Zum sechszigjährigen Professoren-Jubiläum Leopold von Ranke’s

Textdaten
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Autor: Max Lenz
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Titel: Zum sechszigjährigen Professoren-Jubiläum Leopold von Ranke’s
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aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 227–232
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Zum sechszigjährigen Professoren-Jubiläum Leopold von Ranke’s.

„Den Sand der Wüste treibt der Sturmwind dahin und dorthin;
das Gebirge läßt er wohl stehen.“
 Histor.-polit. Zeitschrift 1, 824.

Am 31. März sind es sechszig Jahre, daß Leopold von Ranke Professor ist. Nicht viel länger ist es her, seitdem er sein erstes Buch geschrieben hat. Bis dahin war er ein der gelehrten Welt so gut wie unbekannter Gymnasiallehrer zu Frankfurt an der Oder. Hier hatte er jenes Werk aus der sonst nicht benutzten Bibliothek eines Professor Westermann herausgearbeitet; ohne Honorar zu empfangen, hatte er es Georg Reimer zum Druck übergeben. Das Buch verschaffte ihm alsbald Namen und Stellung. Wenige Monate später ward er als außerordentlicher Professor der Geschichte nach Berlin berufen, in den Kreis der Savigny und Hegel, an die Universität, welche, wie er selbst rückblickend gesagt hat, „noch unmittelbar in jenem Geiste, in welchem sie gestiftet worden war, lebte, in der Vereinigung der preußischen Strenge und Zucht mit der Vielseitigkeit und Tiefe der deutschen Nation“: in dem Kampf der beiden Parteien, welche damals in allen Disciplinen mit einander rangen, der philosophischen und historischen, hat er seitdem zwei Menschenalter hindurch als Vorkämpfer der historischen Richtung für die politische Historie hier im Centrum der deutschen Wissenschaft und Staatsidee gewirkt. Entfernte er sich von Berlin, so geschah es fast immer, um neue [228] Schätze aus den Archiven der Staaten, deren Leben er erforschte, zusammenzutragen. Jetzt aber, in einem Alter, wo er das Ziel, welches der Psalmist setzt, längst überschritten hat, lebt er ganz daheim unter seinen Büchern, in der Wohnung, die seit Jahrzehnten seine Arbeitsstätte war, in immer gleich geregelter und unermüdlicher Thätigkeit, zurückgezogen von dem Getriebe der Welt, dem er doch mit freier und lebendiger Aufmerksamkeit folgt – und unter dem Blicke des Greises entrollen sich noch einmal die allgemeinen Geschicke: aus den echtesten Quellen schöpfend, durchschreitet er mit jugendlicher Kraft, ja mit stürmischem Eifer den Kreis der Nationen, in deren „lebendiger Gesammtheit“ die Geschichte der Menschheit erscheint.

Alle Welt spricht davon, daß Leopold Ranke die moderne historische Methode ausgebildet oder doch wenigstens auf die mittlere und neuere Geschichte übertragen habe; drei Generationen deutscher Forscher nennen ihn darin ihren Meister. Er selbst aber ist nicht in dieser historischen Methode groß geworden: Historiker von Fach ward er erst mit dem Buch, in dem er die Bahnen seiner Lebensarbeit und die nicht zu vertilgenden Grundlinien der deutschen Geschichtswissenschaft gezogen hat. Weltgeschichtlich allerdings waren die Ereignisse, welche die Jahre seiner Ausbildung begleiteten. Geboren in der Zeit, wo das vulkanische Feuer, welches den morschen Staatsbau des alten Frankreichs verzehrt hatte, in furchtbaren Ausbrüchen über die Grenzen hinwegschritt (zu Wiehe im Unstrutthal am 21. December 1795), erlebte er elf Jahre später, wie die revolutionäre Lava seine thüringische Heimath erreichte: die Donner der Schlacht von Jena dröhnten aus der Ferne dumpf an das Ohr des Knaben; er sah die Fliehenden, die Verwundeten, wie sie in dem Hause der Eltern kurze Rast und Erquickung fanden, und wie dann die übermüthigen Sieger raubend den friedlichen Ort durchzogen.

Leopold von Ranke.
Nach einer im Besitz des Jubilars befindlichen Photographie.

