Textdaten
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Autor: F. R.
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Titel: Eine Schmerzensstadt
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aus: Die Gartenlaube, Heft 42, S. 704
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Eine Schmerzensstadt.

Die Zeiten des Faustrechts, dessen naturwüchsigen Söhnen es Herzenssache war, bisweilen gegen den ersten besten Nachbar eine Fehde vom Zaune zu brechen, schienen vorüber. Thöricht würde man den geheißen haben, der an eine Rückkehr glaubte. Und doch leben wir jetzt in ihnen, und zwar im größten Maßstabe! Ein Mann, wenn auch nicht jenen kraftstrotzenden mittelalterlichen Erscheinungen ähnlich, sondern gichtig und gelähmt, konnte noch im neunzehnten Jahrhundert ohne jeden ehrlichen Grund unser Vaterland in einen Krieg werfen, der Ströme des edelsten Blutes erfordert, – der blühende Städte vernichtet und andere neue Städte des Elends und der Schmerzen baut.

In jener weiten Fläche, die man vom Kreuzberge, den Blick von Berlin abgewendet, überschaut, ist eine solche Stadt emporgewachsen. Ein hoher Bretterzaun umschließt in unregelmäßigem Viereck Baracken und Wirthschaftsgebäude, die für fünfzehnhundert Verwundete hergerichtet sind. – Die so oftmals glänzend bewährte Wohlthätigkeit der norddeutschen Hauptstadt hat sie zum größten Theile geschaffen; das Werk aber lobt den Meister, und seine Beschreibung wird gewiß die Theilnahme, Anerkennung und Nacheiferung der weitesten Kreise, wenn dies noch nöthig wäre, erregen.[1]

Kaum forderte der heilige Krieg für deutsche Ehre und Freiheit die ersten Opfer, als Staat, Gemeinde und Privatvereine einen ruhmvollen Wettkampf eingingen, das Loos ihrer verwundeten Helden zu mildern. Der Staat begann zwanzig, die Stadt Berlin und der Hülfsverein für die Armeen im Felde je fünfzehn Baracken zu bauen; so entstanden drei Abtheilungen, deren jede ein Ganzes für sich bildet und seine eigene, in der höchsten Spitze jedoch vereinte Verwaltung hat. Die Erfahrungen der letzten großen Kriege, besonders aber des amerikanischen Riesenkampfes, waren von Aerzten, wie Virchow, Rose und Esmarch, und von Baumeistern, wie Hobrecht, Knoblauch, Steuer, Ende und Böckmann, geprüft und weise benutzt worden; ihnen hat sich eine Zahl edler Frauen angeschlossen, um das schwierige Werk der Krankenpflege zu übernehmen.

Ueber die Vorzüge des Barackensystems mag hier nur kurz angedeutet werden, was Gegenstand der gründlichsten Untersuchungen gewesen ist. Die Kriege der Neuzeit führten den Städten Verwundete in so großer Zahl zu, daß die frühere Regel, die Kranken möglichst zu zerstreuen, nicht mehr maßgebend bleiben konnte. Berlin hatte z. B. im Jahre 1866 allein über fünftausend Verwundete unterzubringen. Da belehrten uns die praktischen Amerikaner. Bei ihnen gab es Barackenlazarethe von mehr denn dreiundzwanzigtausend Kranken, und dennoch war die Sterblichkeitsziffer eine weit günstigere, als bei unserem Zerstreuungssystem. Das ganze Geheimniß liegt in dem Worte Lüftung! Wie diese erzielt wird, ergiebt eine Betrachtung der Baracken selber, zu der ich den freundlichen Leser hiermit einlade.

Gleich am Thore der Stadt, in die wir nur mit einer Einlaßkarte versehen gelangen, zeigt sich ein Theil der neuen Gemeinde: Ein dick bepflasterter Kürassier raucht, auf einem Balken sitzend, mit großer Ruhe und Genugthuung aus seiner kurzer Pfeife, ein prächtiges Bild phlegmatischen Leidens; hinter ihm, beständig schwatzend, ein halbes Dutzend leichtverwundete Mitglieder der großen Nation, die sich zu solcher Gefangenschaft und Pflege Glück wünschen mögen. An ihnen vorüber lassen wir die städtischen Baracken links und die vom Staate gebauten zur Rechten liegen und besichtigen die Abtheilung des Hülfsvereins, weil diese am weitesten vollendet, und überdies, wie es uns scheint, unter allen den Preis verdient.

Nichts Friedlicheres, als dieser Stadttheil. Die einzelnen Baracken und Wirthschaftsgebäude gruppiren sich malerisch um einen freilich noch im Entstehen begriffenen Rasenplatz, durchschnitten von sauberen Kieswegen, die strahlenförmig auf ein großes, mit Flaggen auf das Anmuthigste geschmücktes Zelt laufen, das den wackeren Kriegern zum Erholungsplatze dienen wird. Selbst der Springbrunnen fehlt nicht, um dem Ganzen, man möchte fast sagen, einen herrschaftlichen Anstrich zu geben.

