Eine Mägdeherberge in Berlin

Textdaten
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Autor: Henriette Hirschfeld-Tiburtius
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Titel: Eine Mägdeherberge in Berlin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 232, 234
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Eine Mägdeherberge in Berlin.

Von Frau Tiburtius-Hirschfeld (Berlin).

Wie tief beklagenswerth die Lage unserer dienenden Klassen ist, wenn eine temporäre Arbeits- und Verdienstlosigkeit über sie hereinbricht; welche Gefahren namentlich den weiblichen Dienstboten in solcher Lage drohen, ist längst allen denjenigen klar geworden, die sich eingehend und Hilfe spendend mit ihnen beschäftigten. Erschreckende Zahlen und Thatsachen brachten manche, die es ehrlich mit ihrem Vaterlande und seiner Entwickelung meinen, zu ernstem Nachdenken, wie man Diejenigen retten könne, die meist durch eine unselige Verkettung der Verhältnisse auf dem Wege zum Sumpfe des Lasters sich befinden oder in denselben schon hineingerathen waren. Es rührte sich aller Orten. In Berlin entstand zuerst der „Verein zur Rettung und Erziehung minorenner weiblicher Strafentlassenen“, sowie der „Verein zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit“, in dessen Aufruf zur Theilnahme es heißt: „Wenn uns bei unserem Willen die Empfindung trägt, daß es hohe Zeit sei, dem äußerlich so stolz aufgerichteten Baue unseres geeinten Vaterlandes nun auch den köstlichen inneren Schmuck, eine geläuterte Sittlichkeit wieder zu gewinnen, so sind wir überzeugt, daß diese Empfindung überall Widerhall wird finden müssen.“

Wenn dieser Widerhall auch leider nicht so laut war, wie man wohl hätte erwarten dürfen, so hinderte das den Verein nicht, die erste Nummer seines Arbeitsprogramms: „Die Errichtung einer Mägdeherberge“ in Berlin zur Ausführung zu bringen.

„Eine Mägdeherberge?“ hören wir Diejenigen fragen, welche die Berliner Anstalten kennen; „wir besitzen ja in Martha’s Hof und Amalienhaus zwei vorzügliche Herbergen, die mit Dienstmädchenschulen verbunden sind!“

Ja gewiß, die Anstalten verdienen alles Lob und haben lange segensreich gewirkt, aber sie leiden unter einem Fehler: sie liegen zu weit von allen Bahnhöfen entfernt. Ein fremd ankommendes Mädchen muß sich den langen Weg mühsam erfragen; die Meisten wissen ihnen gar keinen Bescheid zu geben. Auf diese Weise sind schon Viele in ganz andere und oft sehr schlimme Hände gerathen, oder durften froh sein, wenn sie nur mit dem Verlust ihrer Sachen davonkamen.

Der Verein beschloß nun, im Centrum der Stadt eine dritte Herberge einzurichten, sobald die Mittel dazu vorhanden sein würden. Aber die schlimme Geldfrage! Sie hat auch dem Vorstande manche sorgenvolle Stunde bereitet. Endlich ergab die vom Ober-Präsidium der Provinz Brandenburg bewilligte Hauskollekte die nöthige Summe, um mit der Ausführung beginnen zu können. – Nun kam die zweite Zeit der Noth: Wer vom Vorstande hatte die Aufopferung und die Fähigkeit, sich vorläufig ganz dem Unternehmen zu widmen?

Aber auch hier wurde Rath; ein Vorstandsmitglied, der frühere Fabrikbesitzer Reischel, der neben praktischer Erfahrung eine begeisterte Hingabe für die Arbeiten des Vereins besitzt, nahm die Sache nun ganz in die Hand. Nach langem vergeblichen Suchen, eine passende Lokalität zu finden, wurde im Stadtbahnhof „Börse“, im Centrum der Stadt, ein großes, nicht gebrauchtes Wartezimmer nebst den zwei daran stoßenden Stadtbahnbögen gemiethet, welche letztere allerdings ganz für die in Aussicht genommene Herberge eingerichtet werden mußten. – Der große Bogen gab einen hohen geräumigen Schlafsaal, in dem 30 gute, neue Betten aufgestellt wurden. Ein abgetheilter Raum darin bildet das Schlafzimmerchen der Hausmutter. Der kleine Stadtbahnbogen enthält Küche, Waschraum und Gepäckkammer.