Als der Vater ihn auf die Schule nach Pforta brachte, stand Napoleon auf dem Gipfel seiner Macht; und eben war die Uebermacht des Gewaltigen auf den Feldern von Leipzig zerbrochen worden, als der Jüngling in derselben Stadt wieder von dem Vater bei seinen Universitätslehrern eingeführt wurde. Hier studirte er, während auf den Schlachtfeldern jenseit des Rheins wie durch die Verhandlungen von Wien und Paris die Karte Europas umgestaltet wurde, und mußte zusehen, wie sein Heimathland von Sachsen losgerissen und Preußen zuertheilt ward; und er hatte kaum seine Studien beendigt, als die vaterländische Romantik der deutschen Bursche sich in dem Enthusiasmus des Wartburgfestes Luft machte.

Doch dürfte man nicht glauben, daß Ranke durch die elementaren Kräfte, welche in dieser Epoche zum Durchbruch kamen und von denen jene Feier ein weithin wirkender Nachhall war, unmittelbar gepackt und beeinflußt wäre. Friedlichere Geister haben sein Leben gestaltet. In den patriarchalisch engen Verhältnissen eines kursächsischen Landstädtchens wuchs er auf. Einige Edelleute, die Officiere einer Husarenschwadron, die Pfarrer und wenige Beamte, dazu etwa noch Rektor und Apotheker, das waren die Honoratioren des Ortes. Zu ihnen gehörte Gottlob Israel Ranke, der als Anwalt und Gerichtsdirektor dreier adliger Familien wirkte. Noch steht das Wohnhaus, nahe der Stadtmauer, dort wo die Rankengasse sich zum Riesbach hinabsenkt, an dessen umbuschten Ufern in den Frühlingsnächten ein Heer von Nachtigallen schlägt. Ein stattliches Anwesen, mit Hof und Garten, Stall und Scheuer; denn zu ihm gehörte ein Landgütchen, das noch heute im Besitz des Gefeierten ist, der „Berg“, welches der Vater durch seinen Knecht, den treuen Dietsch, bewirthschaften ließ. Der Geist der Arbeit und Pflichttreue, des Frohsinns, der Wahrhaftigkeit waltete in dem Hause. Der Ernst des Vaters, die Milde der Mutter begegneten sich in der gleichen Liebe zu den aufblühenden Kindern.

Ein sonniger Glanz des Glückes, selten vom Kummer getrübt, lag über diesen Jahren im Elternhause gebreitet. Lebendige Religiosität, in den alten strengen Formen erhalten und genährt, durchdrang das Ganze. Mit ungemeiner Sorgfalt widmete sich der Vater der Erziehung seiner Knaben; staunend bemerkte er die Begabung und Schwungkraft des Erstgeborenen, den selbständigen Sinn, mit dem dieser das Heilsame und Rechte erkannte. Früh gab er ihn aus dem Hause. Zunächst nach Kloster-Donndorf, das nur eine Stunde weit auf einer Höhe vor dem Walde liegt. Oft noch sah Leopold hier die Seinen. Wenn er dann dem Bruder Heinrich auf dem Heimwege das Geleite gab, erzählte er [230] ihm wohl mit wundervoller Lebendigkeit von den Geschichten des trojanischen Krieges, die er in der Klasse gelernt hatte: der hellenischen Vorwelt „silberne Gestalten“ umfingen da die jugendlichen Seelen. Doch auch die Geister einer großen nationalen Vergangenheit weben über den frischen Wiesen, den wogenden Kornfeldern der Güldenen Aue, über dem raschen tiefen Strom, der sie durchzieht, über den prächtigen Laubwäldern, die das Gelände ihrer Berge krönen: sie umschwebten den Knaben, wenn er auf oder, wie man dort sagt, in dem „Berge“ stand (denn es war ehemals ein Weinberg), unter dem uralten Birnbaum, der seit tausend Jahren, hieß es, seitdem die christliche Gesittung hier gepflanzt ward, seine schweren Fruchtzweige über diesen Abhang breitete. Das sind die Gefilde, die Wälder, wo nach der Ueberlieferung König Heinrich der Sachse am liebsten geweilt und gejagt hat. Flußaufwärts sucht das Auge jenes Ritteburg, auf dessen Feldern wohl der König die Magyaren schlug; dort im Pfarrhause hat die Wiege von Ranke’s Vater gestanden. Weiterhin, in mäßiger Entfernung, wölbt sich der thurmgekrönte Gipfel des Kyffhäuser. Im Osten aber, eine gute Stunde unterhalb Wiehe, erinnert wieder Memlebens schöne Ruine an die Todesstunde des Sachsenkönigs. Die Schatten des Begründers unseres alten Reiches und seines glänzendsten Helden walten über diesem Thale.

