Eine Locke des Königs von Rom

Textdaten
<<< >>>
Autor: Georg Hiltl
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Eine Locke des Königs von Rom
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 631–635
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Napoleon und die Haarlocke seines Sohnes
Napoleon auf St. Helena
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[631]
Eine Locke des Königs von Rom.
Von George Hiltl.


Um die Mitte des Augustmonats des Jahres 1815 waren die officiellen Festlichkeiten, die Soiréen und Bälle der vornehmen Gesellschaft Wiens sehr glänzend und heiter. Der Gefürchtete – der Störer des Friedens und der Behaglichkeit, der Riese von Ajaccio – Napoleon war endlich nach gewaltigem Kampfe unterlegen und über den Ocean hatte ihn das Schiff der Engländer getragen, von dessen Verdeck aus der gestürzte Welterschütterer wehmuthsvoll die Abschiedsworte gerufen hatte: „Adieu, terre des braves! je te salue! Adieu France! Adieu!“

Aengstlich lauschte man auf Nachrichten. Die Kunde von der glücklichen Landung des Northumberland auf St. Helena machte die Aengstlichen noch freier von dem Alp, der auf ihrer Brust gelegen hatte, denn schon fürchtete man, daß unterwegs ein Befreiungsversuch gewagt werde, aber St. Helena schien ein unzugänglicher Kerker – dorthin drang kein kühner Enthusiast, an jenen Basaltfelsen mußten die verwegensten Pläne zur Rettung des Kaisers scheitern.

Dessenungeachtet blieb der gefesselte Napoleon noch immer ein Gegenstand der Furcht, und die Engländer, welche die größte Sorglosigkeit zur Schau trugen, fürchteten ihn am meisten. Jede Vorsichtsmaßregel ward ergriffen. Absperrung des einzigen Landungspunktes, Posten auf jedem Vorsprunge, Kreuzerschiffe und hundert Signalstangen, scharfe Visitation der landenden Schiffe – Alles um einen gefangenen Mann. Außerdem wachte man mit ängstlicher Sorgfalt über die etwaigen Verbindungen, welche Napoleon mit seinen Freunden unterhalten konnte; man ließ auf Sir George Cockburn den Sir Hudson Lowe als Wächter folgen, und zur vollständigen Sicherheit setzte die Convention vom 2. Aug. 1815 noch fest, daß Commissarien der verbündeten Mächte ernannt werden sollten, von denen je einer auf der Insel seinen Wohnsitz zu nehmen habe, um sich zu überzeugen: „daß Napoleon auch wirklich noch vorhanden und nicht etwa von Helena entwichen sei“. Diese Commissarien hatten besonders den gefürchteten Verkehr des Kaisers mit der Heimath zu überwachen, sie sollten Sir Hudson Lowe unterstützen. So glaubte man vollständig sicher zu sein und einen unerschütterlichen Frieden zu genießen, welchen der sorgfältig Bewachte allerdings oft gestört hatte. Oesterreichischer Seits war zu dem Amte eines Commissärs der Baron von Stürmer ausersehen [632] worden, dessen Vater ehemals Internuntius bei der Pforte, dann Regierungscommissär im österreichischen Hauptquartier während des Krieges gewesen war. Herr von Stürmer bereitete sich zu seiner Abreise nach Helena vor.

An einem schönen Herbsttage erschien in den Gängen des Schönbrunner Hofgartens ein Mann von kräftigem, wenn auch feinem Körperbaue. Das offene Gesicht zeugte von dem außerordentlichen Geiste, der unter der gewölbten Stirn wohnen mußte. Das Haar legte sich in kurzen Locken um den Kopf, die Augen blickten heiter, fast lächelnd umher, als wollten sie sagen: „Wir haben schon so ungeheuer viel Großartiges gesehen und erforscht, daß wir alle Ursache haben, heiter in die Welt zu schauen.“ Dieser Mann war Alexander von Humboldt. Der große Gelehrte hatte damals schon seine Reise nach Amerika gemacht, sein Name war bereits ein gefeierter.

Humboldt ging durch die von herrlichen Bäumen und Pflanzen eingefaßten Wege. Er schien Jemanden zu suchen, denn er warf seine Blicke durch die Gebüsche des Gartens, bis er einen Gehülfen ausfindig machte. „Mein Freund,“ rief er, „wo finde ich den Herrn Welle?“ Der Arbeiter lüftete seine Mütze und geleitete Humboldt durch den Park in den botanischen Garten. Hier stand zwischen Beeten, die durch Glasfenster geschützt waren, zwischen kleinen Bäumchen und zartem Gesträuche ein junger Mann, der von dem Eintretenden gar keine Notiz nahm, bis dieser ihm freundlich guten Tag wünschte.

„Herr von Humboldt!“ rief der Angeredete in freudigem Schrecken aus. „Es ist eine wahre Freude für mich, Sie hier zu sehen. Ich fürchtete schon, Sie würden von Wien abreisen, ohne mir noch ein Mal das Glück bereitet zu haben, Sie sehen zu dürfen.“

Der junge Mann ergriff ehrfurchtsvoll die Hand des Gelehrten.

„Mein lieber Welle,“ entgegnete Humboldt bescheiden, „Sie erfreuen und beschämen mich zugleich. Ein so trefflicher, kenntnißreicher Mann, wie Sie es sind, darf nicht übergangen werden. Sie bleiben mir stets eine angenehme Erinnerung. Aber ich komme nicht blos, um Ihnen Lebewohl zu sagen, ich bringe Ihnen ein Geschenk.“

Welle stutzte.

