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Titel: Eine Schweizerfahrt
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aus: Die Gartenlaube, Heft 34, 35, S. 556–559, 573–576
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Eine Schweizerfahrt.


Es giebt wohl keine größeren Contraste, keine jäheren Sprünge der Temperatur und Vegetation, keine auffallendere Verschiedenheit der Sprachen und Sitten, als die höchst interessante Straße über den St. Gotthard, dieser alte, berühmte Verbindungsweg zwischen Deutschland und Italien, bietet. Als wir unser letztes Nachtquartier in Bellinzona verließen, glaubten wir durch einen herrlich angelegten, kunstvollen Garten zu wandern. Prachtvolle Magnoliabäume mit großen, weißen Blüthen, hohe Lorbeerbüsche, grüne Myrthen und roth glühende Granaten wuchsen hier im Freien; am Spalier hingen goldene Citronen und Orangen wie bei uns Pfirsiche und Aprikosen. Der Weinstock bildete fortlaufende Guirlanden und Laubgänge, unter denen die reizenden, wegen ihrer Schönheit und Anmuth berühmten Mädchen und Frauen von Bellinzona mit schwarzäugigen Kindern, vor den brennenden Sonnenstrahlen geschützt, ihre Siesta hielten. Die ganze Landschaft bot ein Bild des heiteren Südens, während die Stadt mit ihren Burgen und Mauern einem Stück verkörperten Mittelalters glich und uns unwillkürlich an frühere Kämpfe erinnerte, als Bellinzona noch einer der Schlüssel und Bollwerke zu den Alpenpässen war.

Ganz denselben Charakter zeigt das dreizehn Stunden lange Livinerthal, wo das italienische Wesen noch vorherrschend ist. Malerische, aber meist zerfallene Häuser mit flachen Dächern, reich ausgestattete Kirchen, braune Männer und Frauen mit zigeunerhaftem Anstrich, schöne, aber schmutzige Kinder und besonders zahlreiche Geistliche in langen, schwarzen Röcken und mit breiten Hüten, meist wohlgenährte Diener des Herrn, die einen unbeschränkten Einfluß auf die bigott katholische Bevölkerung ausüben, wovon wir selbst uns noch heute überzeugen sollten. Wegen unseres zerrissenen Schuhwerks wendeten wir uns nämlich in einem Dorfe am Wege an einen Schuhmacher. Dieser aber erklärte uns zu unserem Bedauern, daß er uns unmöglich dienen könne, weil gerade heute das Fest der Schutzpatronin, der heiligen Petronella, gefeiert werde, weshalb er nicht arbeiten dürfe, ohne eine schwere Sünde zu begehn. Durch unsere dringenden Bitten ließ er sich endlich rühren, aber zuvor wollte er noch mit dem Herrn Curate, dem Ortsgeistlichen, reden und dessen Erlaubniß einholen. Zu unserer Freude kehrte der fromme Schuster bald mit der Genehmigung des würdigen Priesters zurück, dessen Toleranz wir in der That höchlichst bewunderten und priesen. In wenigen Minuten wurde auch der kranke Stiefel durch Auflegung eines tüchtigen Lederpflasters geheilt, wofür unser gewissenhafter Meister jedoch den unerhörten Preis von vier Franken, etwa einem Thaler und zwei Silbergroschen, forderte, während dieselbe Arbeit in Berlin höchstens fünf Silbergroschen kostet. Als wir, über diese Prellerei erzürnt, unsern Schuster zur Rede stellten, antwortete er, daß er dem Curate für die ertheilte Erlaubniß die Hälfte des Gewinnes abgeben müsse, dieser ihm aber empfohlen habe, das Doppelte des gewöhnlichen Preises zu fordern, da die Arbeit an einem der heiligen Tage eine Extravergütigung verdiene. Es blieb uns nichts übrig, als die vier Franken ruhig in majorem Dei gloriam zu zahlen.

Nach diesem kleinen Abenteuer setzten wir unseren Weg weiter fort über das berühmte Schlachtfeld von Giornico, wo sechshundert Schweizer im Jahre 1487 einen glänzenden Sieg über fünftausend Mailänder erfochten. Auf den Rath ihres Anführers, des tapferen und klugen Richters Stanga, leiteten die von der Uebermacht bedrängten Eidgenossen das Wasser des Ticino auf die abschüssigen Wiesen, wo es in der kalten Decembernacht eine leichte Eisdecke bildete. Die Schweizer schnallten an ihre Schuhe die üblichen Eissporen an, die ihnen einen festen Tritt gestatteten, während die Italiener, auf schlüpfriger Fläche anstürmend, theils ausglitten, theils einbrachen und unter den wuchtigen Hieben der kleinen, ihren Vortheil wahrnehmenden Schaar erlagen. Fünfzehnhundert Erschlagene färbten mit ihrem Blute den weißen Schnee; das ganze Mailänder Heer gerieth in Verwirrung und ergriff die Flucht. Die Schweizer aber galten seitdem als die besten Krieger bei ihren Nachbarn, und selbst mächtige Könige bewarben sich um die Freundschaft der tapferen Republikaner.

