Textdaten
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Autor: A. v. Wickede
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Titel: Eine Seemannsfamilie
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 28, 29, S. 411–412, 418–419
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Eine Seemannsfamilie.
Norddeutsches Küstenbild. Von A. v. Wickede.

Auf eine von allem regeren Verkehr abgeschnittene tiefsandige Landzunge, die sich an der norddeutschen Seeküste weit in die kurzrollenden Wellen der klaren Ostsee hineinerstreckt, wollen wir unsere Leser hier führen. Ein gar einsamer Platz, wie man solchen – außer in den entlegensten Thälern der Hochalpen – nicht leicht in ganz Deutschland wieder finden wird, ist es, auf dem eine Seemannsfamilie ihre Heimathsstätte errichtete. Fast eine Stunde weit entfernt liegt das große Stranddorf, in das diese Familie eingepfarrt ist, und viel näher wird man auch im ganzen Umkreise keine andere Wohnung finden können.

Trotz dieser Entfernung gehen im Winter die Kinder doch tagtäglich regelmäßig in die Schule des Dorfes und an Sonn- und Festtagen wird so leicht kein in der Heimath anwesendes Glied der Familie den Gottesdienst in der Kirche versäumen. Mag der Nordost auch noch so gewaltig auf dieser schmalen, ganz dem Ungestüm der Winde preisgegebenen Landzunge toben oder das dichteste Schneegestöber bis auf wenige Schritte den freien Blick versperren, deshalb versäumt weder der alte zweiundsiebzigjährige Großvater, noch das jüngste Enkelkind, ein blühendes, rothbackiges Mädchen von zehn Jahren, jemals die Kirche. Wer dieser Familie angehört, der ist gegen jede Ungunst der Witterung von frühester Kindheit an gekräftigt und wird die Verweichlichung so vieler Städter hierin kaum begreifen können. Sturmwind oder Schneegestöber, glühende Sonnenhitze oder eisige Kälte macht diesen abgehärteten Menschen hier wenig aus und sie lassen sich in ihren Gängen und Beschäftigungen durch solche Hindernisse nicht stören. Versäumt aber wirklich Jemand den sonntäglichen Gottesdienst, so liest er in der Zeit desselben sicherlich in der alten, großgedruckten Bibel mit dem abgenutzten, schwarzen Ledereinband, die schon über hundert Jahre ein hoch in Ehren gehaltenes Besitzthum der Familie war. Wahre Gottesfurcht ohne jegliche Heuchelei ist hier heimisch und die Kinder beschließen stets ihr Tagewerk mit dem lauten Beten des Abendsegens. Einen gleich frommen Sinn wird man übrigens in den meisten deutschen Seemannsfamilien sowohl an der Ost- wie Nordseeküste finden.

Nur ein schmaler Fußweg, der kaum für einen niedrigen Bauernkarren fahrbar sein dürfte, führt durch weite Tannenwaldungen aus dem Kirchdorfe zu dieser menschlichen Wohnstätte. Kaum dürfte ein fremder Wanderer – wenn überhaupt sich ein solcher jemals in diese entlegene Gegend verirren sollte – hier noch eine Ansiedelung von Menschen erwarten, so still und öde ist Alles ringsumher. Seitdem das Gehöft hier erbaut wurde, hat nie ein Wagen davor gehalten oder ein Pferdehuf den dahinführenden Pfad betreten. Was nicht auf den Schultern kräftiger Menschen hierher getragen wird, das findet seinen Platz in dem leichten, aber dabei stark gebauten Segelboote, was hier bei jeder Gelegenheit die Stelle des Wagens vertreten muß und in dessen sicherer Handhabung alle Familienglieder, gleichviel, ob Mann oder Weib, von frühster Kindheit an geübt werden. Von zwei Seiten umgibt das offene Meer die kleine Landzunge, auf der das Wohnhaus, mit dem niedrigen Viehstall daneben, erbaut wurde, während landwärts ein mit Strandhafer dünn bewachsener Dünenhügel das Ganze von den Waldungen trennt.