„Rathen Sie nur – es wird vergebliche Mühe sein. Also hören Sie – lassen Sie Ihre Araucarien da unten einen Augenblick unter des Himmels Obhut und passen Sie hier auf. Nach der zwischen den verbündeten Mächten abgeschlossenen Convention hat man dem Baron von Stürmer die Mittheilung gemacht, daß der Kaiser ihn als Commissarius nach St. Helena zu dem gefangenen Napoleon senden werde. Die meisten der bei der Regierung beschäftigten interessirt nur die politische Seite der Mission – mich die wissenschaftliche. Die Insel St. Helena bringt Pflanzen hervor, deren Reichthum und Spielarten noch lange nicht genügend festgestellt und erforscht sind. Ich habe die Gelegenheit wahrgenommen und dem Kaiser den Rath ertheilt, mit dem Herrn von Stürmer einen Mann zu senden, der uns die Flora der Insel genügend zugänglich und bekannt mache – der Kaiser, selbst ein Freund der Botanik, hat keinen Augenblick gezaudert und nach kurzem Berathen ist die Wahl, nach meinem Vorschlage, auf Sie gefallen. Rüsten Sie sich demnach zur Abreise nach Helena.“

Welle stand mit weitgeöffneten Augen vor dem Gelehrten. Die Freude hatte ihn sprachlos gemacht – eine wissenschaftliche Reise – die Gelegenheit, forschen zu dürfen innerhalb eines Terrains, auf welchem noch Wenige Erfahrungen sammeln konnten – die Aussicht, das ferne Eiland anschauen zu können, welches gerade jetzt eine historische Berühmtheit erlangt hatte – das waren köstliche Perspective. Nachdem er eine Zeit lang sich besonnen, ob er nicht träume, machte sich seine Freude in den überschwänglichsten Dankesworten gegen Humboldt Luft.

„Gemach! gemach!“ sagte lächelnd der Gelehrte. „Ihre Tüchtigkeit hat Ihnen zunächst den Weg gebahnt. Wofür hätte man sich der Wissenschaft hingegeben, wenn man ihre Jünger nicht so viel als möglich unterstutzte und förderte? Aber, mon cher, Sie haben nicht allein Ihren Fähigkeiten diese Wahl zu danken, sondern auch Ihrem ruhigen, nur der Wissenschaft sich hingebenden Lebenswandel, der Sie vollständig unfähig macht, der geringsten politischen Intrigue sich zu nähern.“

„Ich verstehe Sie nicht recht,“ entgegnete Welle, den Gelehrten fragend anblickend.

„Die Erklärung ist einfach. Sie wissen, mit welcher Strenge man auf St. Helena den gefangenen Kaiser und seine Umgebung hütet – bewacht. Jeder noch so unbedeutende Brief muß gelesen werden, bevor der Kaiser ihn erhält, kein Paket würde uneröffnet das Thor von Longwood passiren. Die Begleitung des Barons von Stürmer besteht aus lauter kieselharten Diplomaten und was dazu gehört – dem Gelehrten, dem weichen, für die Schönheit der Natur empfänglichen Gemüthe ist weniger zu trauen, man mußte einen Mann wählen, der so ganz wie Sie von seiner Sache eingenommen ist und seine Hand zu keinem noch so unbedeutenden Dienste für den berühmten Gefangenen leihen würde, denn die Partei Napoleon’s benutzt emsig Jeden, dessen sie habhaft werden kann. Es ist rührend – in der That – wie sie darauf bedacht sind, dem gefangenen Giganten Freude zu bereiten, ihn, wenn auch nur einige Minuten lang, das herbe Loos vergessen zu machen. Andererseits ist es ebenso betrübend, wahrzunehmen, daß die Wächter des Kaisers stets Intriguen hinter solchen Harmlosigkeiten wittern.“

„Ich bin in dieser Hinsicht der beste Mann,“ rief Welle, „ich verstehe mich auf nichts dergleichen. Wie sollte ich auch dazu kommen? Sie können mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß die ganze ungeheuerliche Zeit an mir vorüberging wie ein Traumbild. Aus diesem Halbschlummer weckte mich der Kanonendonner, der mich von meinen Herbarien fortscheuchte – freilich – wer sollte den gefallenen Kaiser nicht bewundern? Der Einwirkung, die eine solche Größe auf alle Menschen ausübt, entzieht sich Niemand, er stehe wie und wo er wolle. Habe ich mir doch erzählen lassen, daß König Friedrich Wilhelm von Preußen die Büste seines Erzfeindes auf seinem Schreibtische stehen hat. Trotz der Feindschaft erkennt der König die Größe seines Gegners gerechtermaßen an.“

„Also – keine Intriguen,“ lachte Humboldt, „Sie scheinen mir in der That ein wenig Napoleonist. Kommen Sie zu Herrn Boos. Wir setzen ihn in Kenntniß.“

Herr Boos war der Oberinspector und Director der Schönbrunner Gärten, unter ihm arbeitete Welle als erster Gehülfe. Boos war sehr erfreut über das Glück seines Zöglings und machte einen seltsamen, fast triumphirenden Blick, als er die Kunde vernahm. –

Einige Wochen später sehen wir Welle zur Abreise mit dem Baron Stürmer gerüstet in das Zimmer seines Vorgesetzten treten. Nachdem die letzten Abschiedsworte gefallen sind, hält Boos den jungen Mann zurück.