Auch auf der Pforte umgaben den Knaben, der hier zum Jüngling heranreifte, die begrenzten Verhältnisse des heimathlichen Lebens. Die Anstalt zeigte noch ganz den Charakter, der ihr eingepflanzt war, humanistischer Schulung und konfessionell gebundener Religiosität: die Lehrer, an ihrer Spitze der gestrenge Rektor Ilgen, sämmtlich Theologen und gewiegte Lateiner; einer unter ihnen trug gar noch Zopf und Perücke: Hausordnung und Unterricht in klösterlicher Gemeinsamkeit straff geregelt. Aber in den engen Formen pulsirte doch wieder jugendlich frisches Leben, gezügelt nur durch die pflichtstrengen Vorschriften, angespornt durch die wetteifernde Gemeinschaft des Umgangs und der Arbeit, und durch das eifrigste Studium des klassischen Alterthums mit Idealität und Schönheitssinn erfüllt. Die großen Weltbegebenheiten berührten freilich nur mit leichtem Wellenschlage die klösterlichen Mauern. Selbst als der sächsische Boden unter den ersten Schlägen der großen Erhebung erdröhnte und der Sturm hart an der Gemarkung des Klosters vorüberzog, konnten sich die Jünglinge schwer von dem inneren Widerstreit lösen, in den sie die Haltung ihres Landesherrn bringen mußte, der auch damals noch sein Geschick mit dem Napoleon’s verknüpft hatte. Erst die Leipziger Schlacht nahm von den jugendlichen Gemüthern den Bann, unter dem ihr nationales Empfinden gehalten war.

So wirkte denn auch auf der Universität vor allem der Geist des Alterthums auf Ranke ein. Hatte er aber in Pforta sich besonders mit den griechischen Tragikern beschäftigt, so zog ihn in Leipzig unter Gottfried Hermann’s Leitung vornehmlich Thukydides an. Es war, wie er sagt, der erste große Historiker, durch den er in der Tiefe ergriffen wurde; mit äußerstem Fleiße habe er in seiner kleinen Stube in der Hainstraße sich der Lektüre desselben hingegeben. Nächst ihm habe er Niebuhr’s Schriften mit nicht geringerem Eifer zu studiren begonnen. Eine andere Richtung habe ihn bald darauf zu den Werken Luther’s geführt, durch die er keinen geringen Impuls erhalten habe. Der antike und der zeitgenössische, kritische Historiker also, welche mit staatsmännischem Blick und in einer klassischen Form die Geschichte von Hellas und von Rom schrieben, und Thüringens größter Sohn, der deutsche Reformator, der auf dem ewigen Grunde des Evangelium die Scheidung des Weltlichen und Geistlichen vollzog, „der das große Gespräch begann, das die seitdem verflossenen Jahrhunderte daher auf dem deutschen Boden stattgefunden hat“ – das sind die drei Geister, denen Ranke die Grundelemente verdankt, aus denen sich seine historischen Studien auferbaut haben. Nach ihnen nennt er als Vierten Fichte, den sittlich-kühnen Denker, dessen religiös-ethische und national-politische Ideen, wie sie an Luther erinnern, so auch mit Ranke’s Auffassung sich innerlich nah berühren.

Wie hätte aber Ranke, von diesen Heroen der Klarheit und der Kraft geleitet, sich in den phantastischen Nebeln der Romantik verlieren mögen, welche damals Kunst und Leben, Litteratur und Politik mit strebender Unruhe erfüllte! Daß er sie begriffen hat, dafür zeugen seine Werke; Niemand hat ihren Geist in Vergangenheit und Gegenwart wärmer, glänzender, wahrer geschildert. Aber sie vermochte ihn nicht mehr zu übermannen. Da sie in der Vollkraft ihrer berauschenden Blüthe stand, trat er ihr klaren Auges, mit der überlegenen Objektivität des Historikers entgegen. Gerade in den Jahren ihrer Herrschaft, eben in Frankfurt schrieb er jenes erste Werk, welches in Kritik und Auffassung bereits den vollen Stempel seines Geistes trägt, die „Geschichte der romanischen und germanischen Völker“.