Die Gegend wurde immer schöner und malerischer, rebenumkränzte Hügel, trotzig zum Himmel emporragende Felsen, grüne Matten, rauschende Wasserfälle und silberne Cascaden boten eine Fülle der herrlichsten Naturbilder, eine fortlaufende Gallerie der wunderbarsten Landschaften, welche unsere Augen entzückten, während uns die frische Alpenluft mit ihrem kräftigen Hauch erquickte. In Faido, dem Hauptort von Mittel-Livinien, sahen die Häuser bereits stattlicher, fast elegant aus und auch im Innern fanden wir mehr Reinlichkeit und Ordnungssinn, als man sonst in dem Canton Tessin anzutreffen pflegt. Obgleich Sprache und Sitten noch italienisch sind, glaubten wir doch bereits den deutschen Einfluß zu spüren. Die Abhänge der Berge sind mit Obstbäumen bepflanzt, und auf den Höhen wird die Alpenwirthschaft schon nach Schweizer Art betrieben. Die Dörfer rücken weiter auseinander und lösen sich in zerstreute Häuser und Hütten auf nach altgermanischer Sitte, während die romanische Bevölkerung sich enger zusammenschließt und auch ihre Wohnungen dichter aneinander baut.

Auch in Airolo wird noch vorwiegend italienisch gesprochen, aber gleich dahinter tritt die deutsche Zunge und Sitte in scharfem, überraschend jähem Wechsel hervor. Zugleich verschwinden die letzten Boten des Südens, der Weinstock hörte auf, und an die Stelle der üppigen Nußbäume und der edlen Kastanie trat die dunkle Tanne und die am Abgrund wachsende Lärche. Die Straße wurde immer steiler, die Gegend wilder und erhabener. In kunstvollen, aber höchst beschwerlichen Zickzackwendungen führte uns der Weg durch das gefürchtete Trümmelethal, Val Tremolo, wo im Frühjahr die Lawinen von den nahen Bergen niederfallen und den Wanderer zu begraben drohen. In wilden [557] Sprüngen jagte der schäumende Ticino an uns vorüber, als könnte er nicht schnell genug aus dem rauhen Norden nach dem milden Süden fliehn.

Bald erreichten wir eines jener Zufluchtshäuser, cantonniere, die dem Reisenden bei schlechter Witterung ein Asyl bieten und den Straßenarbeitern zum Aufenthalte dienen. Diese sogenannten Rutner (rottoni, cantonniers) führen besonders im Winter ein mühevolles Leben, mit dem sich die Beschwerden und Entbehrungen unserer Eisenbahnschaffner auch nicht entfernt vergleichen lassen. Jahr aus Jahr ein verweilen diese Leute in der schauerlichen Wüste des Hochgebirges, verbannt und abgeschnitten von der übrigen Welt, ohne jede Bequemlichkeit; ihre Wohnung, ein kaltes, unwirthliches Steinhaus, durch dessen enge Fenster kaum ein Sonnenstrahl dringt, rings umher kein Baum, kein Strauch, nur graue Granittrümmer; ihre Nahrung schwarzes Brod und zähe Polenta mit etwas Käse, ihr Getränk das aus den Gletschern abfließende Eiswasser. Bei einer Kälte von zwanzig bis dreißig Graden müssen sie die Straße in Stand halten, den fußhohen Schnee fortschaufeln und oft mit Lebensgefahr für die Weiterbeförderung der Post Sorge tragen. Ein Fehltritt, ein jäher Windstoß kann sie in den Abgrund schleudern, eine Lawine sie verschütten, gewiß kein beneidenswerthes Loos, und doch schienen uns die Leute zufrieden und heiter, als wir mit ihnen sprachen und unsere Cigarren mit ihnen theilten. Wie sie uns erzählten, dauert es oft mehrere Tage, bevor sie trotz aller Anstrengung den Weg für die italienische Post frei machen können, wenn das Val Tremolo bei starkem Schneefall unzugänglich wird. Dann müssen die Passagiere so lange auf dem St. Gotthards-Hospiz verweilen, während sie selbst die Briefe und Frachtstücke weiter befördern, wobei nicht selten der Eine oder der Andere der übermenschlichen Mühe erliegt und auf dem Wege erfriert.

Noch gefährlicher sind die im Frühjahre fallenden Lawinen, deren es mehrere Arten giebt. Am gefährlichsten erscheinen die sogenannten „Wind- oder Staublawinen“ wegen des von ihnen erzeugten und sie begleitenden Orcans, der Alles, was sich ihm in den Weg stellt, Häuser und Bäume, Menschen und Vieh, mit sich fortreißt und in die Tiefe schleudert. Ihnen zunächst kommt die „Grundlawine“, welche sich bei eintretendem Thauwetter aus einem kleinen sich loslösenden Schneeballe bildet, der im Rollen immer größer wird, bis er zu einer gewaltigen, zermalmenden Größe anwächst. Weniger zerstörend wirkt die „Schlupflawine“, die durch das Herabrutschen des Schnees an den schiefen Abhängen der Berge entsteht, und das ihr verwandte „Föhnschild“, eine den Felsenrand überragende Schneemasse, die durch ihre eigene Schwere oder einen leichten Windstoß, oft durch den bloßen Schall der menschlichen Stimme oder den Klang einer Glocke in Bewegung geräth.