„Mein Freund,“ sagte er leise, „Sie gehen nach St. Helena. Sie wissen, daß ich Ihrer neuen Stellung förderlich war, daß ich mich keinen Augenblick dem Vorschreiten widersetzte. Ich fordere dafür einen kleinen Gegendienst.“

„Sprechen Sie, welchen? Ich schätze mich glücklich,“ rief Welle, „was soll ich thun?“

Obwohl in seinem eigenen Zimmer stehend, sah Boos sich dennoch vorsichtig um, dann zog er schnell aus seiner Rocktaschen ein kleines Paket.

„Wenn Sie nach St. Helena kommen,“ flüsterte er, „so suchen Sie Herrn Marchand, den Kammerdiener des gefangenen Kaisers Napoleon, auf und überreichen Sie ihm heimlich dieses Päckchen. Es kommt von seiner Mutter, meiner Freundin, die hier bei Marie Louise und dem Sohne des Verbannten, dem Könige von Rom, sich befindet. Marchand soll es dem Kaiser zustellen.“

Welle stand wie vom Donner gerührt. Humboldt’s Worte fielen ihm ein. Er, der Mann, dem man nicht die geringste Intrigue zutraute, der für ein Muster des strengen Gelehrten und Forschers galt, der gerade deshalb erwählt worden war – er stand jetzt vielleicht an der Schwelle eines gefährlichen Unternehmens. O – die Intriguanten hatten ganz geschickt gewählt – Welle war so harmlos, so stockgelehrt, daß ihn kein Verdacht treffen konnte – aber wenn die furchtbaren Späher auf St. Helena doch hinter das Geheimniß kamen? – dann Lebewohl, botanische Forschung – Auszeichnung – vielleicht auch du, süße Freiheit! Herr Boos aber hatte Ansprüche auf die Dankbarkeit Welle’s – es war schwer, ihm die Annahme des Päckchens zu verweigern. Welle stammelte einige Worte von „Hindernissen“, „Gefahr“, „entdeckt werden“. Boos lachte.

[633] „Sie denken wohl, es sind Fluchtpläne in dem Paket? Nichts davon. Was es ist, brauchen Sie gar nicht zu wissen. Sie können, wenn es herauskommen sollte, beschwören nichts gewußt zu haben – ich gebe Ihnen aber mein Ehrenwort, daß es das harmloseste Päckchen auf dem Erdballe ist. Ich werde Ihnen doch nichts Gefährliches aufbürden. Uebrigens wer soll denn die Abgabe merken? Sie verbergen das kleine Ding in der Seitentasche mit Leichtigkeit, und unter dem Gefolge des kaiserlichen Commissärs wird Niemand einen Mann vermuthen, welcher dem Gefangenen gefährliche Papiere zusteckt. Reisen Sie mit Gott!“

Welle schob das Paket mechanisch in die Tasche. Zehn Tage später befand er sich mit Baron Stürmer und dessen Gefolge auf hoher See. „Land!“ wird signalisirt. Aus den Wogen steigt ein schwarzer, ungeheurer Klumpen. Je näher das Schiff kommt, desto schärfer tritt er heran. Basaltfelsen von tiefschwarzer Farbe, die in tausend Splitter geborsten scheinen, tiefe Einschnitte gleich großen Narben – so steht die Insel St. Helena vor den Reisenden. Am Bord des Schiffes ist Alles lebendig. Da liegt das Gefängniß des Kaisers, von Wellen umbrandet; noch ziehen leichte Morgennebel über die Kanten der zackigen Felswände. Die Sonne steigt empor und beleuchtet das Gestein. Jetzt bemerkt man eine Anzahl kleiner, weißer Punkte auf dem Rücken, es sind Schanzen, Wachthäuschen, Bastionen. In allen Wachen und Lärmkanonen, an vielen Punkten Signalstangen – Alles aus Vorsicht und um des gefangenen Kaisers willen. Kaum wird das Schiff bemerkt, als auch schon von den Hafenbatterien her ein Schuß donnert. Es ist keine Begrüßung, es ist eine Warnung. Weiter darf sich die Fregatte der Insel nicht nähern, bevor nicht die Beamten Sir Hudson Lowe’s an Bord gewesen sind. Das Schiff legt bei. Einige Minuten darauf wird es lebhaft im Hafen. Boote fahren durcheinander. Eins – zwei – drei derselben schießen zwischen den Dämmen hervor, sie tragen Bewaffnete und richten ihren Lauf nach der Fregatte. Der Baron von Stürmer versammelt das Personal seiner Gesandtschaft.

„Meine Herren,“ sagte er, „es scheint mir zwar überflüssig, an Sie diese Aufforderung und Warnung zu richten, weil ich überzeugt bin, daß Niemand von Ihnen Verdächtiges bei sich führt, allein Sie haben genug von der Strenge der englischen Behörden vernommen, um meine Warnung zu mißdeuten. Jeden von Ihnen, der das geringste auf Frankreich oder den gefangenen Napoleon Bezügliche bei sich führt – sei es eine Karte, ein Bild oder dergleichen – fordere ich in seinem eigenen Interesse auf, solche Waare über Bord zu werfen oder mir auszuliefern. Die Folgen einer an sich ganz harmlosen Entdeckung möchten schwerer sein, als Sie vielleicht glauben.“

Natürlich meldete sich Niemand. Welle, der mit unter dem Personal gestanden, fühlte sein Blut schneller kreisen. Er kämpfte einige Augenblicke mit sich, ob er das ihm anvertraute Paket dem Baron überliefern sollte; als er die Hand auf seine hochklopfende Brust preßte, fühlte er ein leises Knistern – es war das Couvert, welches den ihm unbekannten Schatz verschloß. Die Beamten erschienen bald an Bord. Daß sie nichts fanden, was Verdacht erwecken konnte, versteht sich von selbst; nur glaubte der schüchterne Welle sich immer ganz besonders beobachtet, und erst als er seinen Fuß auf den Felsboden der Insel setzte, athmete er freier.