In dem Titel ist schon der Grundbegriff, in dem alle Werke Ranke’s gedacht sind: die Einheit der romanischen und germanischen Nationen, im Gegensatz zu den bisher vorherrschenden Anschauungen einer allgemeinen Christenheit, der Einheit Europas, endlich auch der analogsten einer lateinischen Christenheit; denn zu dieser gehören auch slavische, lettische, magyarische Stämme, welche eine eigenthümliche und besondere Natur haben. In der Völkerwanderung ward jene Einheit begründet, in dem Zusammentreffen der nationalen, staatlichen und kirchlichen Kräfte, welche auf dem Boden des westlichen, des lateinischen Imperium lebten. In dem Kreise dieser Völker wuchs fort, was sich von den Kulturelementen der alten Welt durch jene Jahrhunderte der Stürme hindurch gerettet hatte; sie haben in der päpstlichen und der kaiserlichen Gewalt, in ihren kirchlich-politischen Kolonisationen, in allen Formen ihrer staatlichen, geselligen und kirchlichen Organisation, in allen Aeußerungen ihres künstlerischen und litterarischen Geistes gemeinsam die mittleren Jahrhunderte erfüllt und gestaltet. Die fremden Nationen an den Grenzen werden abgewehrt oder unterworfen und assimilirt, aber auch dann sind sie nur nebengeordnete, dienende Glieder: Träger der welthistorischen Entwickelung bleiben die sechs Nationalitäten, in welchen die romanischen und germanischen Elemente unter dem Vorwalten des einen oder des andern gemischt sind, eine in Kampf und Verkehr unablässig bewegte, hin- und herfluthende, schließlich doch fortschreitende Gemeinschaft. Indem Ranke in der Einleitung jenes Buches diese Einheit durch die Geschichte des Mittelalters hin verfolgte, faßte er als besondere Aufgabe nur die Epoche ihrer Zertrennung ins Auge, welche das neue Weltalter bedingte: die Ausbildung des spanisch-habsburgischen und des französischen Machtsystems sowie die Spaltung durch die Reformation war das Thema; der erste Gang dieser Entwicklung, bis 1535, sollte betrachtet werden; was zunächst erschien, umschloß die 20 Jahre von 1494 bis 1514, „gleichsam den Vordergrund der neueren Geschichte“.

Das Buch blieb in dieser Form Fragment und hat daher in dem Kreise der Ranke’schen Werke eine Stellung für sich. In Kraft und Fülle der Anschauung, in der lebensvollen Darstellung steht es einzig da; eine Gestalt z. B. wie Savonarola ist mit einer Schärfe der Linien und einer Leuchtkraft der Farben geschildert, welche unmittelbar an den künstlerischen Konfrater des feurigen Prädikanten, an Fra Bartolomeo erinnert. Doch fehlt es nicht in Sprache und Gruppirung an Elementen der Gährung, welche besonders durch die litterarischen Vorbilder und die Materialien der Forschung bedingt waren; mit deren Erweiterung, mit der wachsenden Erkenntniß mußten sie sich abklären; der Grundbegriff selbst gestaltete sich unter dem vergrößerten Gesichtskreise umfassender. Den Uebergang bemerken wir nach Form und Inhalt in dem zweiten Buch, „Die Osmanen und die spanische Monarchie im 16. und 17. Jahrhundert“, das als erste Abtheilung eines umfassenderen Werkes, „Fürsten und Völker von Südeuropa“ in der gleichen Epoche, 1827 zur Ausgabe kam; wie es denn auch bereits aus archivalischen Quellen geschöpft ist. Die „Geschichte der Päpste“ sodann, noch als Ausführung jenes Gesammttitels gedacht, nach der Rückkehr von der epochemachenden italienischen Reise (1831) vollendet, zeigt das volle Gepräge der Meisterschaft. Staunend bemerken wir, daß Ranke in dieser Höhezeit seines Schaffens, in den Jahren, wo er die „Historisch-politische Zeitschrift“ herausgab (1832 bis 1836), seine Lebensarbeit in ihrem vollen Umfange erfaßt und vorgezeichnet hat.