Glück und Zufriedenheit, wie solche in dem elegantesten Hause der glänzendsten Residenz nicht größer gefunden werden könnten, haben in diesem Gehöfte ihren Sitz aufgeschlagen. Schon das Aeußere des Wohnhauses zeigt eine gewisse Wohlhabenheit des Besitzers. Es ist zwar nur ein Stockwerk hoch, um so den heftigen Stürmen besser Widerstand leisten zu können, aber lang und ziemlich geräumig. Man sieht dem ganzen Gebäude sogleich an, daß es anfänglich kleiner war, allmählich aber, wie die Familie sich mehr vergrößerte, auch wiederholt einen neuen Anbau erhielt, um allen Gliedern derselben ein Obdach gewähren zu können. Drei Schornsteine dampfen von dem rothen Ziegeldach, das, je nach seinem Alter, sich schon in verschiedenen Färbungen zeigt, und zwei Hausthüren führen in das Innere.

Von den Söhnen dieser Familie haben drei sich bereits verheirathet und eine eigene Familie gegründet. Die alte Heimath war ihnen so an das Herz gewachsen, daß sie es vorzogen, dem Vaterhause stets einen neuen Anbau zu geben, statt sich anderswo niederzulassen.

Das ganze Wohnhaus und die Ställe daneben haben einen Anstrich von hellgrauer Farbe, während die vielen Ständer und Balken in den Wänden mit braunrothem Theer, die Thüren, Fensterrahmen und Läden aber mit grüner Oelfarbe angestrichen sind. Alljährlich zwei Mal wird dieser Anstrich, den der alte Famlienvater immer eigenhändig besorgt, regelmäßig erneuert und glänzt daher stets in den frischesten Farben, wie man überhaupt an dem ganzen Gehöfte nirgends die mindeste Spur von irgend einer Vernachlässigung oder Unordnung entdecken wird. Wie auf seinem Schiffe auf der See, so wird der tüchtige Seemann in seinem Hause auf dem Lande nirgends Unordnung und Verfall dulden. So etwas bessert er sich gewöhnlich selbst mit geschickter Hand aus, denn ein vielerfahrener Seemann pflegt fast immer dem Schiffszimmermanne die Handgriffe abgelernt zu haben, und Pinsel und Farbetopf ebenfalls geschickt zu gebrauchen.

Eine ziemlich hohe und starke Hecke von Weißdorn umgibt Haus, Garten und Hof und verleiht einigen Schutz gegen die heftigen Winde, die gar viele Tage im Jahre ihr Spiel hier treiben. Hohe Obstbäume trägt der Garten zwar nicht, denn der Boden ist für dieselben hier zu dürftig und der Wind zu heftig, aber Kohl, Kartoffeln und andere gewöhnliche Gemüse gedeihen vortrefflich in ihm und an den Seiten finden immer noch einige Blumenbeete Platz. Mit großer Sorgfalt ist dieser Garten angelegt und fruchtbare Erde aus der Ferne herbeigeholt worden, den Sandboden mehr zu verbessern. Schiffe, die Getreide nach Bordeaux bringen und dort nicht immer wieder volle Ladung bekommen können, pflegen mitunter Gartenerde als Ballast einzunehmen und nach dem heimischen Hafen zurück zu führen. Durch solche französische Erde ist theilweise auch dieser Garten auf der entlegensten Landzunge der norddeutschen Ostseeküste verbessert worden, während die Breter im Hause auf schwedischen Sägemühlen geschnitten, die Klinkersteine – mit denen der Fußboden ausgelegt und die Oefen erbaut sind – aber in holländischen Ziegeleien gebrannt wurden. Hier an diesen Seeküsten erscheint den Bewohnern das europäische Küstenland, was sie auf ihren Schiffen erreichen können, ungleich näher, als eine Binnenstadt, die vielleicht nur eine Meile landeinwärts davon liegt. Es gibt gar manche alte Schiffer, die alle Meere der Welt vielfach durchkreuzten, in ihrem ganzen Leben aber noch niemals nur einige Meilen landeinwärts gekommen sind. So auch die so eben geschilderte Familie, die es für schwieriger halten würde, mancherlei Bedürfnisse nur einige Meilen weit aus dem inneren Lande, als aus England, Holland, Frankreich und Schweden zu erhalten.