Das Wächteramt des Sir Hudson Lowe war thatsächlich ein schreckliches. Nicht nur die schwere Verantwortung, welche auf ihm lastete, machte dem Gouverneur eine fortwährende Pein, er mußte auch den Haß der halben Welt auf seine Schultern nehmen, denn die Einsperrung Napoleon’s auf Helena hatte in ganz entgegengesetzter Weise gewirkt, als seine Feinde ursprünglich beabsichtigten. Der gefangene Kaiser war zum Märtyrer geworden, sein Unglück und die gewaltige Tragödie seines Geschickes ließen Alles vergessen, was er dem Einzelnen zugefügt haben mochte; schon blieb nur der große Mann zurück, dem die Gefangenschaft auf dem einsamen Felsen einen besonderen Nimbus verlieh, welcher ihn ja auch während seines ganzen Lebens umgeben hatte. Da Sir Hudson Lowe der einzige greifbare Gegenstand, als Kerkermeister die unangenehmste Persönlichkeit war, so häufte man auf ihn eine Unzahl von gerechtfertigten und ungerechtfertigten Vorwürfen. Sir Hudson Lowe hatte nicht allein mit der großen Welt, nicht nur mit der Gereiztheit des auf St. Helena gefangenen Kaisers und dessen Begleitung zu kämpfen, er litt auch schwer durch die ihn nie verlassende Unruhe, durch eine Art fixer Idee: daß Napoleon entkommen sei oder entkommen werde. Oft genug sprang Lowe mitten in der Nacht auf von seinem Lager. Er hatte wieder einen Traum gehabt, der ihm vorspiegelte, ein soeben angelangtes Schiff habe den Kaiser befreit, oder ein Luftballon sei niedergelassen worden. Er eilte dann nach Longwood, um sich zu überzeugen, daß der Gefangene noch in Gewahrsam sei, und solche Träume sind die Ursachen der Entstehung der vielen kleinen Schanzen gewesen, welche den Rücken von St. Helena zieren. Plötzlich, unerwartet erschien dann Lowe in Longwood im Salon des Kaisers nach flüchtiger Anmeldung; er wußte alle kleinen Vorgänge, achtete auf jede besondere Bewegung und die Pakete, die Briefe unterlagen seiner strengsten Recherche.

Der gefangene Kaiser und seine treuen Genossen wurden durch solche freilich oft bis zur Lächerlichkeit getriebene Pflichttreue in den größten Zorn versetzt. Beschwerden, Scenen aller Art, sogar Herausforderungen des Gouverneurs waren an der Tagesordnung und Longwood schien ein kleines Reich für sich, welches der gefesselte Titane vertheidigte. Allerdings sah die Reizbarkeit der Franzosen Vieles schwärzer, als es wirklich sein mochte, aber die empörende Tactlosigkeit Sir Hudson Lowe’s war schlimmer, als sein Charakter. Besonders verletzte den Kaiser die vollständige Unterbrechung jeder Verbindung zwischen ihm und seinem Sohne. Höchst selten gelangte ein Briefchen, ein Zeichen kindlicher Aufmerksamkeit des „Königs von Rom“ nach Helena, und dann selbst wurde es den Händen des Kaisers erst nach genauer Prüfung durch Sir Hudson Lowe übergeben, was Napoleon stets als Entweihung betrachtete. Er liebte den fernen Sohn zärtlich. Noch von Elba her besaß er eine Büste desselben, welche der Graf Bausset in Wien hatte anfertigen lassen. Diese Büste stand über dem Bette des Kaisers im Hause auf St. Helena, und Napoleon betrachtete oft das Sculpturwerk halbe Stunden lang schweigend. Kehrte er von einem Spaziergange zurück, dann pflegte er einige Blumen, welche er mitgebracht hatte, an den Sockel der Büste zu lehnen.