Das Fragment über die „großen Mächte“, welches den zweiten Band jenes Unternehmens eröffnete, enthält, wenn wir von der Weltgeschichte absehen, über deren Vollendung ein wahrhaft göttliches Geschick zu wachen scheint, das Programm aller späteren Werke, ja mehr als dies, einzelne Gedanken darin harren noch heute der Ausführung. In Verbindung gebracht mit den Grundlinien der früheren Arbeiten, steht in diesem Aufsatz die Entwickelung der europäischen Großmächte, des Systems und [231] seiner Glieder, so wie Ranke es später ausgeführt hat, in voller Deutlichkeit vor Augen: das Frankreich Ludwig’s XIV., katholisch und national, monarchisch centralisirt und doch feudalistisch geartet, uniform und stets doch voller Gährung, nach Glanz und Herrschaft begierig; ihm gegenüber das protestantisch-nationale, germannisch-maritime England in dem gewaltigen Ringen seiner beiden aristokratischen Parteien, die doch immer einen durch das nationale Interesse und die populäre Tendenz bestimmten, legal umschriebenen Kreis innehalten, in deren politischem Wettstreite erst der Strom der englischen Nationalkraft weltgestaltend hervortritt; Oesterreich sodann, wirthschaftlich und national so vielgestaltig und doch religiös wie politisch so stabil, katholisch-deutsch, wohlbewaffnet, voll unversiegbarer Lebenskräfte; Rußland, wie eine Naturgewalt plötzlich und furchtbar sich erhebend: die griechisch-slavische Macht, jetzt erst europäisch; Preußen endlich, in dem die deutsch-protestantischen Ueberlieferungen einen späten Anhalt und Ausdruck fanden, nachdem Schweden zusammengebrochen war. Wir lesen da bereits, was alle folgenden Bände ausführlich beweisen, wie modern diese vier letzten Mächte sind, nicht blos der Staat Peter’s des Großen und die norddeutsche Großmacht, sondern auch das parlamentarische Großbritannien und die scheinbar älteste, legitimste Monarchie, das erst durch die Eroberung Ungarns konstituirte Oesterreich: ihre Ausbildung ist die Summe der hundert Jahre von der „glorreichen“ bis zum Ausbruch der großen Revolution, das Resultat die Verdrängung Frankreichs von der Stellung, die es bis 1688 errungen hatte. Und unter dem Einfluß dieser Kraftgruppirung zeigen nun auch die Litteraturen, die religiösen und philosophischen Systeme, die rechtlichen und politischen Theorien, die ganze Sitten- und Empfindungswelt, alles, was man Kultur des 18. Jahrhunderts nennt, ihre zersetzenden wie ihre positiven Tendenzen! Ausführungen, welche aber keineswegs in so blassen Linien der Abstraktion gegeben werden, sondern mit der Fülle des Details, plastischer Anschauung, schärfster persönlicher Zeichnung. Auch über die Revolutionsepoche selbst ergreift Ranke das Wort; und was er in seinen späteren Werken darüber ausgeführt hat, originale bahnbrechende Gedanken, über den explosiven Charakter der Bewegung, die Nothwendigkeit ihres Kampfes mit den umgebenden Mächten, des Zusammenbruches der mechanisirten Staatsgebilde des Kontinentes unter dem Stoß jener eisernen, in vulkanischen Gluthen geschmiedeten Gewalt – das Alles stellt er hier auf wenigen Seiten augenscheinlich dar. Die Stärke Frankreichs beruhte in der nationalen Einheit, in der Centralisation aller Kräfte, die es in der Zertrümmerung selbst durchführte. So konnte es für Europa – und damit tritt die Abhandlung schließlich in unser eigenes Jahrhundert – keine Rettung geben, ehe es „dieser Forderung der Weltgeschicke Genüge zu leisten, die schlummernden Geister der Nationen zu selbstbewußter Thätigkeit aufzuwecken begann“. Das ist die Aufgabe, in deren Lösung wir noch begriffen sind.

Kein Historiker, kein Politiker auch sollte es versäumen, diese Abhandlung, und zugleich die letzte jenes Bandes, das „Politische Gespräch“, wieder und wieder zu lesen. Beide enthalten die Summe der neueren Geschichte und damit auch die Grundlage, auf der alle Politik sich bewegen wird. Alles aber ruht auf dem obersten Begriff der romanisch-germanischen Nationen und der Verkörperung ihres Wesens in dem System ihrer Staaten.