Schildern wir nun, bevor wir das Innere dieses so freundlich und behäbig aussehenden Hauses betreten, zuerst die am meisten hervortretenden Glieder der Familie, die es bewohnt. Zuerst den [412] Gründer und Patriarch des Ganzen, den alten, ehrwürdigen Schiffer. Schneeweiß ist schon sein spärliches Haar, denn an siebzig Jahre, größtentheils in schwerer Arbeit vollbracht, bleichten dasselbe. Das Gesicht, von Wind und Wetter gefärbt, zeigt unzählige Falten und Runzeln, die unter dicken, weißen Brauen schon etwas tiefliegenden, hellblauen Augen bewahrten aber noch einen scharfen und klaren Blick. Wohl an sechs Fuß hoch steht der Alte in seinen Schuhen und Brust und Arme haben eine dieser Größe entsprechende Breite und Stärke, während die Beine verhältnißmäßig viel schwächer gebaut sind. Bei allen Schiffern und Fischern, die ihr Leben größtentheils auf der Ruderbank sitzend verbrachten, sind die Arme und der Brustkasten durch die Anstrengung des Ruderns häufig im Verhältniß ungleich stärker ausgebildet, als die Beine, die nur selten angestrengt wurden. Unser alter Seemann kann auch nur noch am Krückstocke gehen und wenn er regelmäßig des Sonntags zur Kirche wandert, muß er, auf den Arm seiner jüngsten Tochter gestützt, langsam dahin schleichen. Sitzt er aber erst einmal im Boote, so weiß er die langen, schweren Schlagruder noch mit voller Kraft zu führen und bei den Fischernetzen gleich dem kräftigsten Jünglinge zu arbeiten. Eigenthümlich sieht es aus, daß dem Greise sein linkes Ohr scharf vom Kopfe abgeschnitten ist. Der Säbelhieb eines algerischen Corsaren, der das Schiff, auf dem der alte Claus damals als rüstiger Steuermann diente, entern wollte, hatte dies gethan, war aber von ihm dafür mit einer Axt sogleich zu Boden geschlagen worden.

In seiner Jugend hatte der „Großvater", so ward der Alte allgemein von allen Familiengliedern und selbst von den eigenen Söhnen genannt, ein sehr bewegtes Leben geführt, und wenn er gerade besonders guter Laune war, so liebte er es, in den langen Winterabenden hie und da Manches von seinen früheren Fahrten zu erzählen. In den westindischen Gewässern besonders hatte er lange gedient, und war mehrere Jahre erster Steuermann auf einem spanischen Kriegsschooner gewesen. Während der Napoleonischen Continentalsperre hatte er als Eigenthümer einer kleinen Schaluppe viel Schmuggelhandel getrieben, große Summen dabei verdient, freilich aber auch – wie das gewöhnlich bei solchen unregelmäßigen Geschäften zu gehen pflegt – wieder verloren. So viel war aber doch dabei übrig geblieben, daß er hier sich ein Haus erbauen und überhaupt den Grund zu einem behaglichen Wohlstand für die ganze Familie legen konnte. Seit mehreren Jahren trieb der Großvater mit Hülfe seiner Enkelsöhne nur Fischerei, und zwar nicht für den Verkauf, sondern lediglich für den eigenen Bedarf der Familie. Freilich war derselbe nicht gering, denn der Familienmitglieder gab es viele, der Appetit war stark, und frische Seefische kamen fast jeden Mittag auf den Tisch, wie sie getrocknet, geräuchert oder eingesalzen auch selten beim Abendessen oder dem zweiten Frühstück fehlten. Auch die Schweine, Katzen und Hunde der Familie verzehrten viele Fische. Nicht mit Unrecht führt diese ganze Strandgegend den Namen „das Fischland." Wer ein Freund von Schollen, frischen, geräucherten oder eingesalzenen Heringen und anderen Seefischen ist, der gehe hierher, er kann seinen Appetit darnach zur Genüge befriedigen.