Durch die Convention der Mächte schien das Wächteramt Lowe’s erleichtert werden zu sollen, allein es zeigte sich bald, daß die Commissarien ihm eher Verlegenheiten bereiteten. Eines Tages saß man im Salon des Hauses zu Longwood recht vergnügt bei Tische, der gefangene Kaiser hatte den Vormittag über dictirt. Er breitete seine großen Karten, nach denen er die Geschichte seiner Feldzüge arbeitete, auf einem mächtigen Tische aus und folgte mittels eines Stäbchens dem Laufe der Armeen, im Geiste sich noch einmal zurückversetzend in jene Zeiten des Ruhmes und Glanzes, wo die Massen der tapfersten Soldaten einem Worte des Gewaltigen gehorchten. An solchen Tagen war der Kaiser meist heiterer Laune, wenn er einen großen Moment seines Lebens niedergeschrieben hatte. In der ersten Zeit arbeitete er oft Nachts. Er trug dann einen seidenen Schlafrock und leinene Pantalons mit einer Zeichnung bedruckt, die man „Oeil de perdrix“ nannte. Er arbeitete an einem Bureau aus Rosenholz in seinem Fauteuil sitzend. Später dictirte er. Montholon, Gourgaud, Marchand, der Kammerdiener, der junge Las Casas mußten schreiben. Nach der Arbeit ging man zu Tische. Der Kaiser trug Civilkleidung, statt des historischen dreieckigen Hütchens bedeckte er sein Haupt mit einem runden Hute. Gewöhnlich trug er die militärischen Beinkleider, die Weste und Stiefeln, auch den Orden der Ehrenlegion. Bei besonderen Gelegenheiten erschien er in der bekannten Uniform der Chasseurs de la Garde mit dem berühmten Hute. Also – der Kaiser war sehr heiter gestimmt. Bei seiner Ankunft auf Helena hatte er einige Zeit im Hause der Familie Balcombe zugebracht, welche ihm mit größter Liebenswürdigkeit entgegenkam, Alles zu seiner Disposition stellte und dem Kaiser den Eintritt in sein Gefängniß weniger schrecklich machte. Insbesondere waren es die beiden liebenswürdigen Töchter Eliza und Betty Balcombe, deren reizende Unterhaltung der Kaiser gern genoß. Bis zur Vollendung seiner Wohnung in Longwood blieb Napoleon im Hause der Balcombes. Hier nun hatte Miß Betty ihm eines Abends eine höchst seltsame, aber ihrem Herzen Ehre machende Bitte vorgetragen. Auf der Insel befand sich ein alter Sclave, ein Malaie Namens Tobias, den ein englischer Capitain verkauft hatte. Miß Betty interessirte sich für den Alten lebhaft und wünschte, ihn seinen Kindern wiedergegeben zu sehen. Dazu war aber der Loskauf nöthig, und da Miß Betty den gefangenen Kaiser noch immer für mächtig hielt, so trug sie ihm eines Abends den Wunsch vor, [634] Napoleon möge den alten Tobias loskaufen und in seine Heimath senden. Der Kaiser machte gern den Lenker eines Schicksals, auch in den Tagen des Glanzes war er großmüthig und freigebig. Er versprach, sein Möglichstes zu thun, allein die Uebersiedelung nach Longwood zerschlug die Unterhandlungen, welche O’Meara, der englische Arzt auf Longwood, leitete. Einige Monate später wurden sie wieder aufgenommen und der Kaiser erfuhr gerade an jenem Tage zur Mittagszeit, daß der alte Tobias gegen Erlegung der Kaufsumme freigelassen werden solle. Napoleon bezeigte darüber eine lebhafte Freude. In der Gefangenschaft noch Gnaden ertheilen zu können, schien ihm doppelt großartig. Man scherzte über den Gegenstand und war soeben heiter conversirend beim Dessert angelangt, als der wachthabende Officier dem Kaiser meldete, daß Sir Hudson Lowe ihn zu sprechen wünsche. Mit Einem Schlage war Napoleon’s gute Laune gestört, indessen konnte man den unangenehmen Gast nicht zurückweisen.

„Er mag eintreten,“ sagte der Kaiser, sich vom Tische erhebend und in den kleinen Salon gehend. Sir Hudson Lowe trat bald darauf in’s Zimmer. „Sie wünschen, mein Herr?“ fragte der Kaiser kurz und heftig auf- und niedergehend.

„General,“ begann Lowe, der dem Gefangenen niemals den Titel Kaiser gab, „General, ich komme, um Ihnen zu sagen, daß der Malaie Tobias nicht freigelassen werden kann.“

„He? ich werde zahlen!“ fuhr der Kaiser auf.

„Und wenn dies auch geschähe, ich darf die Freilassung nicht dulden.“

„Warum nicht?“

„Es ist nicht die Freilassung, welche der Miß Balcombe zu Gefallen geschehen soll, die Sache hat einen tieferen Grund.“ Der Kaiser sah den Gouverneur fragend an. Er machte nur eine ungeduldige Bewegung, worauf Lowe fortfuhr: „Es ist wohl nicht die Freiheit des alten Malaien, welche Ihnen, General, am Herzen liegt, ich habe Grund, zu vermuthen, daß Sie darauf ausgehen, die Herzen sämmtlicher Neger der Insel für sich zu gewinnen.“

Der Kaiser blieb betroffen stehen, dann ließ er ein bitteres Gelächter hören, endlich sagte er, sich zum Fenster wendend: „Ich glaube, mein Herr, Sie sind verrückt.“

„Halten Sie mich dafür, General, aber ich fürchte, Sie wollen es machen, wie einst mit Domingo.“

„Sie werden schweigen, mein Herr,“ fuhr der Kaiser wüthend auf. Man hatte einst in Journalen und Libells heftig gegen die von ihm beabsichtigte Expedition nach St. Domingo geeifert. „Sie werden schweigen,“ rief er noch einmal. „Ueberhaupt, was wollen Sie hier? Sie hätten sich nicht zu bemühen brauchen.“

„Ich wollte Ihnen die abschlägliche Antwort selbst bringen.“

„Um sich an meinem Aerger zu weiden, he?“

„Sie verkennen mich.“

„Ganz und gar nicht. Ich will überhaupt nichts von Ihnen, als daß Sie mich in Ruhe lassen.“

