Eine Blutsühne nach zwanzig Jahren

Textdaten
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Autor: Theodor Kirchhoff
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Titel: Eine Blutsühne nach zwanzig Jahren
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 18, S. 302–306
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[302]
Eine Blutsühne nach zwanzig Jahren.
Von Theodor Kirchhoff.


San Francisco, am 31. März 1877.

Der 16. September des Jahres 1857 war Zeuge von einem der schändlichsten Verbrechen, welches die amerikanische Geschichte aufzuweisen hat, der Metzelei einer Emigranten-Karawane in Mountain Meadows im Territorium Utah, wobei gegen hundertfünfzig Emigranten, Männer, Frauen und Kinder, von den Mormonen und den mit ihnen verbündeten Indianern verrätherischer Weise hingemordet wurden. Fast zwanzig Jahre lang blieb die entsetzliche Blutthat, welche Brigham Young stets den Indianern allein zur Last gelegt hatte, ungesühnt, bis die Gerechtigkeit endlich den Haupttheilnehmer an jener Metzelei in der Person des Mormonenältesten John D. Lee ereilt hat.

Bekanntlich hatten die Mormonen, ehe sie ihr gegenwärtiges hierarchisches Gemeinwesen unter Brigham Young’s Leitung in Utah gründeten, in den östlichen Unionsstaaten Ohio, Missouri und Illinois gelebt, wo sie von den ihre Religionsgebräuche hassenden Hinterwäldlern verfolgt und von Ort zu Ort getrieben wurden. Diese Verfolgungen gipfelten in der Ermordung des Propheten Joseph Smith in dem Städtchen Carthage bei Nauvoo in Illinois (27. Juni 1844). Die Wanderung der Mormonen von den Ufern des Mississippi nach dem Thalbecken am großen Salzsee unter der Führung von Brigham Young und die Gründung des neuen Mormonenstaates Zion im Innern des Continents gehören der Geschichte an.[1] Bei den Mormonen herrschte, namentlich während der ersten Jahre nach ihrer Vertreibung, ein intensiver Haß gegen alle „Gentiles“ (Nichtmormonen), welchen Brigham Young für seine selbstsüchtigen Pläne vortrefflich zu verwerthen verstand. Wer seinen Verordnungen widersprach oder ihm sonst unliebsam war, verschwand oft auf räthselhafte Weise, meistens während einer „Reise auf’s Land“, welche „Unfälle“ Brigham den Indianern zuzuschieben pflegte. Es ist jetzt jedem Unparteiischen klar, daß die im Dienste der Mormonenkirche stehenden Daniten oder „Racheengel“ die Henkersrolle bei fast allen solchen „Unfällen“ gespielt haben. Das Hauptamt der Daniten scheint jedoch darin bestanden zu haben, die Mormonen an solchen zu rächen, welche sie vor ihrem Auszug aus den „Staaten“ verfolgt hatten.

Im Spätsommer des Jahres 1857 verbreitete sich die Kunde in Salt Lake City, daß ein aus etwa einhundertfünfzig Personen bestehender Emigrantenzug mit vierzig Wagen, achthundert Rindern, sechszig Maulthieren und Pferden und vieler werthvollen Habe von Arkansas nach dem südlichen Californien unterwegs sei und demnächst durch jene Stadt kommen werde. Die Mormonen waren zu damaliger Zeit in furchtbarer Aufregung wegen der sich gegen sie von der Regierung in Washington vorbereitenden Bundesexecution.

