Eine Erinnerung an David Friedrich Strauß

Textdaten
<<< >>>
Autor: –dt.
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Eine Erinnerung an David Friedrich Strauß
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 9, S. 153–154
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[153] Eine Erinnerung an David Friedrich Strauß. Es war im Jahr 1840, wenn ich nicht irre, als ich eines Abends das Hoftheater in Stuttgart besuchte. Es wurde „Don Carlos“ gegeben. Seidelmann spielte den Groß-Inquisitor, der dicke Maurer den Marquis Posa, der damalige erste Liebhaber, Moritz, den Don Carlos und Fräulein Stubenrauch, die intime „Freundin“ des verstorbenen Königs, die Königin. Die übrige Rollenbesetzung ist mir nicht mehr erinnerlich, thut auch nichts zur Sache.

Das Haus war gut besucht, und das Publicum folgte mit gespannter Aufmerksamkeit der sehr gewandten und größtentheils sehr gelungenen Darstellung. In einer der Zwischenpausen hörte ich hinter mir zwei Herren über die Vorzüge und Schwächen des Stückes ihre Ansichten austauschen. Des ganzen Gesprächs weiß ich mich nicht mehr zu entsinnen, und nur eine Bemerkung, die mich besonders frappirte, ist mir geblieben.

„Was ich besonders an dem Stücke auszusetzen habe,“ sagte einer der beiden Herren, „das ist die allzu scharf zugespitzte Scenirung. Es soll zwar die Scenenfolge, bei aller Natürlichkeit im Fortgang der Handlung, überraschen, aber sie muß immer verständlich bleiben und darf den Zuhörer nicht in die Nothwendigkeit versetzen, den Faden, der die Scenen unter einander verbindet, mühselig erst wieder aufzusuchen. Der Faden muß offen zu Tage liegen, und für die Zuschauer darf es, selbst vorübergehend, keine dunklen Momente in der Handlung geben. Andernfalls entsteht eine ganz ähnliche Wirkung wie bei einem geistreichen Gedanken, den Jemand äußert, der aber so fein zugeschliffen ist, daß der Zuhörer erst auf dem Umweg der Reflexion hinter die Pointe zu kommen vermag. Ein geistreiches Wort übt nur dann eine zündende Wirkung, wenn der Sinn blitzartig klar wird. Dem Sinn erst nachgrübeln müssen, das heißt den Blitz mit der Laterne suchen.“

Ich drehte mich um, um nach dem Sprecher zu sehen. Es war ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, mit geistvollem Gesicht, blaß, mager, die blonden Haare hinter die Ohren zurückgestrichen. Ein Bekannter, der neben mir saß und bemerkte, wie scharf ich den Sprecher fixirte, neigte sich meinem Ohre zu und sagte flüsternd:

„Wissen Sie, wer dieser Herr ist?“

Ich verneinte es.

„Das ist der Doctor Strauß, der Verfasser vom ‚Leben Jesu‘.“

Begreiflicherweise sah ich mir nun den Mann ein zweites Mal an. Ich hatte zwar sein berühmtes Buch damals noch nicht gelesen – ich war zu jener Zeit noch ein blutjunger Bursche und kümmerte mich um alle anderen Dinge eher als um theologische Werke – aber dem Namen nach waren mir Buch und Autor gar wohl bekannt. War doch das „Leben Jesu“ wenige Jahre zuvor wie eine Bombe mitten in die gläubige Christenheit hineingefahren und hatte unter Theologen und Laien eine Wirkung geübt, wie kein anderes, das in unserem Jahrhunderte bisjetzt erschien. Auch galt von Strauß keineswegs der alte Spruch, daß Propheten im eigenen Lande nichts gelten. Strauß galt schon damals im Schwabenlande gar viel. Seine Landsleute, die Frommen nämlich, betrachteten ihn zwar als etwas wie den Antichrist, und nur die Welt der Denker und Gelehrten würdigte seine kühne und mit bewunderungswürdigem Scharfsinn ausgeführte That nach Verdienst; allein Freund und Feind, die geistig Unmündigen wie die Mündigen, schauten mit einer Art scheuer Ehrfurcht zu dem Manne auf, der gewagt hatte, was keiner vor ihm. Man wird also begreifen, wie sehr ich meinem Glückssterne dankte, daß er mich dem berühmten Manne in so unmittelbare Nähe gebracht hatte.