„Meine Instructionen sind sehr streng, General. Lord Cockburn, mein Vorgänger, hatte es leichter.“

„Zum Henker, mein Herr, welches sind Ihre Instructionen? Haben Sie doch den Muth, offen damit herauszutreten! Soll ich erdolcht oder vergiftet werden?“

„General, ich muß meinerseits jetzt bitten –“

„Schweigen Sie. Ich weiß nicht, ob Sie Gift anwenden wollen, aber Eisen scheint mir uns bald zu bedrohen. Sie haben erst neulich meine Officiere durch Bajonnete bedroht, als Ihnen die Oeffnung der Hausthür verweigert ward.“

„Wieder meine Instruction. Ich gestatte Ihnen Partieen in das Innere der Insel.“

„Das klingt wie Hohn. Ich werde stets durch einen Officier escortirt. Ich habe nichts gegen den rothen Rock, denn sobald ein Soldat im Feuer gestanden hat, ist er mir ehrwürdig und die Uniform von Freund oder Feind gilt mir gleich, allein ich erkenne in der Begleitung Ihre Absicht, mich als Gefangenen zu behandeln, und deshalb gehe ich gar nicht mehr aus.“

„Ich habe die Verpflichtung übernommen, für Ihre Sicherheit zu sorgen. Europa sieht auf mich.“

„Sie sind absurd, mein Herr. Sie chicaniren aus übler Laune. Vielleicht sind gerade in England die Wenigsten Ihrer Ansicht. Wäre ich nach Rußland gezogen, ich würde von Alexander freundlich aufgenommen worden sein; der König von Preußen ist ein Ehrenmann, er hätte die Rechte geehrt, welche auch der gefangene Feind beanspruchen darf – aber hier – Sie, mein Herr – o, Sie werden noch erleben, wohin das führt, und Ihre Kinder werden erröthen über den Namen, den sie tragen.“

„Ich muß bitten, General, mich anzuhören –“

„Nein, ich höre Sie nicht weiter an. Sie haben mir wieder einen Tag verdorben, verlassen Sie mein Gebiet!“

Damit wendete der Kaiser dem unglücklichen Gouverneur den Rücken. Lowe trat ab und sagte dem im Vorzimmer befindlichen General Gourgaud: „Der General hat sich eingebildete Länder geschaffen: imaginäres Frankreich, Spanien, Polen. Es scheint so, als wenn er sich auch ein imaginäres Helena gründen wollte.“

Die Hausgenossen fanden den Kaiser in großer Erregung. „Nicht einmal den armen Leibeigenen kann ich befreien, für mein gutes Geld kann ich den Alten nicht loskaufen,“ rief er gegen die Möbel schlagend. „Ich muß wahrhaftig an die Mächte oder die Commissarien appelliren.“

„Es ist vielleicht der beste Weg,“ sagte der General Bertrand. „Vorgestern ist ein Schiff gelandet, welches den österreichischen Commissar Baron von Stürmer mit seinem Gefolge an Bord hatte.“

„Stürmer?“ fragte der Kaiser ruhiger werdend. „Der Name ist mir wohl bekannt. Ein Stürmer war Chargé d’Affaires im kaiserlichen Hauptquartier – vielleicht ist mit dem Manne zu reden.“

Obwohl sein Zorn sich gelegt hatte, war der Kaiser doch finster und in sich gekehrt. Die Verweigerung des Loskaufes eines armen Teufels hatte ihn im höchsten Grade verstimmt. Er ging auf sein Zimmer zurück und ließ während des Nachmittags nichts von sich hören. Aehnliche Auftritte störten den Frieden in Longwood oft genug, – aber heute war der Kaiser besonders unglücklich. Er hatte nichts für sich erbeten, nichts zu seiner Bequemlichkeit verlangt und man störte ihm jetzt die Freude, wohlthätig sein zu dürfen. Finster, das Antlitz in ernste Falten gelegt, einem gefesselten Adler gleichend, erschien er Abends an der kleinen Haustafel. Schweigend nahm man das Mahl ein. Niemand wagte die Stille zu unterbrechen und abgerissene Bemerkungen wurden schnell hingeworfen.

Die Nacht begann sich auf Longwood zu senken, schon wollte der Kaiser in sein Schlafgemach gehen, als Marchand schnell und hastig in’s Zimmer trat. Er machte die Thür hinter sich zu und vorsichtig umschauend reichte er dem Kaiser ein weißes Couvert.

Napoleon’s Augen blickten den Diener an. „Was soll das?“ fragte er.

„Aus Wien!“ entgegnete Marchand.

Ein Blitz der Freude – ein Lächeln der Ahnung, des Vorgefühls großer Freude zuckte über das ernste Gesicht des Kaisers; ein leichtes Zittern seiner Hände ließ sich bemerken, als er das Couvert erbrach; dann ließ er sich, in einen Sessel gleitend, nieder und untersuchte den Inhalt. Er brachte einen kleinen Brief hervor, außerdem ein zusammengefaltetes Papier, – Beides öffnete er, und man sah, wie die Augen des Gewaltigen, jene Augen, welche durch einen Wink das Geschick ganzer Länder entschieden, sich leicht mit Thränen füllten. „Montholon,“ sagte der Kaiser nach einer Pause, „welchen Tag haben wir heute? Ich weiß es wohl, ich war schon deshalb von früh Morgens an so guter Laune.“