Am Tage müssen sich die Mädchen, nachdem sie ihr Bett ordentlich gemacht und sich angezogen haben, im großen Wartezimmer aufhalten, wo ihnen Gelegenheit zu Handarbeiten gegeben ist und wo sie auch immer etwas passende Lektüre finden.

Für das Quartier zahlen die Mädchen pro Tag 25 Pfennig, für Kaffee nebst zwei Brötchen 10 Pfennig, für Mittagessen 15 Pfennig etc.

So gering diese Preise auch gestellt sind, so kommen doch sehr oft Mädchen an, denen nach Zahlung des Eisenbahnfahrgeldes auch nicht ein Pfennig in der Kasse geblieben ist. In solchen Fällen erfüllt das Haus recht eigentlich seine Aufgabe, indem es solchen Hilflosen Wohnung, Nahrung und Schutz gewährt! Selbstverständlich ist ein Stellenvermittelungsbureau damit verbunden, in welchem sich bis jetzt fast auf jedes Mädchen 10 Herrschaften gemeldet haben. Somit findet die Mehrzahl der Passanten leicht einen Dienst und ist im Stande, die erwachsenen Kosten sogleich zu decken.

Welches Bedürfniß eine solche Herberge war, beweist wohl am besten der Zudrang, denn es haben in den ersten dreiviertel Jahren seit der Eröffnung „schon über 1000 Mädchen Quartier und Stellen gefunden“.

Da nun bei den obengenannten Preisen gerade nur die Kosten gedeckt werden, so ist es leicht begreiflich, daß durch die Kömpletirung der ganzen Einrichtung – es müssen nothwendig noch 12 Betten angeschafft werden – der Verein in sehr bedrängten finanziellen Verhältnissen ist, zu deren Erleichterung beizutragen vielleicht irgend ein edler Menschenfreund sich veranlaßt fühlt. Wenn ich aus den vielen Fällen nur zwei herausgreife und dieselben wahrheitsgetreu erzähle, so mag daraus erhellen, was in dem großen Treiben der Hauptstadt vor sich geht und welchen Gefahren ein Unkundiger und Unbemittelter trotz unserer trefflichen Polizei doch immer noch ausgesetzt ist.

Ein polnisches Mädchen, das kaum einige deutsche Worte sprechen kann, kommt vorigen Sommer mit ihrem Bündelchen nach Berlin, um sich einen Dienst zu suchen. Wenige Nickelstücke sind nur noch in ihrer Tasche. So tritt sie aus dem Bahnhof, sich verwundert umschauend. Ein Droschkenkutscher fragt sie, ob sie fahren wolle, und sie nimmt erfreut das vermeintlich gütige Anerbieten des fremden Herrn an und steigt ein. Auf die Frage des Kutschers, wohin sie wolle, antwortete sie: „In Stadt fahren.“ Die Droschke wird also gerade in die Stadt hineingelenkt. Als die Insassin aber auch hier keinen näheren Bestimmungsort angehen kann, wird es dem braven Rosselenker doch etwas unheimlich, er ersucht das Mädchen auszusteigen und seine Tour zu bezahlen. So schnell versteht man sich aber gegenseitig nicht. Während der [234] Unterhandlung tritt ein menschenfreundlicher Briefträger heran und räth der Polin, der allmählich ein Verständniß über die Hilflosigkeit ihrer Lage aufgeht, das nahe Mägdehaus aufzusuchen, dann wäre sie gut aufgehoben. Und so geschieht es.

Und da steht sie nun, verlegen den Fußboden betrachtend, so bestäubt, daß ihre Gesichtsfarbe nicht zu erkennen ist. Der matte Blick scheint Hunger und Erschöpfung anzudeuten. Der erwähnte Herr Reischel, dessen Interesse bei der Arbeit gewachsen ist, sodaß er bis heute nicht nur die Oberleitung des Ganzen, sondern auch die Stellenvermittelung übernommeu hat, betrachtet sie aufmerksam und erkennt sofort die Situation.

„Bringen Sie das Mädcheu in den Waschraum, und wenn sie gesäubert ist, geben Sie ihr Kaffee und Brot!“ beordert er die Hausmutter.