Die Ehegattin des alten Familienhauptes war jetzt ein kleines, zusammengetrocknetes Mütterchen, der man es nicht ansehen konnte, daß sie einst acht starken, blühenden Kindern das Leben gegeben hatte. Stets reinlich und ordentlich gekleidet, das weiße Haar unter einer Mütze versteckt, war sie, trotz ihres hohen Alters, den ganzen Tag noch unermüdlich auf den Beinen, und erklärte besonders jedem Staub- und Schmutzflecken im Hause den Krieg. An den langen Winterabenden spann sie fleißig, und der größte Theil des Garnes zu den großen Fischernetzen der Familie war aus ihren thätigen Händen hervorgegangen. Gleich den meisten Frauen in diesen Strandgegenden war auch diese alte Hausmutter während ihres langen Lebens niemals aus der Heimath fort gewesen. Mann und Söhne hatten die ganze Erde durchmessen und es gab keinen Welttheil, in dem sie nicht einst gelandet waren, für sie selbst und alle ihre Töchter aber war eine Fahrt nach dem ungefähr fünf Meilen weit entfernten Stralsund die größte Reise, die sie jemals gemacht, und dieselbe bildete noch jetzt ein vielbesprochenes Ereigniß in ihrem einförmigen Leben.

[418] Von den Söhnen waren die drei ältesten bereits verheirathet, und hatten in dem vorhin erwähnten Anbau des Hauses sich ebenfalls ihre Heimathsstätten gegründet. Große, feste Gestalten, ganz dem Vater nachgebildet, waren es, und wirklich ein Geschlecht von Riesen ging aus dieser entlegenen Wohnung hervor.

Der Aelteste, jetzt schon ein Vierziger, war in seinen jungen Jahren lange Steuermann auf einem Bremer Wallfischfänger gewesen, und hatte manches Jahr die ferne Südsee durchkreuzt. Seit er sich mit einer Schifferstochter aus einem benachbarten Dorfe verheirathet, gab er diese weiten Reisen auf, erbaute sich eine kleine schnellsegelnde Schaluppe, und trieb mit derselben während der guten Jahreszeit eine einträgliche Küstenfahrt auf eigene Rechnung. Ein halbes Dutzend Kinder, lauter frische, kräftige Geschöpfe mit rothen Backen, blauen Augen und hellblondem Haar, waren aus dieser Ehe hervorgegangen. Der Aelteste davon, ein derber zwölfjähriger Bube, half schon mitunter beim Fischfang, die drei nächstfolgenden gingen tagtäglich, mochte das Wetter auch noch so schlecht sein, regelmäßig zur Schule im nächsten Dorfe, während die Jüngsten noch im Sande herumkrabbelten, und sich kleine Schiffe aus Eichenborke schnitzten, die ihnen der Großvater dann in müßigen Augenblicken ganz regelrecht auftakelte.

Der zweite Sohn, der ein ruhigeres und bequemeres Temperament hatte, war nur wenige Jahre Matrose gewesen, dann aber wieder zu der Fischerei zurückgekehrt, die er mit großem Eifer und Geschick betrieb. Auch er hatte eine derbe, stattliche Frau aus der Nachbarschaft genommen, und hatte bereits mehrere gesunde Kinder.