Da wir im Hochsommer reisten, so blieben wir von all’ diesen furchtbaren Naturereignissen verschont. Ohne weitere Abenteuer erreichten wir nach mehrstündigem, beschwerlichem Steigen die dunkle Schlucht, durch welche Suwarow, der russische Hannibal, die von ihm geschlagenen Franzosen verfolgte. Dicht am Austritt aus dem „Val Tremolo“ erinnert an seine Heldenthat eine in den Felsen gehauene Inschrift: „Suwarow Victor!“ – In kurzer Zeit begrüßten wir das St. Gotthards-Hospiz, wo wir in dem Hôtel „Prosa“, das jedoch keineswegs diesen unpoetischen Namen verdient, ein freundliches Unterkommen fanden. Hier, in einer Höhe von sechstausendfünfhundert Fuß, hat menschliches Mitleid und christliche Frömmigkeit bereits im vierzehnten Jahrhundert eine Herberge gegründet, die, 1775 von einer Lawine zerstört und später von den Franzosen niedergebrannt, gegenwärtig, neu errichtet, durch wohlthätige Sammlungen und einen namhaften Beitrag der tessiner Regierung zum Besten der Reisenden unterhalten wird. Ungefähr elf- bis zwölftausend arme Reisende aller Nationen erhalten im Laufe eines Jahres fünfundzwanzigtausend Rationen, Brod, Suppe und Kaffee, und warme Kleidungsstücke unentgeltlich geliefert. Die Kosten dafür betragen gegen zehntausend Franken, und gewiß verdient keine zweite derartige Stiftung in höherem Maße die Theilnahme und Unterstützung aller Menschenfreunde. Oft verweilen bei anhaltendem Schneefall hundert Personen mehrere Tage in diesem Asyle, wo sie eine Zuflucht und Verpflegung finden. Statt der früheren Mönche hat die Regierung des Cantons jetzt Herrn Lombardi als Verwalter angestellt, während den Gottesdienst ein besonderer Caplan versieht, der zugleich die nöthigen meteorologischen Beobachtungen macht.

Wenn jene furchtbaren Schneestürme, welche in der Volkssprache „Guxeten“ genannt werden, um die Gipfel des St. Gotthard toben, die Luft, in Millionen schneidender Eiskrystalle verwandelt, sich wie eine Binde um die geblendeten Augen legt, die erstarrende Kälte den Athem erschwert, die Glieder lähmt und der Tod in seiner schrecklichsten Gestalt den hülflosen Wanderer überfällt – dann ertönt tröstend und warnend das schrille Glöcklein der Capelle auf dem Hospize und die rüstigen Knechte wandern in Begleitung der weltberühmten Hunde, mit Wein, Lebensmitteln und warmen Decken versehen, hinaus in Sturm und Wetter, um den Verirrten beizustehen, um die Verschmachtenden zu laben. Herr Lombardi, unser Wirth, erzählte uns aus seinen reichen Erlebnissen eine Reihe der erschütterndsten Tragödien und der wunderbarsten Rettungen, wobei wir nicht genug den Muth und die Aufopferung der Hospizbewohner bewundern konnten. Man denke sich, welche Selbstverleugnung dazu gehört, neun Monate des Jahres in dieser Schneewüste zu verweilen, stets bereit, das eigene Leben für die Erhaltung seiner Nebenmenschen zu wagen! Auch mit den klugen, höchst intelligenten Hunden, von denen jeder Einzelne die Rettungsmedaille verdient, wurden wir näher bekannt. Die Thiere besitzen einen wunderbaren Instinct und finden ihren Weg in finsterer Nacht durch Schnee und Eis, wo sie die Verschütteten wittern und aus ihrem Grabe herausscharren. Zwar ist die echte Bernhardinerrace auf dem St. Gotthard erloschen, aber ihre Nachfolger, eine Mischung von Kamtschatka- und Leonbergerhunden, sollen den Vorgängern in keiner Weise nachstehen.

Im Hochsommer gewährt dagegen das Hospiz ein ebenso interessantes als belebtes Schauspiel, wenn von beiden Seiten die Posten und Passagiere sich kreuzen und hier ein wahrer internationaler Völkercongreß zusammentritt, woran Deutsche, Italiener und Franzosen, vorzugsweise aber die unvermeidlichen Engländer und Amerikaner, sich betheiligen. Auch die Umgegend, so wüst sie auch erscheint, bietet manche lohnende Partie, wie die Ersteigung des nahen „Tritthorns“ und der „Fibia“, von denen man eine überraschend schöne Aussicht auf die Kette der Central-Alpen genießt. Ebenso wird der nur eine halbe Stunde entfernte, in romantischer Umgebung und auf einer Höhe von sechstausend Fuß gelegene „Lucendro-See“ öfters von Touristen besucht.

Bei der großen Wichtigkeit der St. Gotthardsstraße für Handel und Verkehr zwischen Deutschland und Italien lag der Gedanke wohl nahe, durch eine Eisenbahn beide Länder auch von dieser Seite zu verbinden. Ein directer Schienenweg über das Joch des Hochgebirges mußte jedoch wegen der Schneestürme im Winter, welche einen ganzen Eisenbahnzug in den Abgrund stürzen können, wegen der Lawinen im Frühjahre und wegen der ganzen Lage auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen. Man faßte daher den der modernen Titanen würdigen Entschluß,[WS 1] den Granitleib des St. Gotthard zu durchbohren und einen zwei Meilen langen Tunnel von einem der gefährlichsten Punkte zu dem andern hindurchzuführen. Um die für den unterirdischen Bau nöthige Luft herbeizuschaffen, sollen mehrere gegen tausend Fuß tiefe Schachte durch den harten Stein gebrochen werden. Schon in einigen Jahren hofft man das Riesenwerk zu beenden und dann zu jeder Zeit des Jahres in wenigen Minuten die Strecke zu durcheilen, zu der wir jetzt noch mehrere Stunden brauchten, obgleich wir tapfer zuschritten, nachdem wir uns hinlänglich ausgeruht und ein Glas feurigen Veltliner auf das Gelingen des kühnen Unternehmens mit unserem Wirthe getrunken hatten.

Nicht weit von dem Hospiz entfernt liegt das berüchtigte „Feld“. Kein Feld des Segens, sondern eher ein Schlachtfeld höllischer Geister und tückischer Dämonen, die im Frühjahre mit donnernden Lawinen, im Winter mit gräßlichen Schneestürmen gegeneinander kämpfen. Noch immer zeigte uns die Natur ihr ernstes Todtengesicht, bis nach und nach das versteinernde Medusenantlitz milder wurde und die starren Züge sich wieder zu beleben anfingen.