Später sah ich Strauß öfter und zwar in seiner Vaterstadt Ludwigsburg, wo ich mich Berufsgeschäfte halber längere Zeit aufzuhalten gezwungen war. Ich sage mit gutem Bedacht gezwungen, weil Ludwigsburg unter allen langweiligen Orten, die es in der Alten und Neuen Welt giebt, sicher der langweiligste ist, der daher Niemanden zum freiwilligen Aufenthalte reizt. Die Stadt macht den Eindruck eines Kleides, das für den Körper, den es bedecken soll, viel zu weit ist. Ludwigsburg ist eine Soldatenstadt wie Potsdam, nur in Taschenformat. Das bürgerliche Element ist daselbst nur sehr schwach vertreten. Die Stadt gleicht einem Lager, in welchem die Zelte zu Häusern erstarrt sind. Außer Militär sieht man in den breiten, mit der Größe der Häuser in schreiendem Verhältnisse stehenden Straßen zu gewissen Tagesstunden nicht einen einzigen Civilmenschen; die paar Tausend Einwohner, die nicht dem Militärstande angehören, verlieren sich in der weitläufigen Stadt über die Gebühr. Wie die Eltern unseres Strauß dazu gekommen sind, sich in dieser Einöde niederzulassen, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, daß sie im sogenannten „Thal“ einen Kaufmannsladen hatten, in welchem sie Kaffee, Zucker, Specerei- und Schnittwaaren feil hielten. Sie waren wohlhabende Leute und verscheuchten durch ihr strenges Wesen oft die Kinder.

Seinen ersten Unterricht erhielt Strauß in seiner Vaterstadt. Es ist möglich, daß gerade die Langweiligkeit des Ortes, der Mangel an Zerstreuung der Entwickelung seines sinnenden Geistes günstig waren. Erst als er die lateinische Schule hinter sich hatte, kam er in das evangelische „Stift“ nach Blaubeuren und später an die Universität nach Tübingen.

Zur Zeit, als ich mit ihm seine Vaterstadt bewohnte, hatte Strauß, obgleich erst zweiunddreißig Jahre alt, schon eine reiche Geschichte hinter sich. Nicht nur hatte er außer seinem epochemachenden „Leben Jesu“, dessen erste Auflage im Jahre 1835 erschien, verschiedene andere bedeutende Werke publicirt, er war auch inzwischen Repetent in Tübingen, Professor in Maulbronn, Professor in Berlin und in Zürich gewesen. Zeitgenossen wissen sich des Spectakels zu erinnern, zu dem seine Berufung an die Hochschule der letzteren Stadt Anlaß gegeben hatte.

Während seines damaligen Aufenthalts in Ludwigsburg begegnete ich Strauß im dortigen Schloßgarten fast täglich. Er pflegte zwischen elf und zwölf Uhr, bevor er zum Mittagstisch ging, seinen Spaziergang zu machen. Er wählte dazu die abgelegensten Alleen, meist jene, welche im oberen Theile, gegen die Schorndorfer Straße zu, gelegen sind. Dort wandelte er, die Hände auf dem Rücken, den Blick sinnend vor sich auf den Boden geheftet, unter den schattigen Bäumen dahin. Für gewöhnlich lagerte auf seinem Gesichte ein starrer, man möchte fast sagen, eisiger Ernst. So etwa mag sich Schiller den Jüngling gedacht haben, der sich erkühnte, das Bild von Saïs zu enthüllen. Grüßte man ihn aber oder sprach man mit ihm, so verschwand der Ernst wie mit einem Zauberschlage, und man hatte ein von reinster Humanität durchgeistigtes, freundliches Menschenantlitz vor sich. Es ist mir nie ein Mensch vorgekommen, bei welchem solche Umwandlung so vollständig und so plötzlich gewesen wäre. Man denke sich eine nordische Winterlandschaft ohne alle Staffage und überhängt von Schneewolken, starr und regungslos. Plötzlich verwandelt sich die Scene, und man hat eine im Frühlingsschmucke prangende, von einer lachenden Sonne beschienene Landschaft des mittleren oder südlichen Europa vor sich. Nur dieses Bild vermag den Contrast wiederzugeben zwischen Strauß’ Zügen bei sinnendem Ernste und bei belebtem Gespräche.