Eigenthümlicher war das Leben des dritten Sohnes, der, früh zu Schiffe gekommen, größtentheils im mittelländischen Meere seine Fahrten gemacht hatte. Einer der schönsten Männer, die man nur sehen konnte, war er, und die Herzen der feurigen Südländerinnen mußten ihm, dem stattlichen, blauäugigen, blondhaarigen Deutschen, mit einer Gestalt, wie ein Bildhauer sie zum Modelle einer Statue des Mars sich nur wünschen kann, in Menge zugeflogen sein. Ganz gegen die Sitte seiner Landsleute, die solches fast niemals thun, hatte Carl, so hieß er, sich in der Ferne verheirathet. Großer Kummer war im elterlichen Hause gewesen, als ein Brief von dem Sohne ans Cadix meldete, daß er die Tochter eines spanischen Seemannes zur Frau genommen, und eine Heimath daselbst sich gegründet habe. Während mehrerer Jahre hatten weder Eltern noch Geschwister etwas von ihm vernommen und es hieß nur, er bekleide die Stelle eines Steuermannes auf einem spanischen Schiffe. Der Tod seiner Frau hatte dem deutschen Seemann Spanien bald verleidet, und ein mächtiges Heimweh nach dem alten Vaterhause auf der öden Landzunge war in seine Brust gezogen. Gewaltsam hatte er sich aus seinen Verhältnissen in Cadix losgerissen, seine beiden Zwillingskinder, einen Knaben und ein Mädchen, mit sich auf das Schiff genommen, und war so nach zehnjähriger Abwesenheit wieder in die deutsche Heimath zurückgekehrt. Eine alte Schwester seines Vaters, die kinderlose Wittwe war, vertrat Mutterstelle an den beiden Kindern, und sorgte mit treuer Pflege für sie. Gar feine, zierliche Gesichter mit echt andalusischem Charakter zeigte dies Zwillingspaar, und die schwarzen Locken und dunklen feurigen Augen desselben stachen seltsam von den Flachsköpfen der übrigen Buben- und Mädchenschaar, die in dem Hause und um dasselbe herumkrabbelte, ab. Alle Bewegungen derselben waren schneller und graziöser, und so freundlich auch die übrigen Hausgenossen, Jung wie Alt, sich der beiden kleinen „Spaniolen“ – so wurden die nunmehr neunjährigen Kinder allgemein genannt – annahmen, so schien es doch, als würden sie hier am deutschen Ostseestrande niemals die wahre Heimath finden, so verschiedenartig zeigte sich ihr ganzes Wesen noch immer von dem der Uebrigen. Besonders das kleine Mädchen, eines der reizendsten Kinder, das ich jemals sah, sprach nur aus Nothwendigkeit deutsch, und als ich einige spanische Redensarten ihr sagte, sprang sie mit echt südländischer Freudigkeit mir um den Hals, und weinte bei meinem Abschied bitterlich.

Der Vater dieser beiden Kleinen schien durch den Verlust seiner geliebten Frau in tiefe Schwermuth, wie solche bei einem Seemann sonst nicht gewöhnlich ist, verfallen zu sein. Er diente jetzt als Steuermann auf einem Dampfer, der zwischen Stockholm und Stettin seine Fahrten machte, und war nur während der rauhen Wintermonate, wo in der Ostsee des Eises wegen jegliche Schifffahrt aufhört, zu Hause.

Die drei jüngeren Söhne des alten Ehepaares waren noch unverheirathet, und fast immer von der Heimath entfernt. Der Eine von ihnen fuhr bereits als Untersteuermann auf einem holländischen Ostindienfahrer, und hatte zuletzt aus einem chinesischen Hafen geschrieben. Ein zweiter diente in der preußischen Kriegsmarine, und war gewöhnlich am Bord der Fregatte Thelis stationirt. Um das Schicksal des Dritten aber hatte die Familie mehrere Jahre großen Kummer gehabt, und ihn bereits verloren gegeben.