Noch scheint das organische Leben erstorben, noch sieht man keinen Baum, keinen Strauch, aber plötzlich bei einer Biegung des Weges ruht das Auge mit doppelter Wonne auf dem grünen, einer riesigen Matte ähnlichen Thal, aus dem die alten dunkeln [558] Häuser von Hospenthal mit dem grauen Longobardenthurm gleich Maulwurfshügeln emporragen. Am Ausgange des unansehnlichen Dorfes, von wo man die Furka- und Rhonegletscher in einigen Stunden ganz bequem zu Wagen erreichen kann, wurden wir durch das großartige „Hôtel zum Meyerhof“ überrascht, vor dessen Thür uns geschäftige Kellner in schwarzen Leibröcken und mit weißen Binden, verschleierte Engländerinnen, Touristen, Führer mit ihren Pferden, Sesselträger, kurz der ganze Troß, der Einem nur zu oft durch seinen Lärm den Genuß an der herrlichen Natur verleidet, schon von Weitem begrüßte.

Bellinzona.

Ohne uns aufzuhalten, zogen wir an dem nahen Andermatt vorüber, durch das Urner-Loch, einen interessanten, schon seit dem Jahre 1707 in den Felsen gehauenen Tunnel, zu der berühmten Teufelsbrücke, unter der die wilde Reuß mit dem Donner von hundert Cascaden, schäumend, in weißen Gischt aufgelöst, zwischen den trotzigen Felsen dahinstürmt. Ein kühner Bogen schwingt sich fast hundert Fuß hoch und fünfundfünfzig Fuß breit über den Abgrund, in dessen Tiefen das Wasser tobt. An die sichere Brüstung gelehnt, genossen wir das in der That großartige Schauspiel, das noch durch die Beleuchtung einen eigenthümlichen Reiz erhielt, als die Sonnenstrahlen die aufsteigenden Wasserstaubwolken in farbige Regenbogenringe verwandelten, die sich ineinander verschlingend ein magisches Farbenspiel bildeten. Hier an dieser Stelle kämpften im Jahre 1799 die verbündeten Russen und Oesterreicher gegen die Franzosen, welche weder die wüthende Reuß noch die steilen Felsen zurückschreckten, an denen sie unter dem Kugelregen ihrer Gegner emporkletterten. In das Toben der Brandung mischte sich der Donner der Kanonen, das Geschrei der Verwundeten und Sterbenden, und der weiße Gischt färbte sich roth von dem Blut der Erschlagenen, so daß die Teufelsbrücke damals in der That ihren Namen verdiente.

In vielfachen Schlangenwindungen, die sich jedoch auf Seitenpfaden, den sogenannten „Kehren“, abkürzen lassen, führte uns der Weg durch die nackte Schlucht der Schöllinen, die an Oede und Gefährlichkeit dem gefürchteten Trümmelethal nicht nachsteht. Dafür entschädigte uns im ferneren Verlauf der Reise der Anblick der herrlichen Landschaft, die sich mit jedem Schritt großartiger und schöner entfaltete. Zu beiden Seiten wechselten grüne Matten, malerisch gelegene Hütten, prächtige Tannenwälder mit den riesigen Bergen und blitzenden Schneefeldern ab. Mitten durch die prächtige Landschaft rauscht die tobende Reuß, die uns fortwährend begleitete. Die Straße ist mit bewunderungswürdiger Kunst und Kühnheit angelegt und macht eben so sehr ihrem Erbauer wie der Schweizer Regierung alle Ehre. Man kann sich keine Vorstellung von den Schwierigkeiten machen, welche der Architekt zu überwinden hatte; bald mußte er einen Berg umgehen, bald durch den widerstrebenden Felsen sich eine Bahn brechen, bald furchtbare Abgründe überwölben.

Wir ruhten an der sogenannten Pfaffensprungbrücke einige Minuten aus und blickten schaudernd in den siedenden Wasserkessel der tiefen Schlucht, über die nach der Sage ein Mönch mit seiner entführten Beichttochter den kühnen Sprung gewagt haben soll, ohne den Hals zu brechen; ein neuer Beweis, daß der Himmel seine frommen Diener beschützt, auch wenn sie nicht immer den Pfad der Tugend wandeln. – Nach kurzer Rast setzten wir unsere genußreiche Wanderung bis Amstäg fort, wo wir im „Weißen Kreuz“ einen nach der anstrengenden Fußtour doppelt willkommenen Retourwagen fanden, der uns in kurzer Zeit nach Altdorf brachte, wo wir einige Stunden verweilten. Hier betraten wir den classischen Boden der Tellsage. Das leider künstlerisch nicht besonders gelungene Standbild des berühmten Schweizer Helden bezeichnet die Stelle, auf welcher der kühne Schütz gestanden haben soll, während an dem gegenüberliegenden Thurm, der mit Fresken aus Tell’s Leben verziert ist, der unerschrockene Knabe den Pfeil des Vaters erwartete. – Mit Hülfe des Omnibus kamen wir noch rechtzeitig in dem nahen Fluelen an, um das letzte nach Luzern gehende Dampfboot zu benutzen. Unstreitig zählt eine Fahrt auf dem Vierwaldstädter See bei günstigem Wetter zu den unvergeßlichen Genüssen. Gleich einem riesigen Spiegel, worin die herrliche Natur sich selbst bewundert, breitet er sich meilenweit im Schooße der erhabenen Alpenwelt aus. Seine reizenden Ufer, von Sage und Geschichte umschwebt, vereinen den Zauber einer fast südlichen Vegetation mit der ganzen Großartigkeit des Hochgebirges. Freundliche Villen, Dörfer und Städte laden überall zum längeren Verweilen und zu den lohnendsten Partien ein. Von unserem Dampfboot, das den Namen Tell führte, begrüßten wir die von dem Genius unseres Schiller geweihten Orte, zunächst die Tellsplatte, wo der verwegene Schütz in mächtigem Sprung das ersehnte Ufer erreichte, als der tyrannische Vogt ihm das Steuerruder im wilden Sturm anvertraute. Dort steht zur Erinnerung an die kühne That eine offene Capelle, wo alljährlich das Volk der Urcantone die glückliche Rettung seines nationalen Helden durch Gottesdienst und öffentliche Spiele feiert.