Als die Emigranten nach ihrem überaus mühsamen Marsche über die Ebenen, die fast pfadlose Gebirgswildniß der Felsengebirge und durch trostlos öde Salbei- und Alkaliwüsten endlich Salt Lake City erreichten und sich dort neu verproviantiren und für die Weiterreise stärken wollten, verweigerten ihnen die Mormonen Lebensmittel und sonstige Bedürfnisse und behandelten sie auf die nur denkbar abstoßendste Weise. Auf der Wanderfahrt weiter südwärts fanden sie bei allen Niederlassungen der „Heiligen“ dieselbe schnöde Behandlung. Niemand verkehrte mit ihnen, und finstere Blicke begegneten ihnen an jeder Thür. Nach mehreren Wochen einer solchen traurigen Reise erreichten sie ein grünes Thal im Gebirge (Mountain Meadows), welches etwa fünf englische Meilen lang und zwei Meilen breit war, wo sie ein Lager aufschlugen und einige Zeit zu verweilen gedachten, um ihre Thiere sich beim Weiden an den saftigen Gräsern erholen zu lassen und selbst frische Kräfte für den Zug durch die Wüsteneien nach dem südlichen Californien zu sammeln. Als sie am Morgen des 7. September ihre mühsame Reise fortsetzen wollten, wurden [303] sie plötzlich von Indianern angegriffen, bei deren erstem Feuer sieben Männer von Büchsenkugeln getroffen zu Boden sanken. Schnell bildeten die tapferen Arkansas-Leute eine Wagenburg, in welcher sie sich auf’s Beste verschanzten und den Kampf mit den Wilden auf Leben und Tod muthig Aufnahmen.

Ich lasse jetzt den ehemaligen Mormonenbischof John D. Lee weiter reden, indem ich einen Auszug aus dem Bekenntnisse bringe, welches er vor seiner Hinrichtung schriftlich niederlegte und das zuerst im „New-York Herald“ veröffentlicht wurde.

„Im Jahre 1836 wurde ich“ – so lauten Lee’s Worte – „in meiner damaligen Heimath Illinois mit einigen herumreisenden Mormonenpredigern bekannt, welche mich zu ihrem Glauben bekehrten. Ich verkaufte mein Eigenthum in Illinois und zog nach Missouri, wo ich mit dem Propheten Joseph Smith, mit Brigham Young und andern Häuptern der Kirche der ‚Heiligen vom jüngsten Tage‘ vertraut wurde. Später wurde ich in den Orden der Daniten zugelassen, deren Mitglieder feierlich schwören müssen, allen Befehlen der Priesterschaft der Mormonenkirche Folge zu leisten. Aus dieser Organisation wurden die ‚zerstörenden Engel‘ ausgewählt.

In Jackson County in Missouri nahm ich als Mormonensoldat thätigen Antheil an den Conflicten mit den ‚Gentiles‘ und war Polizist und Leibgardist des Propheten in Nauvoo. Nach seinem Tode erhielt ich dieselbe Stellung bei Brigham Young, reiste später als Unterhändler der Kirche viel in den Vereinigten Staaten umher und bekleidete angesehene Aemter in Utah. Als der Prophet Joseph Smith die Enthüllung über Polygamie erhielt, trat ich dem neuen Glauben sofort bei. Im Laufe der Jahre erwarb ich achtzehn Weiber, worunter sich eine Mutter mit ihren drei Töchtern befand. Die Mutter heirathete ich jedoch nur, um ihre Seele zu retten. Ich bin Vater von vierundsechszig Kindern, von denen vierundfünfzig noch am Leben sind. So war ich ein geachteter Mann in der Kirche der ‚Heiligen vom jüngsten Tage‘.

Die Mountain Meadows-Metzelei war das Resultat der directen Lehren von Brigham Young und geschah auf unmittelbaren Befehl einer Mormonenconferenz in Cedar City im südlichen Utah und im Auftrage des Obersten William H. Dame und Oberstlieutenant Isaac C. Haight.

Zu Anfang September reiste ich nach Cedar City, wo ich mit Haight zusammentraf, der Befehlshaber der Iron County-Miliz und zugleich Gouverneur jenes Staates in Zion war. Haight gab mir einen ausführlichen Bericht über die Emigranten, welche bei Mountain Meadows ein Lager bezogen hätten. Er bezeichnete dieselben als Räuber und Halsabschneider, die am Morde der Missouripropheten Theil genommen. Zugleich befahl er mir, eine Indianerbande zu holen, um mit deren Hülfe die Emigranten anzugreifen, ihr Vieh fortzutreiben und jene selbst umzubringen. (Lee war zu damaliger Zeit Indianeragent und besaß volle Controle über die Indianer.)

