Eine Eisenbahn unter den Meereswogen

Textdaten
Autor: H. Beta
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Eine Eisenbahn unter den Meereswogen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 132–133
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
siehe auch: Die Eisenbahn unter den Meereswogen
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[132]
Eine Eisenbahn unter den Meereswogen.

Jemehr die großen Geister für Erforschung und Pflege unserer inneren Güter abnehmen, desto großartiger und zahlreicher treten die Helden der Mechanik auf, um diesem immer noch mit vielen Hindernissen geplagten Erdenleben leichtere Schwingen zu geben. Daher auch die vielen Unternehmungen zur Vermehrung unserer Bequemlichkeiten und namentlich der Beflügelung des Verkehrs. Mit der Zehnpfennigmarke schreibt man bis San Francisco, und die elektrische Sprache des Blitzes flüstert Tag und Nacht unaufhörlich über alle Länder und unter den Weltmeeren hin, mit hunderttausendmeiligen Drähten des Raumes und der Zeit spottend, um vielleicht mitten in der Nacht Schläfer freudig oder furchtbar aufzuschrecken. Der Dampf, obwohl noch in schwerfällige Eisenmassen gefesselt, wüthet ebenfalls mit unermüdlichen Flügeln über Berg und Thal, selbst durch Felsengebirge hindurch und auf den Weltmeeren von Hafen zu Hafen. So ist denn das neueste Wunder für diesen völkerverbindenden Weltverkehr, obwohl beispiellos kühn, schon kein Wunder mehr.

Die Franzosen und Engländer sind eben daran gegangen, den sie trennenden und stets unruhigen Meeresarm unterhalb der Fluthen, in tiefer, ruhiger Kalksteinerde, zwanzig englische oder beinahe fünf deutsche Meilen lang zu unterwühlen und eine doppelte Eisenbahn hindurch zu legen. Was seit mehr als siebenzig Jahren mit den verschiedensten Plänen unter und auf dem Meeresgrunde, mitten durch das Wasser hindurch oder hoch oben darüber mit fester Brücke, oder auf dem Rücken des Wassers mit riesigen Fähren versucht und immer wieder aufgegeben ward, jetzt endlich soll es in der Tiefe der Erde verwirklicht werden. Auf englischer Seite arbeitet eine bereits mit vielem Gelde gegründete Gesellschaft einer französischen in die Hände. Die beiden Mächte, die seit Jahrhunderten Krieg gegen einander führten und sich meist feindselig überwachten und in immer größere Kriegsbereitschaft hinein rüsteten, wollen sich endlich fest und friedlich verbinden. Möchte dies doch dem Weltfrieden, der jetzt bewaffnet in allen gebildeten Staaten täglich fünf Millionen Thaler kostet, zu Gute kommen!

Was die technische Ausführbarkeit des Unternehmens betrifft, so hat man tüchtig vorgearbeitet und glaubt alle Bedingungen des Gelingens zu kennen und zu besitzen. Wenn eine Eisenbahn durch die Alpen und durch die amerikanische Panamataille gelang und ein Suez-Canal nicht verunglückte, so kommt man wohl auch hier durch. Man hielt die Hindernisse, die sich jenen Unternehmungen entgegenstellten, ja vorher ebenfalls für unmöglich. Freilich eine Eisenbahn unterhalb der mächtigen, tückischen Meereswogen ist noch etwas ganz Anderes. Allerdings. Aber der französische Ingenieur Thomé de Gammond, der vor mehr als einem Vierteljahrhundert den jetzt in Angriff genommenen Plan entwarf und in seiner Ausführbarkeit bewies, hielt hartnäckig allen Gegnern, allen Beweisen der Unmöglichkeit und allen anderen Plänen gegenüber an diesem als dem einzig richtigen fest und ist nun durchgedrungen. Die Beweise für das Gelingen wurden von allen Seiten und tief aus der Erde herbeigeschafft.

Der furchtbare Canal, der in seiner stürmischen Unruhe fast von allen den 300,000 jährlich darüber Hin- und Herdampfenden die üblichen Seekrankheit-Opfer fordert, ist eigentlich doch nur ein Strom in einem ruhigen, nur sanft ausgehöhlten, nicht sehr tiefen Bette. Selbst bei Hochwasser hat man keine größere Tiefe gefunden als 180 Fuß auf einem gut ausgewaschenen glatten Grunde von Kalkstein. Sorgfältige tiefe Bohrungen auf beiden Seiten ergaben ebenfalls einen ununterbrochenen Kalksteinboden von gehöriger Mächtigkeit. Man schließt aus diesen Ermittelungen, daß der ganze Boden unter dem Meeresarme hin aus einer gehörig tiefen, zusammenhängenden, festen Kalksteinmasse bestehe. Von der Richtigkeit dieser Voraussetzung hängt nun allerdings noch das Gelingen des Unternehmens ab. Irgend ein tiefer Einschnitt von Sand oder sonst weicher Masse unterhalb dieses Canalbettes könnte den [133] ganzen Tunnel unrettbar mit Wasser füllen. Dies ist aber im höchsten Grade unwahrscheinlich. Nach allen sorgfältigen Bohrungen und Untersuchungen sowie nach geologischen Gesetzen, bietet sich für den auszuhöhlenden Tunnel das beste Material für leichte und sichere Ausführung. Die Kalksteinmasse ist tief und mächtig genug, und beinahe zehnmal leichter zu durchbohren als das hartnäckige Gestein im Mont Cenis.