Darüber erhebt sich die neue, senkrecht über dem See in den Felsen gesprengte Axenstraße, ein Meisterwerk der berühmten Schweizer Wegebaukunst. Zu beiden Seiten steigen die Riesen der Alpenwelt, die kolossale Pyramide des Frohnalpenstocks, die Windgälle, das Scheerhorn und die röthlich schimmernden Mythenstöcke empor, während zur Linken und zur Rechten die üppigsten grünen Thäler sich erschließen. Dieser Theil der großen Wassermasse, welcher den Namen „Urner See“ führt, ist selbst das herrlichste Gedicht des Schöpfers, ein Hymnus des Ewigen, ein zum Himmel aufsteigender Lobgesang. In den klaren Fluthen spiegeln sich die Häupter der Berge, die weißen schimmernden Gletscher, die grünen Wälder, die goldene Sonne, ein entzückendes Bild, das keine menschliche Phantasie zu ersinnen und selbst der größte Künstler nicht wiederzugeben vermag.

Dort unter dem Seelisberger Kulm, wo eine beliebte Schweizer [559] Pension sich befindet, liegt das Grütli, jene heilige Wiese, auf der in der ewig denkwürdigen Nacht vom zum 7. zum 8. November 1307 die Gründer der Schweizer Freiheit, der wackere Stauffacher, der kluge Walter Fürst und der feurige Arnold von Melchthal mit ihren Freunden den ewigen Bund beschworen, und nicht weit davon entfernt ragt aus der grünen Fluth der Mythenstein hervor, eine natürliche Felsensäule mit der schönen Inschrift: „Dem Sänger Tell’s, Friedrich Schiller. Die Urcantone 1860.“ Gegenüber liegt Brunnen, eine Perle des Vierwaldstädter Sees, mit entzückender Aussicht, weiterhin Gersau, einst das Eldorado aller Bettler, Vagabunden und Heimathslosen der Umgegend, die hier ihre berüchtigte Kirchweih, die sogenannte „Gauner-Kilbi“, feierten, jetzt ein wohlhabender und gewerbfleißiger Ort, auf dem entgegengesetzten Ufer das gemüthliche Bekkenried mit seinen alten, prächtigen Nußbäumen, endlich das idyllische Wäggis und das in neuester Zeit schnell aufblühende Vitzenau, von wo die wirklich märchenhafte Eisenbahn auf den Rigi führt.

Hotel de la Prosa, Güterhaus und Hospiz auf dem St. Gotthard.

Die untergehende Sonne beleuchtete mit ihren goldenen Strahlen das amphitheatralisch aus dem See auftauchende Luzern mit seinen grauen Thürmen, weißen Villen, prächtigen Kirchen und großartigen Hôtels, als wir an dem schönen Quai landeten. Rigi und Pilatus, die beiden Riesenwächter, begrüßten uns freundlich als alte Bekannte, und aus der Ferne glänzten die Spitzen der Berner Alpen, während der See zu unsern Füßen und die Wolken am Himmel rosig erglühten, bis die eintretende Dämmerung und unsere Müdigkeit dem entzückenden Anblick ein Ende machten und uns daran erinnerten, eine Wohnung zu suchen, die bei der Ueberfüllung mit Fremden nicht so leicht zu finden war. Am nächsten Morgen statteten wir nur dem „sterbenden Löwen“ Thorwaldsen unsern pflichtschuldigen Besuch ab, da wir Luzern und seine Umgebung bereits hinlänglich kannten. – Ein niedlicher Einspänner, für den der Kutscher fünfzig Franken forderte, aber schließlich dreißig nahm, sollte uns über den Brünig nach Brienz bringen, von wo wir nach Interlaken wandern wollten. Die Fahrt an dem Ufer des Sees entlang gewährte uns nach der gestrigen Anstrengung ein doppeltes Vergnügen; mit unaussprechlichem Behagen lehnten wir uns in die weichen Kissen und ließen an unseren Augen die wirklich bezaubernden Bilder wie in einem Kaleidoskop vorüberziehn, bald ein Stück des schimmernden Sees, bald eine malerische, in Bäumen und Reben versteckte Hütte, bald einen grotesken Felsen oder eine grüne Matte.

Unser Kutscher, der beiläufig den Exkaiser Napoleon und Eugenie bei ihrer Reise durch die Schweiz gefahren hatte, machte in Sarnen Halt, um die Pferde zu füttern und zugleich sich selbst mit einem Glase Wein zu stärken. Wir benutzten die Pause, um uns in dem ansehnlichen Ort etwas umzuschauen. Die schönsten Gebäude waren Nonnen- und Mönchsklöster oder geistliche Erziehungsanstalten des hier ganz ultramontanen Klerus. Einen freundlichen Eindruck machten das schöne, mitten in einem Garten gelegene Waisenhaus und das neue stattliche Spital mit der Inschrift: „Christo in pauperibus,“ die selbst einer großen Stadt zur Ehre gereichen würden. Am Ausgange des Dorfes sahen wir den Hügel, auf dem einst das Schloß des gefürchteten Landvogts Landenberg stand. Jetzt werden auf derselben Stelle, wo einst der Tyrann hauste, die Volksversammlungen des Cantons Obwalden abgehalten, wobei es mitunter um so freier zugehen soll.