Ich brachte sofort eine Bande der südlichen Indianer zusammen und organisirte den Angriff. Haight bemerkte noch, als ich sagte, daß es verboten sei, unschuldiges Blut zu vergießen: ‚Alles ist in Ordnung. Wir wollen den Indianern die ganze Schuld aufbürden. Nicht ein Tropfen unschuldigen Blutes ist in der ganzen Emigrantengesellschaft. Wenn Du pflichtgetreu handelst, so soll Deine Belohnung groß sein im Königreiche Gottes; denn Gott wird Diejenigen segnen, welche unsern Beschlüssen gehorchen.‘

Bei Tagesanbruch am Dienstag Morgen griffen die Indianer den ‚Train‘ an, tödteten sieben und verwundeten sechszehn Emigranten. Sie selbst verloren dabei einige ihrer Krieger. Jetzt schickten die Indianer nach mir, um den Angriff zu leiten. Die ganze Gegend war in Aufstand, und sowohl Weiße wie Indianer eilten von allen Seiten nach Mountain Meadows. Am Donnerstag langte Major Higby an und brachte den Befehl von Cedar City, daß alle Emigranten, die sprechen könnten, getödtet werden sollten; nur die kleinen Kinder dürften Schonung erhalten. Achtundfünfzig Weiße und etwa fünfhundert Indianer hatten das ganze Lager umzingelt und unterhielten ein erfolgloses Feuergefecht mit den Emigranten. Major Higby sagte, es sei das Beste, wenn die Emigranten durch Verrath aus ihren Befestigungen herausgelockt würden. Er beauftragte mich, einer Parlamentärflagge zu folgen und einen Vertrag mit den Emigranten abzuschließen, ihnen Schutz und freien Abzug zu versprechen, wenn sie die Waffen niederlegten, und die Kranken und Verwundeten in die Wagen zu schaffen. Dann sollten die Truppen mit den Emigranten zusammentreffen und sie als Escorte begleiten, während sich die Indianer in den Hinterhalt legten. Den Indianern wurde alsdann bedeutet, daß sie die Frauen umbringen sollten; die Männer wurden der Miliz als Opfer bezeichnet. Ich und die Treiber der Wagen erhielten den Auftrag, die Verwundeten und Kranken zu ermorden.

Am Freitag Morgen pflanzten die Emigranten eine weiße Flagge auf; sie hatten den Vertrag angenommen, brachten die Verwundeten und Kranken in die Wagen und begruben die todten Männer. Als sie aus dem Lager zogen, waren sie in Thränen. Eine halbe Meile von dem Platze begann das Feuern, und ich tödtete mit den Treibern verabredetermaßen die Kranken und Verwundeten. Nur siebenzehn kleine Kinder, die entblößt und theilweise verwundet auf dem Felde lagen, blieben verschont. Die Schrecken der Metzelei spotteten aller Beschreibung. Haight sagte zu Dame: ‚Verdammt! Sie haben es so angeordnet,‘ – worauf Dame bemerkte, er habe nicht gewußt, daß es ihrer so Viele seien. Das Vieh trieben wir nach Iron Springs; die Wagen und anderes Eigenthum wurde in Cedar City auf Befehl der kirchlichen Behörden verkauft. Ein heiliger Eid band alle Brüder, die bei der Metzelei betheiligt gewesen waren und sonst davon wußten, zum ewigen Schweigen.

Haight gab mir den Auftrag, nach Salt Lake City zu gehen und Brigham Young Bericht abzulegen, und versprach mir große kirchliche Belohnung für das, was ich gethan hatte.