Das Wort Kaffee scheint der Polin ein bekannter und lieber Trunk zu sein. Ein Freudenschimmer fliegt über ihr Gesicht und schnell thut sie, was ihr geheißen. Nachdem sie, nun gestärkt und mit sauberem Antlitz wieder erscheint, wird sie nach ihren Legitimationspapieren gefragt. Sie hat keine. Wo ist sie ortsangehörig? Sie kann gar nicht begreifen was damit gemeint ist.

„Nun, das werden wir schließlich auch noch herausbringen,“ meint der Vorsteher. Ist er doch schon gewohnt, für die Mädchen mit den Ortsbehörden zu verhandeln und nach endlosem Hin und Her seinen Zweck zu erreichen.

Unsere Polin findet bereits am andern Tage einen passenden Dienst, bezahlt ihre Schulden von dem Miethsthaler, und da sie ein kräftiges, fleißiges Mädchen ist, so findet sie ihr Brot, wie tausend Andere.

Ein zweiter Fall. Eine große, stattliche Münchnerin kommt Ende Juni vorigen Jahres nach Berlin, gleichfalls fremd, gleichfalls eine Stelle suchend. Als sie auf dem Bahnhofe umherschaut, wo sie wohl ihr Gepäck findet, gedenkt sie ihres Portemonnaies, das sie unvorsichtiger Weise in der Regenmanteltasche gehabt hat. Sie will es in die Hand nehmen, – es ist fort! – Ohne einen Pfennig steht sie nun da. Glücklicher Weise hat sie noch ihren Gepäckschein. Sie bekommt ihr Packet ausgeliefert und tritt nun äußerst bedrückt auf die Straße hinaus, als es gerade zu regnen beginnt. Zagend geht sie einige Schritte, als ein anständig gekleideter Herr mit einem Schirm an sie herantritt. Er fragt, ob sie hier fremd sei, ob er sie beschirmen dürfe und ihr sonst helfen könne?

Dem armen Mädchen erscheint es sehr tröstlich, daß sich Jemand ihrer annimmt; sie klagt ihr Leid, der Herr bedauert sie und verspricht, für ein Unterkommen zu sorgen, wenn sie ihm folgen wolle. Arglos geht sie mit. Nach wenigen Minuten tritt ein Mann rasch auf den Begleiter des Mädchens zu und ruft ihm barsch und drohend entgegen:

„Wie kommen Sie zu dem Mädchen? Wollen Sie mal gleich Ihrer Wege gehen und das Mädchen allein lassen!“

Eiligst entfernt sich der Beschützer; zitternd und aufs Höchste geängstigt steht unsere Münchnerin nun da, als der Neuankömmling erklärend sagt:

„Ich bin Kriminalbeamter, und jener Mensch ist einer unserer gefährlichsten Bauernfänger. Wie kommen Sie zu ihm?“

Weinend wird nun auch ihm das Leid geklagt, und der brave Polizist meint:

„Seien Sie froh, daß ich gerade des Wegs kam, sonst wären Sie verloren gewesen.“

Was nun beginnen in der großen, so gefährlichen Stadt?

„Gehen Sie ins Mägdehaus; man wird sich dort schon Ihrer annehmen,“ räth der Wächter der öffentlichen Ordnung freundlich. Und so geschah es denn auch. Das Mädchen merkte bald, daß sie dort von wohlmeinenden ehrlichen Leuten umgeben war, und söhnte sich schnell mit dem argen Berlin aus, als sie in kurzer Zeit einen Dienst erhielt.

Diese beiden Beispiele unter vielen ähnlichen mögen erläutern, wodurch das Mägdehaus sich von anderen gewöhnlichen Herbergen unterscheidet. Seine rothen Warnungstafeln auf vielen nord- und mitteldeutschen Bahnhöfen und in den Waggons vierter Klasse führen immer neue Gäste herbei. Möchte sich auch in gleichem Maße die Gunst und thätige Theilnahme der Edeldenkenden und Wohlhabenden einem Verein zuwenden, der so patriotische und ideale Zwecke verfolgt, wie der „Verein zur Hebung der öffentlichen Sicherheit“, dessen Vorsitzender, Dr. Otto von Leixner in Berlin, zur Empfangnahme von Spenden wie zu jeder Auskunftsertheilung bereit ist.