[573] Ueber Lungern, dessen See auf den Aussterbe-Etat gesetzt ist und in fruchtbares Land verwandelt wird, stiegen wir langsam zur Paßhöhe des Brünig empor, die allerdings kaum dreitausend Fuß hoch liegt, aber trotzdem eine herrliche Aussicht bietet. Zu unseren Füßen lag das Thal der Aar mit seinen schimmernden Buchen und silbernen Wasserfällen, hoch überragt von den mächtigen Häuptern des Tschingelhorns, Oltschihorns und Wandelhorns und von den Riesen des Berner Oberlandes mit ihren weißen Schneefeldern und schimmernden Gletschern. Den Berg hinunter flogen wir mit Sturmeseile, daß wir jeden Augenblick befürchteten, in den gähnenden Abgrund geschleudert zu werden. Aber unser Rosselenker, der den Pferden die Zügel schießen ließ und sie noch durch seinen ermunternden Zuruf anspornte, spottete nur über unsere Angst. Es war die köstlichste Fahrt, im offenen Wagen so dahinzufliegen, vorbei an grünen Matten und blumigen Halden, an rauschenden Quellen, an zierlichen Schweizerhäusern, an grüßenden Männern und lächelnden Frauen; dazu der blaue, wolkenlose Himmel, der goldene Sonnenschein und die berauschende Alpenluft. Das Ganze glich dem Traum eines Glücklichen, der nur zu schnell vorüberflieht.

Da es gerade ein Feiertag war, so fanden wir Brienz im Sonntagsstaat. Frauen und Mädchen promenirten in ihrer kleidsamen Tracht zwischen den malerischen Holzbauten oder saßen am Wasser und sangen jene schönen Volkslieder, womit sie die Fremden ebenso sehr, wie durch ihre natürliche Anmuth erfreuen. Schnell wurde von uns ein Boot gemiethet, das über den schönen See nach den berühmten Gießbachfällen fuhr. Wir landeten in einer geschützten Bucht, von der ein sorgfältig angelegter Fußweg zwischen prächtigen Waldbäumen allmählich zu dem bekannten „Gießbachhôtel“ emporsteigt, das, mitten in diesem Naturpark gelegen, rings von den schönsten Gartenanlagen umgeben, den Wanderer durch die darin herrschende Eleganz und den gebotenen Comfort in solcher Höhe überrascht. Allerdings sind auch die Preise weniger für den Beutel deutscher Schriftsteller als für [574] englische Lords, amerikanische Speculanten und Berliner Gründer berechnet. Der Zusammenfluß der Fremden schuf hier eine kleine Industrie, die mitunter in

Am Gießbach: Der Wilde von Fach.

seltsam phantastischen Erscheinungen sich kundgiebt. So sahen wir einen wunderlich ausgeputzten Mann, der den Wilden spielte; er trug einen Hut mit Adlerfedern, um seine Schultern, trotz der Hitze ein Fell geschlungen und zeichnete sich durch seine langen Haare und seinen röthlichen Bart aus, so daß man ihn für den Häuptling irgend eines Indianer-Stammes halten konnte. Unter der wilden Maske steckte jedoch ein zahmer Schweizer, der auf diese neue Weise Reclame für seine Gemshörner und Edelweißvorräthe machte. – Die Gießbachfälle stürzen in sieben Absätzen aus einer Höhe von neunhundert Fuß über die waldbewachsenen Felsen in die Tiefe. Abends werden die Cascaden mit bengalischen Flammen beleuchtet und gewähren dann in der That ein magisches Schauspiel, das einem Märchen aus „Tausend und einer Nacht“, dem gaukelnden Spiel der Wassergeister, einem nächtlichen Zauberfeste Oberon’s und Titania’s gleicht. Wenn auch die strenge Aesthetik diese Ueberschönerung der schönen Natur, dieses Raffinement eines blasirten Geschmacks verwerfen muß, so läßt sich doch nicht leugnen, daß die Wirkung eine feenhafte ist.

Ein Ausrufer in Interlaken.

Am nächsten Tage wanderten wir nach Interlaken, wo wir mehrere Tage zu verweilen gedachten, um von hier aus Partien in die Berner Alpen zu unternehmen. Die günstige Lage des Ortes zwischen dem Brienzer und Thuner See, die prächtigen, mit allem Comfort und Luxus ausgestatteten Hôtels und Pensionen, machen Interlaken zum Mittelpunkt des Fremdenverkehrs und dadurch für Viele geräuschvoll, unruhig und ungemüthlich, weshalb es sich weniger für den Naturfreund als für Touristen und die sogenannte feine Welt eignet, welche auch in den Bergen nicht die zweideutigen Genüsse der großen Stadt entbehren will. Wenn man auf dem staubigen „Höhenweg“ promenirt, so glaubt man in Berlin, Paris oder in Baden-Baden zu sein. Nur hier und da hat sich noch ein Stück der früheren primitiven Einfachheit erhalten, unter Andern der komische Ausrufer, der im schwerverständlichen Berner Dialect die obrigkeitlichen Verordnungen, verlorene und gefundene Sachen mit lauter Stimme öffentlich verkündigt und dazu die Trommel rührt.