Zehn Tage nach der Metzelei bei Mountain Meadows stattete ich dem Propheten meinen Bericht ab und erzählte ihm Alles, was ich davon wußte. Er müsse uns beistehen und uns vor Verfolgung schützen. Brigham antwortete mir, daß er sich mit Gott unterreden werde. Als ich den Propheten am folgenden Tage besuchte, sagte er zu mir: ‚Bruder Lee, es ist nicht ein Tropfen unschuldigen Blutes vergossen worden. Gott hat mir gezeigt, daß unser Volk ein gerechtes Werk gethan hat und nur ein wenig übereilt handelte. Ich trete für Alles ein, was ihr gethan habt, und fürchte nur etwaigen Verrath von Seiten der Brüder. Gehe heim und sage ihnen, daß sie Alle verschwiegen sein sollen wie das Grab! Schreibe mir einen Brief, worin Du den Indianern jegliche Schuld beimißt! Ich werde dann den Vorfall an die Bundesbehörde in Washington City als ein Indianer-Massacre berichten.‘

Young war damals und noch zehn Jahre nachher mit meinen Handlungen einverstanden. Kurz nach dem Vorfall machte er mich zum Richter von Washington County und gab mir drei Weiber. Daß er mich jetzt verläßt, ist niedrige Feigheit. Zum Jahre 1868 wurde mir von ihm auf alle Weise geschmeichelt; erst dann wählte er mich zum Sündenbock, um mich für die Verbrechen meines Volkes leiden und die Folgen derselben tragen zu lassen. Alle meine Tagebücher und andere Privatschriften wurden auf Befehl von Brigham Young vernichtet, und es bleibt mir nur mein Gedächtniß, um einen Bericht über jene Schandthaten zu geben, welche im Namen Gottes und unter der Autorität des Propheten in Utah verübt worden sind.“

Hiermit schließt das Bekenntniß von John D. Lee, in seinem trockenen Styl gehalten, welches überall in Amerika eine ungeheure Aufregung hervorgerufen hat und das Mormonenproblem auf’s Neue auf die Tagesordnung setzt. Der Mörder hat sich augenscheinlich bemüht, seinen Helfershelfern auch noch nach seinem Tode dasselbe Schicksal zu bereiten, welches ihn ereilt hat. Offenbar war er der Ansicht gewesen, daß die Kirche ihn vor aller Strafe schützen werde. Als ihn diese schmählich verließ und gleichsam als Märtyrer ihrer Sache preisgab, muß sich seiner wohl eine unbeschreibliche Wuth bemächtigt haben, wie sie aus dem Bekenntnisse deutlich genug hervorleuchtet.

Die bei der Criminaluntersuchung gemachten Aussagen der Zeugen des Blutbades und Solcher, die Genaueres davon mittheilen konnten, sind wahrhaft schaudererregend.

Während der Belagerung, die vier Tage und Nächte dauerte, hatten die Emigranten keinen Tropfen Wasser, weder für die Gesunden noch für die Verwundeten, erlangen können, und die Leiden der Letzteren waren herzzerreißend. Eine nicht weit vom Lager fließende Quelle wurde von den Indianern auf’s [304] Strengste bewacht und Jeder niedergeschossen, der sich derselben zu nähern wagte. Am dritten Tage sandten die Belagerten zwei hübsch mit weißen Kleidern angezogene kleine Mädchen mit Trinkgefäßen nach der Quelle, in dem Wahne, daß der Feind die unschuldigen Kinder nicht belästigen werde. Trügerische Hoffnung! Die Wilden kannten kein Erbarmen und schossen hohnlachend die Kleinen an der Quelle zusammen. Als Lee unter der Parlamentärflagge mit den Emigranten unterhandelte, heuchelte er die tiefste Freundschaft für dieselben und versprach ihnen hoch und heilig, daß er sie gegen die Indianer schützen werde, wenn sie den Vertrag annehmen wollten. Er würde sie unter dem Schutze der Miliz nach der nächsten Mormonenniederlassung geleiten und dort mit dem Nöthigen versorgen, sodaß sie ihre Reise nach Californien fortzusetzen vermöchten.