Man wird hier ungefähr ebenso bohren und zwar mit einer angeblich besseren, von Dickenson Brunton erfundenen Maschine, welche wie viele Dutzende von Meißeln arbeiten wird. Man beginnt auf beiden Seiten zugleich, und zwar zunächst versuchsweise, um vorläufig eine Art von Treibweg von neun Fuß Durchmesser zu gewinnen. Ist man darin von beiden Seiten glücklich in der Mitte unten zusammen gekommen, so soll es erst an die Ausweitung dieser Felsenröhre gehen und zwar so, daß doppelte Schienen neben einander Platz haben. Die den Mont Cenis durchbohrende Maschine kam täglich bloß ein Yard oder eine englische Elle vorwärts. Mit der Brunton’schen glaubt man durch die viel weichere Masse jede Stunde so weit, mithin in zwei Jahren ganz durch zu kommen. Für die Ausweitung dieser Röhre würden dann noch vier Jahre und mindestens eben so viele Millionen Pfund Sterling gehören. Die Letzteren sind so gut wie vorhanden. Aber es kommen noch zwei andere Schwierigkeiten in Betracht. Die eine läßt sich, wie bei Durchbohrung der Alpen, bewältigen, die andere ist hier neu. Man muß für die Arbeiter Luft schaffen. Ventilationsthürme waren beim Mont Cenis eben so unmöglich, wie jetzt durch das Meer hindurch. Man muß von einem Ende bis zum andern arbeiten, alle ausgebohrte Masse bis an die beiden Eingänge, also zuletzt beinahe zwei und eine halbe Meile weit heraus- und emporschaffen und dabei die Arbeiter fortwährend mit frischer Luft versorgen.

Bei Durchbohrung des Mont Cenis wurden die Maschinen mit zusammengepreßter und immer wieder entweichender, also für die Arbeiter immer frischer Luft getrieben. Aber Alles geschah hoch von der Erdoberfläche her. Hier nun geht es von beiden Endpunkten aus durch einen über hundert Yards tiefen Brunnen, durch welchen alle ausgegrabenen Massen, alle Arbeiter und die für sie gehörige Luft passiren müssen. Der alte Themse-Tunnel, damals das unerhörteste Wunderwerk, wurde ebenso versorgt, aber es war eine Liliputerei gegen das jetzt in Angriff genommene Brobdignac-Unternehmen. Nun, der Trost ist, daß mit unserer Naturwissenschaft, unserer Ingenieurkunst und der unermüdlichen Macht unseres Dampfes dieses Riesenwerk schon jetzt thunlicher erscheint, als damals das erste Weltwunder Brunel’s unter der Themse hindurch. Alles ist bis auf die vorausgesetzte zusammenhängende Tiefe des Kalksteinbettes Sache der Mechanik und des Mammon.

Nach den Auseinandersetzungen des Herrn von Lesseps in der französischen Akademie braucht man blos fünfzig Yards tief unter dem Meeresbette hindurch zu bohren. Aber auch hier will man erst proben und versuchen und nach Durchbohrung der engeren Röhre, von jedem Ende aus erst eine halbe englische Meile hinein, die ganze nöthige Weite aushöhlen. Ueberhaupt ist bis jetzt Alles so angelegt, daß alle Kühnheit durch Vorsicht beschränkt und gesichert werden soll. Und so wird es hoffentlich spätestens in zehn Jahren ununterbrochen mit Dampf von und nach dem Brennpunkte des europäischen Weltverkehrs, Geld- und Creditmarktes, von und nach allen Hauptstädten Europas Tag und Nacht hin- und herdonnern, und die dreihunderttausend jährlichen seekranken Canalpassagiere werden zu drei Millionen munteren Reisenden werden, denen jedes Opfer an Neptun gespart wird. Die kaufmännischen und gesellschaftlichen Vortheile dieses Unternehmens sind jetzt kaum übersehbar. Die unmittelbare Verbindung der zwei Hauptstädte des westlichen Europas und damit zugleich aller europäischen Eisenbahnnetze und der Weltmeerhäfen weitet das Gebiet der völkerverbindenden Geschäfts- und Vergnügungsreisen mittelbar über die ganze runde Erde aus. Und so wird hoffentlich dieser englisch-französische Canal-Eisenbahn-Tunnel auch zu einem haltbaren Verbindungsgliede zwischen den Völkern werden; denn nur durch materielle und geistige Verbrüderung können sich diese einander fördern, die friedliche Weltcultur sichern und pflegen, dem verzehrenden bewaffneten Frieden seine immer tödlicheren und massenhafteren Geschosse aus den Händen winden und uns von den Uebeln befreien, mit denen die modernen Staaten sich gegenseitig die gesunde Existenz verkümmern.