Beim Ausbruch des letzten orientalischen Krieges war er zufällig in England gewesen, und hatte aus Lust zu kriegerischen Abenteuern als Matrose Dienste auf der englischen Flotte genommen. Als solcher war er mit nach der Krim gekommen, dort aber bei irgend einer Gelegenheit verwundet und von den Russen gefangen genommen worden. Von seinem ferneren Schicksal hatte die Familie fast drei Jahre lang nicht das Mindeste gehört, und selbst alle Nachforschungen der englischen Gesandtschaft in Rußland waren fruchtlos geblieben. So hatte man denn endlich den Wilhelm, so hieß er, für todt gehalten, und die alte Mutter, deren besonderer Liebling dieser jüngstgeborne Sohn zu sein schien, schon viele bittere Thränen um seinen Verlust geweint. Desto größer sollte nun auch die Freude sein, die sie über sein plötzliches Wiedererscheinen empfand. Im letzten Monat November, zwei Tage zuvor, als ich diese mir längst bekannte wackere Familie wieder besuchte, war der Vermißte an einem dunklen Regenabend ganz unerwartet in das Zimmer getreten. Die alte Mutter, die sich allein darin befand, war mit einem hellen Freudenschrei dem geliebten Sohne sogleich um den Hals gefallen, und ihr lauter Jubel hatte alsbald alle übrigen Familienglieder herbeigerufen. Noch standen der wackern Alten die Freudenthränen in den Augen, als sie mir in ihrer schmucklosen Weise dies Wiedersehen treuherzig schilderte.

Auch der wiedergefundene Sohn wußte seine Erlebnisse während der Gefangenschaft in Rußland auf zwar schmucklose, aber dabei ganz interessante Weise zu schildern, und seine ganze Erzählung trug dabei den Stempel der größten Wahrheit. Daß seine Eltern keine Nachricht von ihm erhalten, war nicht sein Verschulden, da er seiner Angabe nach dreimal Briefe aus dem Innern von Rußland an sie abgesandt hatte, die somit entweder verloren gegangen oder auch absichtlich unterschlagen ein mußten.

Nach seiner Verwundung hatten Kosaken ihn gefangen genommen und zwar, ihrer Gewohnheit nach, bis auf das Hemd ausgeplündert, sonst aber nicht schlecht behandelt. Die Heilung seiner Wunden war in einem von Verwundeten aller in der Krim kämpfenden Heere überfüllten, elenden Feldhospitale geschehen, in dem, seiner Erzählung nach, sich viele grausige Scenen ereigneten und Hunderte von Menschenleben aus Mangel an geeigneter Pflege zu Grunde gehen mußten. Ueberhaupt soll die Lage des russischen Heeres in der Krim keine beneidenswerthe gewesen sein und die Soldaten desselben mußten ungleich größere Strapazen ertragen, als selbst die Engländer in dem Winterlager vor Sebastopol. Die Schwierigkeit des Transportes aller Bedürfnisse durch die weg- und wasserlosen Steppen der Krim, wobei viele Tausende von Zugpferden zu Grunde gingen, habe diese Entbehrungen, welchen abzuhelfen selbst die russische Regierung trotz aller Anstrengung nicht vermochte, hauptsächlich herbeigeführt, lautete die Erzählung des ehemaligen Gefangenen.

Ein höherer russischer Militairarzt, ein geborner Preuße, hatte sich mit eifriger Sorgfalt seiner angenommen, und mit dem Ausdrucke der innigsten Dankbarkeit versicherte er mir, daß er diesem wackeren Manne die Erhaltung seines Lebens besonders mit verdanke. Von seinen Blessuren wieder geheilt, war er mit anderen Gefangenen in das Innere von Rußland abgeführt und dann in ein kleines Städtchen an der Wolga internirt worden. Die Behandlung aller Gefangenen von Seiten der Russen sei stets sehr milde gewesen, nur habe die dürftige Beköstigung nicht immer ausgereicht, einen ordentlichen deutschen Matrosenmagen gehörig zu sättigen, wie Wilhelm lachend hinzufügte. Ihm, dem geschickten Seemanne, [419] sei indessen bald ein besseres Schicksal geworden, da er noch als Gefangener die Erlaubniß erhalten habe, auf einem Regierungsdampfer auf der Wolga und später im caspischen Meere Dienste zu leisten. Auf diese Art habe er sich eine gute Zulage verdient, auch den Verhältnissen nach gar nicht schlecht gelebt.