Auf sein Wort bauend, legten die Emigranten die Waffen nieder und ein weiß gekleidetes junges Mädchen wurde aus der Wagenburg in’s Freie gesandt, um als Zeichen zu dienen, daß die Friedensbedingungen angenommen seien. Als die Emigranten, von der Mormonenmiliz escortirt, etwa eine halbe englische Meile vom Lager entfernt waren, wurde der Befehl gegeben, anzuhalten. Dies war das mit den Indianern verabredete Zeichen zur Metzelei, welche nun in ihrer ganzen Scheußlichkeit begann. Die Männer wurden niedergeschossen und scalpirt und aller Kleider beraubt, welche sich die Wilden zueigneten; den Frauen riß man die Gewänder in Fetzen vom Leibe, ehe sie ermordet wurden. Die von den Mormonen und Indianern an jener Schauerstätte verübten Schandthaten entziehen sich durch ihre Gräßlichkeit einer genaueren Besprechung. Man denke sich das grauenhafte Bild der ihre blutigen Scalpirmesser schwingenden Wilden, das Hohnlachen der entmenschten Miliz, den Hülferuf, das Jammern der verrathenen Emigranten! Nackt, mit durchgeschnittenen Kehlen und scheußlich verstümmelt blieben die Leichen unbeerdigt auf dem Blutfelde liegen, eine Beute den wilden Thieren. Ein Jäger, der zwei Wochen nach dem Blutbade zufällig die Stätte des Schreckens betrat, sagte in dem Processe aus, er habe dort so viele menschliche Skelete und von Wölfen und Geiern zerstreute Knochen gesehen, daß er entsetzt davon geeilt sei. Nur siebzehn Kinder wurden, wie gesagt, verschont, weil sie zu klein waren, um als verrätherische Zeugen der Metzelei den Mormonen gefährlich werden zu können. Lee tödtete zuletzt noch zwei Kinder, die ihm zu groß und klug vorkamen.

Die entsetzlichen Einzelheiten jener Schandthat, bei welcher Verrath und tückische List die wehrlosen Schlachtopfer einem erbarmungslosen Feinde preisgaben, die teuflische Kaltblütigkeit, womit die sich civilisirt nennenden Mormonen die Kranken und Verwundeten hinmordeten, – jene haarsträubenden Scenen, welche sich dort auf der grünen Oase in der Bergwüste des südlichen Utah vor zwanzig Jahren abgespielt haben, bilden zusammen eine Episode in der Geschichte, bei deren Lesen man den Glauben an die Menschheit verlieren möchte. Welche Ursache zur Rache die Emigranten aus früherer Zeit den Führern der Mormonen auch gegeben haben mögen – daß jene sich bei der Verfolgung der „Heiligen“ in Missouri betheiligt haben, wurde nie erwiesen –: ein so teuflisches Bubenstück wie die Metzelei von Mountain Meadows kann auf keinerlei Weise beschönigt werden, und einen schändlicheren Verrath als jenen kennt die Geschichte kaum.

Den von allen Seiten des Landes nach Washington gesandten Aufforderungen gegenüber, die Mormonenhäupter für jenes Blutbad verantwortlich zu halten, stellen deren Vertheidiger jetzt die Entschuldigung auf, daß die Mormonen durch die vorhergehenden Verfolgungen auf’s Aeußerste gereizt worden, daß die Metzelei bei Mountain Meadows weiter nichts als ein Ausbruch der Volkswuth der im südlichen Utah ansässigen Mormonen gewesen sei, welche in den durch ihr Land ziehenden Emigranten ihre alten Todfeinde erblickten, und daß Brigham Young und andere Kirchenhäupter nicht für das Blutbad, welches sie nicht hätten verhindern können, verantwortlich gemacht werden dürften. Die compromittirenden Angaben eines solchen Scheusals wie Lee könnte man unmöglich als Beweisgründe gegen die Kirchenhäupter geltend machen. Brigham Young, der die ganze Tragweite des Lee’schen Bekenntnisses sofort erkannte, hat denn auch gleich nachher auf telegraphischem Wege eine kurze Entgegnung veröffentlicht, worin er alle Schuld an dem Verbrechen von sich abwälzt. Ein von ihm am 22. März an den Herausgeber des „New-York Herald“ gesandtes Telegramm lautet folgendermaßen:

„An den Herrn James Gordon Bennett, New-York. Ihre Mittheilung habe ich soeben erhalten. Wenn Lee in seinem Bekenntnisse eine mich compromittirende Angabe gemacht hat, wie Ihr Telegramm vom 21. März andeutet, so erkläre ich hiermit, daß dieselbe eine bodenlose Lüge ist. Mein Lebenslauf ist Tausenden von ehrenhaften Leuten so wohl bekannt, daß Keiner von diesen auch nur auf einen Augenblick einer solchen Anklage Glauben schenken wird. Brigham Young.“

Das klingt nun allerdings sehr schön, und wir wollen hoffen, daß der Prophet seine Unschuld der ganzen Welt wird darlegen können. Aber selbst im günstigsten Falle kann er die Verantwortung, die „Daniten“ und die „zerstörenden Engel“ organisirt zu haben, nicht von sich abwälzen. Die sich über einen Zeitraum von beinahe achtzehn Jahren hinausziehende Criminaluntersuchung, durch welche Lee schließlich überführt und zum Tode verurtheilt wurde, zeigte die für Brigham sehr angenehme Thatsache, daß ein gewisser George A. Smith, zur Zeit der Metzelei bei Mountain Meadows Befehlshaber der Mormonenmiliz im südlichen Utah, welcher den Auftrag zur Ermordung der Emigranten von Salt Lake City nach Cedar City gebracht haben soll, vor dem Beginne des letzten Jury-Processes gestorben ist und daß folglich das wichtigste Glied im Zeugenbeweise gegen die Kirchenhäupter fehlt.

Der Proceß oder vielmehr die Processe gegen Lee und Dame, deren man allein von den Anführern habhaft werden konnte, begannen bereits achtzehn Monate nach der Metzelei bei Mountain Meadows. Es gelang den Mormonen jedoch mit Leichtigkeit, zu jener Zeit, als Brigham Young’s Macht in Utah eine fast souveraine war, die erste Anklage zu annulliren und die Anschuldigungen gegen Lee und andere „Heilige“ für nichtig erklären zu lassen. Als aber die Macht der Vereinigten Staaten in Utah von Jahr zu Jahr wuchs, zogen die Kirchenhäupter der Mormonen allmählich gelindere Saiten auf und erboten sich zuletzt sogar, zur Ueberführung der Schuldigen eine helfende Hand zu leihen. Brigham Young, der zu Lee gesagt hatte: „Kein Haar auf Deinem Haupte soll geschädigt werden, Bruder Lee,“ zog seine schützende Hand von ihm zurück, und im Juli 1875 gelang es endlich dem Vereinigten Staaten-Gerichte in Utah einen Criminalproceß gegen Lee allen Ernstes anzustrengen.

Dieser Proceß führte jedoch zu keinem Resultat. Die Vertheidigung bemühte sich, die Metzelei bei Mountain Meadows lediglich als einen Indianerüberfall hinzustellen. Lee wäre zufällig dabei zugegen gewesen, hätte aber selbst Niemanden ermordet. Das Resultat dieses Processes war, daß die Jury nicht zur Entscheidung kommen konnte. (Nach amerikanischem Gesetze muß die Entscheidung durch eine Jury einstimmig sein.) Die Jury bestand in diesem Falle aus neun Mormonen und vier „Gentiles“, von denen acht Mormonen und ein „Gentile“ für Lee’s Freisprechung gestimmt hatten. Das Vereinigte Staaten-Gericht ließ es jedoch nicht hierbei bewenden, sondern ordnete einen neuen Criminalproceß an, der im September 1876 begann. Diesmal war ein auffälliger neuer Geist über die wiederum aus Mormonen und „Gentiles“ zusammengesetzte Jury gekommen. Die Mormonen zeigten sich als die erbittertsten Zeugen gegen Lee, und das Resultat war eine einstimmige Verurtheilung Lee’s durch die Jury. Lee appellirte gegen das Urtheil an’s höhere Gericht, welches jedoch im Januar 1877 die Entscheidung der Jury bestätigte und zwar auf diese Weise, daß bestimmt wurde, Lee solle an Ort und Stelle seines Verbrechens erschossen werden.