Gerade daß Ranke als Staatsmann schreibt, hat man ihm gern zum Vorwurf gemacht. Daraus leite sich sein Talent ab in der Entwirrung diplomatischer Truggewebe, überhaupt die Meisterschaft in der Behandlung aller auswärtigen Politik, aber auch ein Mangel an Verständniß populärer Strömungen, der inneren Entwickelung, Empfindungskälte gegenüber den sittlichen Forderungen, welche der strebende, reifende, fortschreitende Volksgeist an die Regierung stelle: Vorwürfe, welche, wie man sieht, dem Begriff des Staates den der Regierung unterstellen und dann einen Unterschied konstruiren zwischen Staat und Volk, Regierung und Regierte jedoch einander so entgegen setzen, daß diese als die Regulatoren der ersteren in Bezug auf die sittlichen Ziele und Mittel des staatlichen Lebens erscheinen. Das aber ist nicht, was Ranke meint. So wenig wie allerdings nach seiner politischen Ueberzeugung die Regierung eine leere Form, der kraftlose „Indifferenzpunkt“ im Gewoge der Parteien und ihrer Theorien sein soll, sondern eine lebenerfüllte Macht, „eine Wesenheit, ein Selbst“, eben so wenig ist ihm der Staat ein von der Nationalität lösbares Gebilde, Produkt allgemeiner Theorien, hergeleitet aus der philosophirenden Konstruktion eines Vertrages, sondern ein Lebendiges, Innerlich-Wachsendes, eine machtvolle Gemeinschaft, „moralische Energie“, enger gemeinhin als die Nation, aber ruhend auf ihrem Grunde, so lange noch Leben darin ist. Wie sollte eine solche Individualität nicht auch nach äußerer Entfaltung streben! Da aber begegnet sie im ganzen Umkreis anderen Gebilden, analog und doch wieder eigenthümlich geartet, Modifikationen der Nationalität, lebensvoll, strebend wie sie selbst. So müssen denn alle mit einander ringen. „Denn der Kampf,“ sagt ‚Heraklit‘ „ist der Vater aller Dinge.“ Dennoch aber bleiben sie eben in ihm, in Aktion und Reaktion eine lebendige Gemeinschaft. Denn sie stehen gemeinsam unter den Abwandlungen der großen Verhältnisse, als ein Abglanz des Ewigen überschattet von dem gewaltigen Schicksal, das in ihrem Dasein an dem lebendigen Kleide der Gottheit wirkt.

Wenn Ranke vornehmlich die auswärtige Politik ergründet hat, so ist auch das nur wieder eine Folge seiner Fragestellung: das erste Ziel mußte auf die Entwickelung des Systems, also auf den Zusammenhang und Kampf seiner Glieder gerichtet sein. Gerade darin offenbart sich am deutlichsten, wie sehr innere und äußere Entwickelung sich bedingen; niemals aber begreift unser Historiker die auswärtige Politik eines Staates anders, als seine Kraftentwickelung innerhalb seines Umkreises.

Man redet so oft von Ranke’s Objektivität. Diese besteht eben in jener Auffassung vom Staate und ist nur eine andere Form seines Forschungsprincipes, das, wenn man es auf seinen Grund prüft, die mit philosophischem und religiösem Tiefsinn erfüllte, freiheitliche, universale, das heißt wissenschaftliche Anschauung der historischen Erscheinungen sein will. Diese zu sehen und zu schildern ist die Aufgabe: „die Begebenheit selbst in ihrer menschlichen Faßbarkeit, ihrer Einheit, ihrer Fülle.“ Alles hängt von dem obersten Gesetze ab: die sorgfältigste Erforschung des Einzelnen und die kühne, unbeirrte Erfassung des Ganzen; die Würdigung der Grundkräfte wie alle Schätzung der Persönlichkeit; denn „die großen Begebenheiten reißen Gemüth und Handlungsweise gewaltsam sich nach“, nur unter den Schicksalsmächten ihrer Epoche können wir die Individuen begreifen.