„Ich auch, Sire, und wir Alle,“ entgegnete Montholon. „Es ist der siebente September.“

„Richtig,“ sagte der Kaiser. „Der Jahrestag der Schlacht an der Moskwa. Gestern vor vier Jahren war ein Tag der Freude. Meine Garden umstanden das Bild meines Sohnes, welches im Feldlager vor meinem Zelte ausgestellt war, die alten braven Leute weinten vor Freuden – heute sind wir hier – hier die Gefangenen.“ Der Kaiser biß heftig die Lippe. „Aber das ist ein seltsam glücklicher Tag, eine Genugthuung, die mir das Schicksal sendet für die Kränkung, welche Sir Hudson Lowe mir zufügte – denn heute am Jahrestage der Schlacht an der Moskwa wird mir Dieses gesendet.“ Er hob die Papiere in die Höhe. „Am sechsten September eintausend achthundert und zwölf konnte ich im Lager bei Borodino das Bildniß meines geliebten Sohnes küssen, heute sendet man mir durch die Hand eines wackeren Mannes einen Brief und diese Haarlocke meines Kindes – eine Locke des Königs von Rom.“

[635] Ein Ausruf der Freude tönte durch den Salon, – die treuen Genossen des Kaisers umringten den Gefeierten. Napoleon entfaltete das Briefchen, er drückte die Schrift an seine Lippen, sie ging von Hand zu Hand, dann zeigte er behutsam das zweite Papier, eine kleine goldig schimmernde Locke lag darin, ein blaues Seidenbändchen hielt sie zusammen. Die Freude aller Anwesenden war eine stille, ernste geworden, die Wehmuth hielt den lauten Ausdruck zurück und mit thränenden Blicken schaute Alles auf das kleine Büschelchen Haare, dem Haupte entnommen, dessen Locken nach dem Willen des gefesselten Riesen auf Helena einst die Krone des mächtigsten Reiches dieser Erde zieren sollte.

„Es ist mir mehr werth als ein Fürstenthum,“ sagte der Kaiser, die Locke sorgfältig in die Papierhülle legend, „der Brief soll heute Nacht unter meinem Kopfkissen ruhen. Seht Ihr – man hat ihm die Hand geführt, meinem Sohne. Marchand – wer ist der Treffliche, dem ich diesen glücklichen Abend verdanke?“

„Es ist ein junger Gelehrter, der mit dem Personale des Barons Stürmer vorgestern hier anlangte,“ sagte Marchand. „Meine Mutter hat ihm das Paket zustellen lassen, aber wenn Sir Hudson Lowe es erfährt – –“

„Genug! es wird verschwiegen bleiben. O, ich habe noch Freunde überall – ich sehe es. Das ist eine Zartheit – ein Gefühl für mich; wenn ich noch Länder verschenken könnte – wenn ich einst wieder Länder verschenken kann,“ setzte er mit funkelnden Augen hinzu, „sollen Deine Mutter und der junge Gelehrte damit belohnt werden. Kann ich ihm persönlich danken?“

„Er fürchtet die Entdeckung. Es genügt ihm, wenn er von Ihnen, Sire, einen erkenntlichen Blick – einen Gruß erhaschen kann. Vorsicht ist nöthig, lassen Sie uns morgen um die zehnte Stunde etwa im kleinen Garten promeniren.“

„Gut also, Adieu – schlaft Alle wohl!“ rief der Kaiser. „Auf morgen denn.“

Er ging mit seinen Schätzen in das Schlafcabinet und lange noch sah man das Fenster erleuchtet; der Kaiser betrachtete das Schreiben seines Sohnes. –

Welle fühlte sich um einige Centner leichter, als er das Paket in Marchand’s Hände geliefert hatte. Er wartete in gewisser Unruhe einige Tage, ob nicht etwa ein Sturm gegen ihn heranziehen werde – Alles blieb still. Unterdessen machte er fleißig Ausflüge in die Gegend, seine botanische Sammlung begann sich zu vermehren. Oft hatte er das Dach von Longwood mit furchtsamer Neugierde betrachtet, welches zwischen den spärlichen Gummibäumen hervorragte. Von einer dieser Wanderungen zurückgekommen fand er den Befehl vor, sich augenblicklich bei Herrn von Stürmer einzufinden, der in Jamestown wohnte. Welle’s Herz pochte gewaltig. Er ahnte eine Scene, er sah sich in Ketten und Banden, – aber er ging mechanisch in des Barons Haus. Bei seinem Eintritte in Stürmer’s Zimmer fand er diesen vor dem Arbeitstische sitzen. Ohne den Gelehrten zu begrüßen, erhob sich der Baron und reichte Welle, ohne zu sprechen, ein Schreiben. Es war in englischer Sprache abgefaßt und enthielt Folgendes:

     „Mein Herr Baron!