Die Baracken selber erheben sich auf einem etwa drei Fuß hohen Pfahlrost, um der Feuchtigkeit von unten her den Zutritt zu wehren; etwa sechszig Schritt lang und zwölf Schritt breit, sind sie ganz von Holz gebaut, mit zweiseitigem Holzdache, das jedoch oben nicht ganz schließt, sondern von einem kleineren Dache überragt wird, so daß die Luft unbehindert in das Innere strömen kann. Klappen dienen dazu, den Luftzug zu regeln. Die Dächer und die Nordseite der Baracke sind mit asphaltirter Pappe bekleidet und sichern die Bewohner gegen jede Unbill des Wetters. Rings um das ganze Gebäude endlich läuft ein nach außen mit Leinwandvorhängen bekleideter Gang für diejenigen Kranken, welche die Baracke noch nicht verlassen dürfen. Die Heizung derselben soll durch Gas bewirkt werden.

Und welche Behaglichkeit herrscht im Innern! An jeder Seite des luftigen Saales mit den sauber gestrichenen Wänden und den mattenbelegten Fußböden stehen fünfzehn eiserne Feldbettstellen; auf elastischem Drahtgeflechte eine Matratze mit schneeweiß überzogenen Decken und Kissen. Zwischen je zwei Betten ist ein kleiner Schemel und ein gleichzeitig als Tisch dienender Kasten aufgestellt. Die Fenster, mit grünen, beweglichen Rollvorhängen versehen, lassen ein angenehm gedämpftes Licht ein. Zu beiden Seiten des Saales liegen die zur Bequemlichkeit der Kranken erforderlichen Räume, Zimmer für das Dienstpersonal, Kleiderkammern und dergleichen. Namentlich verdient aber die vorzügliche Einrichtung der Closets um so größeres Lob, als gerade in dieser Hinsicht bekanntlich die Krankenanstalten oft viel zu wünschen übrig lassen. Daß die Wirthschaftsgebäude, und besonders die riesige Küche, nicht minder einladend und zweckentsprechend sind, läßt sich erwarten; auf diese Dinge näher einzugehen, würde hier zu weit führen. Auch die kleinen baulichen Verschiedenheiten der einzelnen Abtheilungen müssen wir auf sich beruhen lassen.

Wir legten der neuen, in kaum vier Wochen entstandenen Colonie den Namen Stadt bei, und das mit Recht, abgesehen von ihrer Kirche, ihrer Polizei und ihrem sehr bedeutenden Beamtenpersonal. Von der neuen Verbindungsbahn aus, welche in weitem Bogen um Berlin läuft, ist ein Schienenstrang mitten durch die Baracken gelegt, um die Verwundeten möglichst schnell und schmerzlos ihrem Bestimmungsorte zuzuführen. Telegraphenleitungen vermitteln den Verkehr mit Berlin und den auswärtigen Bahnstationen, so daß von jedem Verwundetentransporte rechtzeitig Nachricht gegeben werden kann. Die Gesellschaft der englischen Wasserwerke hat es sich nicht nehmen lassen, unentgeltlich für steten Wasserzufluß zu sorgen, und zwei Dampfmaschinen pumpen das gebrauchte Wasser und sonstige Stoffe in ein großes unterirdisches Behältniß, von welchem aus der Abfluß vermittelt wird. Für zweckmäßige Beleuchtung und Erwärmung endlich liefert die Stadt Berlin das Gas.

So haben Vaterlandsliebe, Wissenschaft und Kunst ein Werk gegründet, auf das unser Volk mit Recht stolz sein darf. Welche riesigen Mittel erforderlich waren, mag die eine Bemerkung anschaulich machen, daß die Kosten für jedes Bett – und es sind deren fünfzehnhundert – auf hundertdreiunddreißig Thaler ermittelt sind, was einen Gesammtaufwand von fast zweimalhunderttausend Thalern ausmacht, wozu die Stadt Berlin nahezu den dritten Theil beigetragen hat, ungerechnet die vielen freiwilligen Hülfsleistungen und Gaben an Geräthschaften, Nahrungsmitteln u. dgl.

Schon ist ein Theil der Baracken besetzt; schon sind Messer und Säge in Thätigkeit, und auch der Todesengel hat bereits seine Ernten gehalten. Gott aber gebe, daß es die letzte Stadt ist, die so traurigen Ursachen ihre Entstehung verdankt; er segne unsere Waffen und ein freies, einiges, starkes Deutschland!
F. K.





  1. Wir glauben an dieser Stelle doch auch manchen anderen Städten die Anerkennung schuldig zu sein, daß sie nicht weniger als Berlin für die Pflege und Sorge der ihnen anvertrauten Kranken bekümmert waren, wie denn auch Leipzig eine der oben geschilderten durchaus ähnliche Barackenstadt besitzt, welche, mit größter Opferwilligkeit aufgebaut, von Seiten unserer Sachverständigen einstimmiges Lob erfährt.
    D. Red.