Und nun dürfen wir wohl auch nicht mehr von der Theilnahmlosigkeit oder der verstandesmäßigen Technik dieser objektiven Forschung sprechen, die sich in einer gewissen Kälte der Darstellung zeige. Der Schaden wäre schließlich zu ertragen, wenn nur das Princip gewahrt würde: „strenge Darstellung der Thatsachen, wie bedingt und unschön sie sei, ist ohne Zweifel das oberste Gesetz“. Für uns Jüngere übrigens ist ein Mangel an patriotischer Empfindung, wenn wir nur eben das Princip wahren, nicht mehr zu befürchten, nachdem sich die nationalen Gährungen unter der Doppelwirkung wissenschaftlicher Erkenntniß und politischer That im nationalen Staate abgeklärt haben: sie ist die Lebensluft, in der wir athmen; wie sollte sie also nicht auch unsere Versuche, die Vergangenheit neu zu denken, beleben! Nimmermehr aber dürfen wir darum für die Darstellung versäumen, was wir für die Forschung fordern: Beides hängt unlöslich zusammen; gemeinsam erst macht es einen Widerglanz der Weltereignisse möglich. Denn nur eben dies ist unsere Aufgabe, nicht Ausübung des Weltgerichtes, das Gottes ist und jenseit der Geschichte liegt. Wohl aber können wir die „göttlichen Geheimnisse“ ahnend fassen, wenn wir ihre irdische Erscheinung zu erkennen trachten. Mögen wir unsere Seele dafür empfänglich stimmen! Allzuviel nur des Persönlichen wird ja an den Gebilden unserer Erkenntniß haften bleiben, da sie durch unsere Persönlichkeit hindurch gehen. Unsere Seele ist nun einmal der Spiegel, in den die Urgestalten hinein fallen, aus dem sie wiederkehren müssen. So besitze sie also die krystallene Klarheit der Wahrhaftigkeit! Sollten wir aber nicht hoffen dürfen, daß die Bilder um so schärfer, farbiger, beseelter erscheinen werden, je heller ihre Spiegelfläche ist?

Freilich ist die Aufgabe für uns eine andere geworden als für den Begründer unserer Wissenschaft. Er konnte in stürmischer Bewegung die großen Linien ziehen, die Fundamente legen des Bildersaales der Zeiten. Er hat dann auch die Mauern, Pfeiler, Hallen errichtet und eine Fülle des Schmuckes hinzu gethan; an allen Wänden prangen seine Gestalten. Wir können nur weiter daran bauen und schmücken. Zahllos aber sind die Geschlechter, welche über den Erdball dahin gingen, unermeßlich ist die Summe [232] ihres Wollens, ihrer Arbeit, ihres Glückes und ihrer Schmerzen. Soviel davon auch klanglos untergegangen ist, unendlich bleibt immer noch die Fülle des Erkennbaren. Uns mag nun wohl besonders die innere Geschichte der Nationen interessiren, die litterarische, die wirthschaftliche Bewegung und so fort; aber wir wollen nicht wähnen, daß wir von neuen Principien her, jeder etwa für sich, das Weltganze und die Einzelerscheinungen begreifen können, sondern wollen zunächst den Meister verstehen lernen. In dem Maße, als unter uns die Erkenntniß seiner Principien zunimmt, welche nicht die Schablonisirung liberaler oder konservativer Theorien, sondern die Feststellung historischer Kräfte sind und darum eine ewige Dauer haben werden wie Kepler’sche Gesetze, in dem Maße wird auch der Zusammenhang, der Ueberblick und die Gemeinsamkeit der historischen Arbeit wachsen, werden ihre Jünger, wie Ranke an seinem fünfzigjährigen Doktor-Jubiläum sagte; „gewissermaßen eine große Familie bilden, zusammengehalten durch den gemeinsamen Kultus der Wahrhaftigkeit“.

Damals, vor nunmehr achtzehn Jahren,[1] hat der Gefeierte selbst, wie er sich ausdrückte „gewissermaßen als sein historisches Testament“ demuthsvoll das Zukunftsideal deutscher Geschichtschreibung kund gegeben, welches ihm stets vorgeschwebt habe: die Verbindung der nationalen, kraftvoll den Moment erfassenden Historie der uns benachbarten Nationen mit der universal-historischen Betrachtung, die dem deutschen Genius gemäß sei: er blicke wie Moses in das gelobte Land einer zukünftigen deutschen Historiographie, wenn er es auch nicht betreten sollte. Halten wir mit ihm an der Hoffnung fest, daß wir ein noch höheres Ziel vor Augen haben, aber lassen wir von dem Wahn, daß wir es schon etwa gar erreicht hätten oder auf einer anderen Straße erreichen könnten, als die er gebahnt hat. Ist unsere Aussicht und somit Kraft und Wille auch begrenzter, so mögen wir uns damit trösten, daß wir auf dem rechten Wege, „der Wahrheit, die nur eins sein kann“, dahergehen. Max Lenz.