Da ich, ohne ein Strauß zu sein, ebenfalls gern solche Spaziergänge aufsuchte, wo ich nach Möglichkeit ungestört war, so begegneten wir uns, wie schon erwähnt, ziemlich häufig im Schloßgarten. Ich hätte ihn für mein Leben gern angesprochen, enthielt mich dessen aber aus Besorgniß, zudringlich zu erscheinen.

Ich erinnere mich sehr gut noch der Worte, die ich zwei Jahre früher während eines kurzen Aufenthalts in Aarau von Heinrich Zschokke gehört hatte.

„Sie glauben nicht,“ sagte er einmal, „was ein Mensch, dessen Name in der Welt einigermaßen bekannt ist, von gewissen Besuchern auszustehen hat. Von der besten Arbeit soll man aufstehen und sich angaffen lassen, wie sich Riesen und Zwerge und Kälber mit zwei Köpfen müssen begucken lassen. Und wenn sie sich nur mit dem Ansehen begnügten! Aber da soll man auch noch reden und die plumpesten und albernsten Complimente anhören! Und was haben diese Muskitos unter den Touristen von ihren Besuchen, die sie Einem machen? Weiter nichts als ein Mensch, der in eine Bibliothek kommt, aber kein Buch aufmachen darf; er sieht nichts als – Buchbinderarbeit.“

Diese Worte prägten sich meinem Gedächtnisse tief ein, und ich hütete mich seit jener Zeit fast ängstlich, mich an berühmte Leute hinanzudrängen. obgleich ich dazu in meinem bewegten Leben vielfach Gelegenheit gehabt hätte. Auch bei Strauß hielt mich diese Scheu zurück. Mein Wunsch sollte aber doch, ohne daß ich es absichtlich herbeiführte, befriedigt werden.

Einmal, es war der erste schöne Tag nach mehrtägigem Regenwetter, ging ich wieder im Schloßgarten spazieren. Das Gras und das Laubwerk, vom Regen förmlich abgewaschen und von Staub gereinigt, prangte im frischesten Grün. Es war einer jener Auferstehungstage, wo man, vor lauter Freude am Dasein, die ganze Welt an sein Herz drücken möchte. Ich nahm mir auch vor, mich für den mehrtägigen unfreiwilligen Verzicht auf den gewohnten Spaziergang durch eine um so ausgiebigere Promenade zu entschädigen. Der Boden freilich war nicht sehr einladend dazu. Der Regen hatte die Wege ganz durchweicht. An einigen vertieften Stellen [154] hatten sich breite Pfützen gebildet, die schwer zu passiren waren. An einer der breitesten derselben angekommen, überlegte ich eben, ob ich umkehren oder aber den Versuch machen solle, das Terrainhinderniß durch einen kühnen Sprung zu überwinden, als ich eine Stimme neben mir höre:

„Hindurchgehen, oder Nichthindurchgehen, das ist hier die Frage, nicht wahr?“

Ich wende mich rasch um und sehe Dr. Strauß vor mir, der, ohne daß sich es bemerkt hatte, hinter mir drein gekommen war, nun lächelnd den Hut zog und mit komischer Geberde auf die Pfütze wies.