An der entferntesten Stelle des caspischen Meeres stationirt, hatte der Gefangene erst mehrere Monate nach erfolgtem Friedensschlüsse seine Freiheit und die Erlaubniß zur Rückkehr erhalten. Als ein abgerissener Bettler wollte er auch nicht gern in der Heimath wieder erscheinen und da gute Seeleute in Rußland sehr selten und daher auch verhältnißmäßig gut bezahlt sind, so ließ er sich verleiten, noch ein Jahr in Odessa zu bleiben und als Steuermann auf einem Dampfschiffe zu fahren. Länger duldete es ihn aber nicht in der Fremde und gar die Besorgniß um das Schicksal seiner Eltern, die ihm auf alle seine – nicht angelangten – Briefe keine Antwort gegeben hatten, trieb ihn zur Rückkehr in das Vaterhaus. Gegen freie Ueberfahrt ließ er sich auf einem von Odessa nach England segelnden Kauffahrer als Matrose annehmen, hatte in London die rückständigen Gelder, die er noch aus seiner Dienstzeit auf der englischen Flotte zu fordern berechtigt war, eincassirt und war dann zu den lang entbehrten Eltern geeilt.

So lautete die Erzählung des wiedergefundenen Sohnes, die ich in aller Kürze hier mitgetheilt habe, da sich aus ihr so recht wieder ergibt, in welche verschiedenen Lebenslagen das Schicksal unsere norddeutschen Seeleute mitunter führt uns mit welcher tüchtigen Energie sie sich dann gewöhnlich zu benehmen pflegen. Der zurückgekehrte Sohn wollte übrigens die Wintermonate ruhig in der Heimath verbringen, zum Frühjahr aber wieder nach Odessa reisen, da er dort, wie er sagte, sichere Hoffnung habe, ein Kauffahrteischiff als Capitain führen zu können.

„Dann noch sechs bis acht Jahre umhergefahren, und hab’ ich nur etwas Glück, so verdiene ich mir in dieser Zeit so viel Geld, daß ich mir an dem Hause hier noch einen Anbau machen lassen und meine eigene Wirthschaft gründen kann. Für immer möchte ich nicht in Rußland bleiben und wenn ich alle Jahre auch eine ganze Tonne Gold verdienen könnte. Wo man als Junge gespielt hat, da lebt es sich doch als alter Mann auch am Besten,“ sagte er mit – trotz aller Wanderlust – echt deutschem Heimathsgefühl, da ich ihn um seine ferneren Pläne befragte. Alle anderen Brüder, die daneben standen, stimmten dieser Aeußerung mit bei, und der Aelteste von ihnen fügte noch hinzu:

„In der ganzen Welt bin ich in meinen jungen Jahren gewesen, habe viel Geld verdient und lustig gelebt, aber so schön, als es hier oben bei uns auf dem „Danst“ sich lebt, ist es doch nirgends. Und wenn sie auch anderwärts mich gar zum König machen wollten, ich ginge doch nicht wieder von hier mehr fort.“

So lautet aber fast durchgängig die Ansicht aller bejahrten Seeleute in diesen norddeutschen Stranddörfern.