Und nun noch ein Wort über den Canal selbst. Er wird von den beiden Gestaden Englands und Frankreichs gerade da gebohrt, wo sie sich am nächsten kommen, das heißt eine gute Strecke südlich von Calais und fast ebensoweit nördlich von Dover. Dort laufen auch die englischen und französischen Eisenbahnen in mehreren Hauptadern zusammen. Auf der französischen Seite verbinden diese die Küste unmittelbar mit Boulogne, Amiens und Paris, von da also auch mit Deutschland und andererseits mit dem dichten belgischen Eisenbahnnetze. Die bei Dover mündenden Bahnen verbinden fast das ganze Schienennetz Englands und verzweigen sich in und bei London in Hunderte von unter- und überirdischen Stationen. Zwischen den beiden gewählten Punkten ist auch der Meeresboden und die doppelte Kalkschicht darunter sehr günstig; letztere hat, wie durch Bohrungen ermittelt worden ist, an beiden Küsten eine Tiefe von durchschnittlich fünfhundert Fuß unter Hochwasser, welches auf der Tunnellinie in größter Tiefe nur hundertachtzig Fuß erreicht, so daß der hineingesenkte Westminsterthurm noch fünfundvierzig Fuß über die Oberfläche hervorragen würde. Bis jetzt ist man darüber einig, daß diese Tunnelröhre mindestens zweihundert Fuß unter dem Meeresboden gebohrt werde, obgleich, wie erwähnt, Lesseps seine Ueberzeugung dahin aussprach, daß fünfzig Fuß auch hinreichend sein würden. Bei der größten Tiefe wird der Schienenweg von der Mitte aus nur einen Fuß auf 2640 und vom Gestade nach den Landeisenbahnen hin auf je achtzig Fuß einen steigen.

Die Bohrungen, welche auf beiden Seiten an den gewählten Punkten vorgenommen wurden, ergaben an der englischen Sanct Margarethen-Bucht bis in eine Tiefe von fünfhundertvierzig Fuß einen zusammenhängenden Kalksteinboden. Erst darunter stieß man auf Sand und sogenanntes paläozoisches Gestein. Auf französischer Seite fand man den Kalksteinboden ununterbrochen zusammenhängend bis in eine Tiefe von fünfhundertzwanzig Fuß. Man brauchte dazu auf jeder Seite fast die ganzen Jahre 1866, 1867, 1868. Gleichzeitig wurde der Meeresboden dazwischen sorgfältig gepeilt und, wie gesagt, ungemein günstig gefunden.

Die Untersuchungen haben ergeben, daß die Tunnelröhre von der englischen Küste aus durch einen Kalksteinboden von vierhundertsiebenzig Fuß Tiefe unter Hochwasser gehöhlt werden könne und die ersten hundertfünfundsiebenzig Fuß aus weißem, die anderen darunter aus grauem Kalke bestehen. Auf der französischen Seite fand man siebenhundertfünfzig Fuß tiefen Kalksteinboden, die ersten zweihundertsiebenzig Fuß davon weiß, die anderen vierhundertachtzig grau. Die Annahme, daß der Meeresboden die ganzen zwanzig englischen Meilen lang ohne Unterbrechung aus derselben Masse in etwa derselben Tiefe bestehe, kann zwar nicht bis über alle Zweifel erhoben werden, ist aber geologisch im höchsten Grade wahrscheinlich. Darauf hin will man’s nun endlich wagen. Und Goethe ermuthigt mit Recht: „Dem Wagenden ist oft Fortuna hold.“ Sowohl die Franzosen wie die Engländer, welche bis jetzt an der Spitze des Wagnisses stehen, gelten für wissenschaftlich und praktisch erprobte Männer. Auf englischer Seite sind es Lord Richard Grosvenor und William Hawes als Vorsitzende der Commission; auf französischer Michel Chevalier, der von dem tüchtigen Ingenieur und Schöpfer des ganzen Planes Thomé de Gammond unterstützt wird. Die englischen Ingenieurs sind Sir John Hawkshaw und Brunlees. Sie haben in Nr. 5 Victoria-Street, in dem Westminstertheile Londons und in der Nähe des großartigsten Eisenbahnnetzes, über welches fast Tag und Nacht alle fünf Minuten, während der Geschäftszeit auch viel öfter, Züge hin und her und oft in größter Tollkühnheit wirr durcheinander zu laufen scheinen, ihr Bureau eröffnet, wo der bis jetzt einzige Secretär Bellinham schon so viel zu thun hat, daß er sich immer mehr Schreibgehülfen anschaffen muß. Im Laufe des Jahres soll die Ausmeißelung der zunächst engeren Röhre gleichzeitig von beiden Seiten beginnen. Möge ein glückliches Ende das Werk krönen!

H. Beta.