„Sie haben ganz Recht,“ entgegnete ich, den Gruß erwidernd, „eine ähnliche Frage habe ich mir in diesem Augenblicke wirklich gestellt, wenn ich dabei auch nicht, wie Sie es thaten, an den berühmten Monolog des Hamlet dachte.“

Damit war die Bekanntschaft gemacht und das Gespräch eingeleitet. Da Strauß keine Lust bezeigte, seine Geschicklichkeit im Voltigiren zu erproben, so kehrte ich mit ihm um, und wir setzten Seite an Seite unsern Spaziergang auf gangbareren Wegen fort. Unterwegs erwähnte er, daß er zwar nicht wisse, wer ich sei und wie ich heiße, daß er mich aber vom häufigen Begegnen gar wohl kenne und daß dies ihn auch entschuldigen müsse, wenn er sich erlaubt habe, mich auf so vertrauliche Weise anzureden.

Ich entgegnete, daß mir seine Ansprache sehr willkommen sei, weil sie mir Gelegenheit gebe, einen längst genährten Wunsch zu verwirklichen, nämlich den, ihn persönlich kennen zu lernen, denn ich wisse wohl, daß ich in seiner Person den berühmten Verfasser des „Leben Jesu“ vor mir sehe.

Er erröthete wie ein schüchternes Mädchen und versetzte: „Sagen Sie lieber berüchtigt, so wenigstens pflegen meine fanatischen Gegner sich auszudrücken.“ Er ließ sich im Verlaufe des Gesprächs noch weiter über sein Buch aus und that es mit großer Bescheidenheit.

„Ich leugne nicht,“ bemerkte er, „daß ich mir sagte, der verwegene Riß, den ich in langgewohnte, liebgewordene, allem Zweifel entrückte Anschauungen that, werde Aufsehen machen und mir viele Feinde zuziehen. Ich war mir auch bewußt, meine Behauptungen durch alle Beweismittel, welche die Wissenschaft an die Hand giebt, erhärtet zu haben; ich hatte die Arbeit mit allem Eifer eines feurigen, von einer starken Ueberzeugung durchdrungenen Gemüthes unternommen, dennoch ging der Erfolg weit über meine Erwartungen hinaus. Ich müßte sehr eigenliebig sein, wollte ich mir einbilden, Andere hätten das Buch nicht ebenfalls und vielleicht weit besser machen können, als ich. Ich weiß auch, daß ich keineswegs etwas absolut Neues sagte, daß gar Mancher meine Ansichten über die Natur Christi theilte. Mein Verdienst, wenn man mir ein solches zuerkennen will, beruht darin, daß ich auszusprechen wagte, was Andere nur dachten.“

Zu einem anderen Thema übergehend, fragte er mich, woher ich ihn kenne. Ich erzählte ihm nun, wie ich ihn im Theater in Stuttgart zuerst gesehen, wie ich seinen Ausstellungen über „Don Carlos“ gelauscht und wie ich namentlich von der Aeußerung frappirt gewesen sei, daß man die Pointe eines geistreichen Wortes nicht erst durch Reflexion zu finden gezwungen werden dürfe, weil dies so viel hieße, als den Blitz mit der Laterne suchen.

„Sie haben ein treueres Gedächtniß als ich,“ entgegnete er lachend. „Ich erinnere mich wohl jener Aufführung des ‚Don Carlos‘, ich erinnere mich auch, daß ich Dies und Jenes über diesem Drama sagte, aber speciell jenes Ausspruches von Blitz und Laterne, der nichts weniger als ein treffendes Bild ist, kann ich mich nicht mehr entsinnen.“

Von diesem Tage an verkehrte ich mit dem Philosophen noch öfter, aber nie in seinem Hause, sondern nur ab und zu bei zufälligem Begegnen im Schloßgarten. Ein Gespräch in’s Besondere steht noch lebhaft in meiner Erinnerung. Es hatte die Eigenschaften der Materie und die ideale und reale Welt zum Gegenstand, worüber ich vielleicht später berichten werde.

–dt.