialisirung der Etats in klarer Weise in der Nationalzeitung aus einander gesetzt; er hat in der Adreßdebatte des neugewählten Abgeordnetenhauses dem Mißtrauen gegen das Ministerium v. d. Heydt unverhohlen Ausdruck gegeben; über den Antrag bezüglich der Anerkennung Italiens hielt er eine der durchschlagendsten Reden, und in dem dann folgenden Hauptkampf um die Budget- und Militärfrage hatte er sowohl in der Commission wie im Plenum seinen Degen immer fest auf den Gegner gerichtet. In der Debatte über die Reorganisation wies er in gedrungener Logik die Ungesetzlichkeit derselben nach und vertheidigte das Princip der Landwehr mit Citaten aus einem Werk des Kriegsministers. Bei der letzten Debatte, welche sich um die Wiedereinbringung des vom Ministerium zurückgezogenen Etats für 1863 bis vor Ablauf des laufenden Jahres und um die Verfassungswidrigkeit der ohne Genehmigung des Abgeordnetenhauses verausgabten Gelder drehte, folgerte er schlagend aus den eigenen Auslassungen der Krone das verfassungsmäßige und jetzt von der neuen Reaction bestrittene und bedrohte Recht des Abgeordnetenhauses, das Recht der Geldbewilligung und Verweigerung.

Schmidt-Weiß




  1. Hier dürfte der preußische Patriotismus doch etwas ungerecht sein. Benningsen in Hannover, Hölder und Sigm. Schott in Stuttgart, Fries in Weimar, Friedleben in Frankfurt, Metz in Darmstadt, Völkel in München, Giskra und Berger in Wien, Braun in Wiesbaden geben den preußischen Rednern an Capacität und glänzendem Vortrag nichts nach.
    D. Red.