Um so reizender ist die nächste Umgebung von Interlaken, wo jeder Schritt ein neues, überraschendes Landschaftsbild bietet, dessen Mittelpunkt die erhabene Jungfrau mit ihrem Gletscherdiadem bildet. Zu den lohnendsten Spaziergängen, die in wenigen Minuten zu erreichen sind, zählt vor Allen der kleine Rugen, zu dessen Füßen das bekannte großartige Hôtel „Jungfraublick“ liegt, ferner die nicht minder beliebte „Heimwehfluh“. Von beiden Punkten sieht man die strahlende Jungfrau, das weiße Silberhorn, den finstern Mönch und den gewaltigen Eiger in wechselnder Beleuchtung, während die blauen Seen und die grünen Wiesengelände sich zu unsern Füßen ausbreiten; eine seltene Vereinigung der höchsten Erhabenheit und lieblichster Anmuth.

Aber selbst die herrlichsten Punkte in der Nähe von Interlaken werden von einem Ausflug nach Grindelwald und Lauterbrunnen übertroffen, wohin wir im leichten Einspänner rollten, vorüber an freundlichen Häusern und friedlichen Dörfern, durch das romantische Thal der Lütschinen, bewacht von himmelhohen Felsen, durchrauscht von den schäumenden Wellen des Baches, der uns mit seinem wilden Berglied begrüßte, und über uns der blaue, wolkenreine Himmel, die goldene Sonne, so daß man bei jedem Schritt laut aufjauchzen möchte. Nach und nach wird der Weg steiler, so daß wir ausstiegen, um dem Pferd die bei der drückenden Hitze doppelt schwere Last zu erleichtern. Da die Sonne in dem von Bergen rings eingeschlossenen Thal sich vom 28. October bis zum 8. März nicht blicken läßt, so darf man sich nicht wundern, daß hier keine Feldfrüchte mehr gedeihen und große Armuth herrscht. Obgleich die Noth wirklich bedeutend ist, so wird dieselbe von den Bewohnern noch künstlich übertrieben und zu einer Bettelei benutzt, die den Genuß an der wunderbar schönen Gegend wesentlich stört. Dafür entschädigt allerdings das großartige Schauspiel der Natur. Von allen Seiten steigen die weißen, schimmernden Gletscher hernieder, welche dicht an die grünen Matten grenzen und mit diesen zu verschmelzen scheinen, als wollte der bleiche Tod sich mit dem blühenden Leben versöhnen. [575] Im Hintergrund der Landschaft steigt das schwarze Wetterhorn, gleich einem riesigen Sarkophag für erschlagene Titanen, empor; ihm zur Seite die Pyramide des Schreckhorns, der kahle Metterberg, der trotzige Eiger und die Schneegipfel des finstern Mönchs.

Die schwarze Lutschina-Schlucht.

Außer durch die Bettelei wird dem Reisenden der Besuch von Grindelwald noch durch die Zudringlichkeit der Kellner, Führer, Träger, Pferdeverleiher und ähnlicher Plagegeister mit ihren unverschämten Forderungen verleidet, die über jeden Touristen wie über eine willkommene Beute herfallen. Nachdem wir uns durch die genügende Grobheit von dem lästigen Schwarm befreit hatten, setzten wir unsere beschlossene Wanderung nach der berühmten Wengernalp fort. Mit dem nöthigen Schuhwerk und den unentbehrlichen Alpenstöcken versehen, besuchten wir zuerst den „Gletscher“, der vor uns zu liegen schien und doch noch gegen drei Viertelstunden entfernt war.

Durch ein rundes Loch schritten wir über einige Bretter in die Eishöhle, von der fortwährend das Wasser niederregnete, so daß wir uns durch Schirm und Plaid schützen mußten, um nicht durchnäßt zu werden. Wie von blauen und grünen bengalischen Flammen beleuchtet, schimmerten die durchsichtigen Wände gleich einer aus kostbaren Edelsteinen, Smaragden und Demanten erbauten Feengrotte. Um die Täuschung noch zu erhöhen, erschallte aus dem Hintergrunde ein unsichtbarer, tief ergreifender Geisterchor. Als wir jedoch näher traten, entdeckten wir in der Tiefe eine alte, zusammengekauerte, Cither spielende Frau, unheimlich von einigen blakenden Lämpchen

Salzfütterung auf der Wengernalp.

beleuchtet. Das Ganze war eine optisch-akustische Täuschung, eine jener zahllosen Illusionen, die man nicht in der Nähe betrachten und analysiren darf, ohne den Zauber zu zerstören. Nach langem Steigen, das jedoch wegen der stärkenden Gebirgsluft nur wenig ermüdete, sahen wir die Wengernalp mit ihrem neuerbauten „Hôtel de la Jungfrau“ vor uns liegen, wo einst Lord Byron in tiefster Einsamkeit längere Zeit gelebt und seinen „Manfred“ geschrieben haben soll. Der Anblick, der sich uns hier darbot, ließ alle Schönheiten weit hinter sich zurück, die wir bisher auf unserer Reise gesehen. Zu unseren Füßen lag das wüste Trümmletenthal – nicht zu verwechseln mit dem Val Tremolo – in dessen Abgründen die Geister der Hölle zu wohnen schienen. Uns gegenüber baute sich der riesige Thron der weißen Jungfrau auf, um deren Haupt die wallenden Nebelschleier flatterten, bis ein Windhauch die Hülle fortwehte und die unsterbliche Königin der Berge in ihrer ganzen wunderbaren Pracht und Herrlichkeit vor uns erschien, so daß wir geblendet von dem Glanz die Augen schließen mußten. Rings um die Herrscherin schaarten sich ihre nicht minder großen Diener und Vasallen, das schlanke vom tiefen Blau des Aethers scharf abstechende Silberhorn, der graue Mönch mit weißer Schneecapuze, der Eiger in seinem blinkenden Stahlharnisch mit Silber ausgelegt, die schwarzen Wetterhörner und mit ihnen jene unübersehbare Reihe der Recken und Riesen, welche huldigend den Thron der in unnahbarer Majestät niederblickenden Herrscherin umstehen, vor der man unwillkürlich die Kniee beugen möchte. Das Haupt im Himmel, den Fuß im Abgrund, mit ewigem Eis gekrönt, in ihren schimmernden Schneemantel gehüllt, stand sie vor unseren Blicken, furchtbar in ihrer Größe, erhaben in ihrer Majestät, vom Donner der Lawinen umtönt, durch den sie mit den Sterblichen spricht, ein unbeschreibliches, unvergeßliches Bild.