Die Hinrichtung Lee’s fand am 23. März statt. Nur wenige Zuschauer, worunter Vertreter des „Herald“ und der „Tribüne“ in New-York und einiger in San Francisco erscheinenden englischen Tagesblätter, hatten sich in dem durch das Blutbad der Emigranten historisch gewordenen Thalgrunde von Mountain Meadows im südlichen Utah eingefunden. Hundertfünfzig Ellen von der Stelle, wo Lee auf seinem Sarge saß, um das Feuer der Soldaten zu empfangen, lag das bereits in Trümmern gefallene „Monument“, jetzt nur noch ein Haufen von losen Steinen, welches vor zwanzig Jahren als ein Wahrzeichen der grauenhaften Metzelei hier errichtet worden war. Die ehemalige grüne Oase in der öden Gebirgswildniß war seit jener Zeit zur Wüstenei geworden, indem eine Wasserhose das Thal [305] im Jahre 1862 total verheerte und mit Schutt und Steingeröll von den umliegenden Höhen übersäete. Es mochte wohl dem Mörder, dessen letzte Worte ein Fluch auf Brigham Young waren, sein, als habe Gott selbst die Stätte der grauenhaften Unthat verflucht. – Das Feuer von fünf mit Zündnadelbüchsen bewaffneten Regulären that prompt seine Schuldigkeit. Ein kurzes Commando, und Lee lag, von fünf Kugeln im Herzen durchbohrt, als Todter bei seinem Sarge, welcher mit den Ueberresten des Mörders seiner Familie in Cedar City abgeliefert wurde.

In einem Alter von sechsundsechszig Jahren ein halber Greis schon, büßte Lee die Schandthat, welche er im rüstigen Mannesalter vollbracht hatte. Sein Bekenntniß und seine Hinrichtung sind wie ein finstrer Schatten über das Mormonenvolk gefallen und haben den Glauben an die „von Gott eingesetzte“ [306] Priesterschaft bei demselben tief erschüttert. Der Staatsanwalt der Vereinigten Staaten wird, wie es heißt, bald einen energischen Versuch machen, auch die anderen Haupttheilnehmer am Morde der Emigranten dem Arme der Gerechtigkeit zu überliefern. Bis jetzt ist es immer noch nicht erwiesen, wer den ersten Befehl zur Metzelei bei Mountain Meadows erlassen hat. George A. Smith ist, wie schon erwähnt wurde, gestorben, und Dame, Haight, Higby und Lee befanden sich nur in abhängiger Stellung unter ihm. Vermuthlich war Lee nicht der erste Urheber des schändlichen Bubenstücks, doch es stempelt ihn der Verrath, den er dabei an den Emigranten ausübte, zu einem Ungeheuer in Menschengestalt. Brigham Young aber, in dessen Hand es zweifelsohne lag, die Schandthat zu verhindern, hat das „Mene tekel“ gewiß schon deutlich an der Wand erkannt. Es ist Abend bei ihm geworden, und sein Stern ist im Untergehen. Seinen nicht zu verkennenden Verdiensten um die Cultur, für welche er aus einer Wüste im Innern des Continentes einen blühenden Garten geschaffen hat, verdankt der jetzt sechsundsiebenzigjährige Prophet es wohl allein, wenn die Centralbehörde der großen Republik ihn seine Tage in Frieden beschließen läßt und nicht weiter den Schleier zu lüften versucht, der seine etwaige Mitwissenschaft um die Metzelei von Mountain Meadows verhüllen mag.


  1. Die Entstehungsgeschichte der „Heiligen vom jüngsten Tage“ und ihrer Dogmen habe ich im ersten Bande meiner „Amerikanischen Reisebilder“ eingehend erörtert.
    D. Verf.