Noch an dem Abende des Tages, an dem ich diese Familie besuchte, hatte ich so rechte Gelegenheit, die Handlungs- und Denkweise der Männer kennen zu lernen. Es war gerade ein Sonntag und so hatte der Alte seine Schwiegersöhne und die Brüder und Verwandten seiner Schwiegertöchter, die fast Alle in den nächsten Dörfern lebten, zu einem Familienfeste eingeladen, dadurch die Wiederkehr seines Sohnes gebührend zu feiern. Zwölf bis fünfzehn Seeleute und Fischer hatten in der eigentlichen Wohnstube Platz genommen, während ihre Frauen und Töchter in einem geräumigen Nebenzimmer eine Kaffeegesellschaft abhielten. Riesige Kaffeekannen von feinem Porzellan, deren Inhalt wahrhaft unerschöpflich zu sein schien, standen auf dem mit einer sehr feinen Decke belegten Tische, wo außerdem eine silberne Zuckerdose und schwere Silberlöffel glänzten.

In der Männerstube konnte man bald vor den dichten Tabakswolken die Ausschmückung nicht mehr erkennen. Feine Havanna-Cigarren, die einer der Anwesenden direct aus Westindien mitgebracht hatte, wurden von den jüngeren Männern in Menge geraucht, während ein halbes Dutzend der älteren ihren holländischen Thonpfeifen, mit zierlich geschnittenem Knaster gestopft, treu blieben. Das viele Rauchen erzeugte starken Durst und die großen Punschbowlen mit einem so trefflichen Punsch, wie man ihn im deutschen Binnenlande nur äußerst selten finden wird, mußten wiederholt gefüllt werden. Holländischer Käse, russischer Caviar und spanische Sardellen standen nebst Heringen und geräucherten Seeschollen auf dem Tische und wurden in Menge verzehrt, um den Durst noch mehr zu reizen. Welche wirklich ungeheuere Portion des starken Punsches konnten aber auch manche dieser alten Seebären vertragen, ohne daß man ihnen die allermindeste Spur irgend einer Trunkenheit anmerkte!

Neben mir zur Linken saß ein recht verwetterter Steuermann eines „Grönland-Fahrers“, der seit achtzehn Jahren jeden Frühling und Sommer im nördlichen Eismeere mit dem Wallfisch- und Robbenfange beschäftigt war und im Herbste dann regelmäßig noch eine Fahrt nach Petersburg machte, bis er zur Winterrast nach Hause ging. Fünfzehn große Viertelgläser mit Punsch sah ich selbst den Alten trinken und doch war äußerlich nicht die mindeste Spur irgend einer Veränderung bei ihm bemerklich. Nur die Nase ward nach und nach röther und die kleinen Augen zwinkerten nach jedem neuen Glase noch lebendiger, im Uebrigen blieb er sich stets völlig gleich.

Eine Freude war es übrigens, dem ruhigen und verständigen Gespräche aller dieser erprobten Seemänner zuzuhören, besonders als erst der genossene Punsch ihre oft etwas schweigsamen Zungen lebendiger machte. Nur Alter und Erfahrung berechtigten hier zum Sprechen, die Jugend mußte bescheiden schweigen, bis sie gefragt wurde. Um Vorfälle aus dem Seeleben drehte sich beinahe ausschließlich das Gespräch Aller, aber fast durchgängig waren die Ansichten so vernünftig und wohlgegründet, daß man Vieles, sehr Vieles daraus lernen konnte.

Die mitternächtliche Stunde hatte schon lange geschlagen, da trennte sich erst die frohe Gesellschaft, um den Rückweg anzutreten, und auch ich bestieg im nächsten Dorfe den Leiterwagen, der mich aus der Stadt in diese abgelegene und doch so heimische Gegend geführt hatte. So oft ich auch an dieser deutschen Ostseeküste weilte, immer schied ich mit wohlthuenden Eindrücken von dort und lernte den kernhaften Sinn ihrer Bewohner immer mehr schätzen. Nicht reiche Gaben spendete die Natur dieser Gegend, denn mühsam mußte des Menschen Fleiß ringen, um sich hier eine behagliche Heimath zu gründen. Dank sei es der festen Ausdauer, es gelang dies Streben vollkommen, und selbst in den üppigsten Gauen Deutschlands wohnt keine glücklichere und tüchtigere Bevölkerung, als hier oben am sandigen Dünen-Strande des baltischen Meeres.