Ein ziemlich steiler, aber schattiger Weg führt durch blumenreiche Matten nach dem ungefähr drei Stunden entfernten Lauterbrunner Thal. Bei dem Dorfe Wengen erblickten wir ein eigenthümlich interessantes Schauspiel; vor dem Wirthshause sahen wir wohl gegen hundert prächtige Kühe und Ochsen, auch einige Ziegen versammelt, umgeben von Hirten und Sennen. Auf unser Befragen erfuhren wir, daß das Vieh jeden Sonntag hier mit Salz gefüttert werde. Es war wirklich lustig mit anzusehen, wie die klugen Thiere den Hirten nachliefen, das Salz suchten und ihnen die Hände, selbst die Taschen leckten, wie sich die lebendigen Gruppen weit bis zu den Bergen hinaufzogen und die schönsten Studien für einen Thiermaler ungesucht darboten.

Nach dem erhabenen Epos der Wengernalp erschien uns das Lauterbrunner Thal mit seinen grünen, freundlichen Matten, mit den kleinen traulichen Häusern und den silbernen Quellen wie eine anmuthige [576] Idylle. Von allen Seiten ein Klingen und Singen, ein Rauschen und Rieseln, ein wahres Naturconcert, dem man mit Entzücken lauscht. Vor Allen aber fesselte uns der Staubbach, dessen Cascade aus einer Höhe von 925 Fuß niederfällt und je nach der Jahreszeit und der Wassermenge bald einen überraschend schönen, bald einen ziemlich kläglichen Eindruck macht. Wir selbst trafen ihn nach längerem Regen in bester Verfassung. Wie ein aus Millionen Perlen und funkelnden Demanten gebildeter Schleier flatterte der mehr durch seine Lieblichkeit als durch seine Größe anerkennenswerthe Fall von den schroffen Klippen; ein reizendes Spiel der mit sich selbst coquettirenden Natur. Aber auch an großartigen Naturbildern fehlt es nicht; auch hier erblickt man die Jungfrau noch deutlicher und klarer als in Interlaken, das blendend weiße Silberhorn und das sich bisher dem Auge entziehende Mittagshorn. Es ist daher kein Wunder, daß das Lauterbrunner Thal von Touristen, besonders von reisenden Engländern überschwemmt wird. Wie zu einem Wallfahrtsort wandern große Karawanen zu Fuß und zu Wagen nach dem beliebten Anziehungspunkt, wo sich ein überraschendes Leben und Treiben, ein Gewirr von Menschen, Pferden, Eseln und Equipagen entwickelt.

Fast übersättigt von den Eindrücken des schönen Tages kehrten wir nach Interlaken zurück, wo wir die uns noch übrige Zeit zu weiteren Ausflügen benutzten. Ein interessanter Spaziergang führte uns zu der romantischen Ruine „Urspunnen“.

Eine andere Partie galt dem neu auftauchenden Luftcurort Beatenberg, der immer mehr in Aufnahme kommt. Schon längst haben die Schweizer Aerzte auf die Wichtigkeit der sogenannten Luftcuren hingewiesen, die hauptsächlich dem erst in neuerer Zeit entdeckten „Ozon“ oder polarisirten Sauerstoff ihre Wirksamkeit in zahlreichen chronischen Krankheiten verdankten. Dieser Stoff entwickelt sich vorzugsweise unter Einwirkung des Sonnenlichts auf hohen Bergen, in der Nähe des Meers und in Wäldern. Beatenberg selbst liegt in einer Höhe von siebentausend Fuß und schien uns wie geschaffen zu einem derartigen Curort, indem es mit der nöthigen Ruhe die reizendste Aussicht auf den smaragdenen See und auf die lange, weiße Kette der Berner Alpen verbindet, ein Bild des stillen Friedens im Vergleich mit dem geräuschvollen Interlaken, dem es freilich an Comfort und Eleganz weit nachsteht.

Endlich schlug die Abschiedsstunde von der schönen Schweiz. Mit dem Dampfboot fuhren wir über den herrlichen Thuner See, an dessen Ufern die reizendsten Villen, Schlösser und Dörfer uns zum längeren Verweilen einluden. Nur mit schwerem Herzen rissen wir uns von der bezaubernden Gegend los, um die Rückreise mit der Eisenbahn fortzusetzen. Erst in Hauenstein, wo die Gräber der in dem Tunnel unglücklich Verschütteten sich erhoben, schwand der letzte lichte Streifen der fernen Alpen. Wir aber riefen, eingedenk der schönen Tage: auf Wiedersehen, auf baldiges Wiedersehen!



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Enschluß