Am Montag Abend um eilf und ein halb Uhr hat der Kammerdiener des gefangenen Generals Napoleon demselben ein Paket überreicht, welches einen Brief und noch einen mir unbekannten Gegenstand enthielt. Der Brief, von Wien gekommen, ist ein Schreiben des Sohnes des Generals Napoleon, meines Gefangenen. Das Paket ist durch einen Mann vom Personal Ew. Hochwohlgeboren überreicht worden, und da ich den unter Ihrem Befehl stehenden Leuten gegenüber nicht eigenmächtig verfahren kann, so habe ich mit dem gestern nach London abgegangenen Paketschiffe mir von meiner Regierung Instructionen erbeten, wie ich mich im gegenwärtigen Falle zu verhalten habe, bemerke jedoch, daß ich Befehl ertheilt, Ihr Personal streng zu überwachen, und daß die Posten Ordre haben, jede unberufene Annäherung an das Wohnhaus zu Longwood mit dem Gewehr zurückzuweisen. Indem ich Ihnen, mein Herr Baron, die Verantwortung für den Vorfall vom Montag Abend zuschieben muß, zeichne ich mit Hochachtung
Hudson Lowe.“

Der unglückliche Welle stand wie angewurzelt, seine Augen starrten auf den Brief, seine Lippen bebten, – er vermochte nur mit leisem Stöhnen zu antworten, als Stürmer ihm, heftig aufbrausend, die Frage entgegendonnerte: „Unglücksmensch, was haben Sie gethan?“ Nach einigem Besinnen faßte er sich jedoch. Der Muth, welcher in der Brust eines jeden Forschers und Gelehrten wohnt, der ihn in die unwirthbarsten Steppen, in die Mitte von Cannibalen hinein treibt, erwachte auch in unserem Botaniker und verlieh ihm die Kraft, sich so wirksam, in so ergreifender Weise seine Handlung zu vertheidigen, daß der Commissar ihn gerührt entließ und seinen Schutz versprach. Welle ging in seine Wohnung zurück. Er fühlte sich nicht nur erleichtert, sondern erhoben, und da er seine politische Mission vollendet hatte, hegte er nur noch einen Gedanken, einen Wunsch: den Kaiser zu sehen, für den er immerhin viel gewagt hatte.

Dieser Wunsch sollte ihm am Freitag erfüllt werden, nur schien die Erfüllung einigermaßen erschwert, denn Sir Hudson Lowe ließ die Beamten Stürmer’s sehr streng überwachen, und die Posten hatten, wie wir wissen, scharfe Ordre. Welle hing seine Botanisirtrommel über, ergriff seinen Sonnenschirm und machte sich nach Longwood auf den Weg. Er stieß bald auf die erste Postenlinie und sah, wie einer der im Umkreise gelagerten Schützen sich erhob, um ihm zu folgen. Der Botaniker, an eine heiße Sonne gewöhnt, begann nun den beschwerlichsten Marsch über das kahle Felsgestein, bergauf, bergab führte er seinen Wächter, dabei blieb er öfter stehen, um scheinbar Pflanzen zu suchen. Die Sonne schickte ihre glühenden Strahlen herab, der Felsen brannte, aber Welle ermüdete nicht; endlich schien der Begleiter zu ermatten, er suchte Schutz unter einem großen, nicht häufig an dieser Stelle wachsenden Farrenkraute, und als der Botaniker um eine Felsecke bog, hatte er sich den Blicken seines Verfolgers entzogen. Welle, schon mit dem Terrain bekannt, näherte sich durch eine kleine Schlucht rasch dem Hause von Longwood, welches mit seiner Umgebung ein Plateau bildete; vom Rande dieser Schlucht konnte man in den Garten des Kaisers hinabschauen. Die Posten lagerten träge im Schatten der Felsen, denn ein Herankommen von dieser Seite aus war gar nicht zu bewerkstelligen, ohne daß die Wachen es bemerkt hätten. Welle sah scharf um sich. Noch bemerkte er Niemanden, die Gegend war ganz einsam, die Sonne brannte gewaltig und die Uhr auf dem Alarmhause zeigte ein Viertel vor Zehn. Da plötzlich erschienen unter den Gummibäumen zwei Personen, – das scharfe Auge des Forschers hatte sogleich Marchand erkannt, und der Andere – ja, das mußte der Kaiser sein, es unterlag keinem Zweifel, diese Züge waren Jedem bekannt, das gefürchtete und von Tausenden zugleich verehrte Antlitz schaute zu dem Gelehrten hinüber.

Napoleon trug seinen leichten Ueberrock und den runden Hut. Welle sah, wie Marchand mit der Hand dem Kaiser die Richtung bezeichnete, wo der Botaniker stand, im Nu hatte Napoleon ihn ausfindig gemacht. Es war dem jungen Mann, als fühle er die Blitze der Augen in seiner Brust, er sah, wie der Kaiser den Hut lüftete, dann hob sich seine Hand und winkte zwei, drei Mal einen dankenden Gruß nach dem Felsen hin, ihm entgegen, der dem Gefangenen das köstliche Geschenk gebracht hatte: „die Locke des Königs von Rom“. Welle verneigte sich tief; er sah, wie der Kaiser seine feine Hand auf das Herz legte, noch einmal grüßte und dann hinter dem Hause verschwand. In diesem Augenblicke schlug die Uhr zehn, die Trommel wirbelte, die Posten wurden abgelöst und Welle verließ den Felsen. Er hatte den Kaiser gesehen – seinen Dank entgegengenommen.

Merkwürdigerweise ging das Ungewitter an dem Haupte des Gelehrten glücklich vorüber. Sir Hudson Lowe hat nie wieder des Vorfalls erwähnt, und Welle durfte unangefochten auf der Insel bleiben. Später sah er den Kaiser noch öfter, aber ohne ihm näher zu kommen. Ohne Zweifel hatte man in London selbst den Spectakel lächerlich gefunden, den Lowe wegen Uebersendung einer Locke und eines Briefchens erhoben hatte.