Ein verlorener Posten des Deutschthums
Im Jahre 1854 fuhr ich auf der Eisenbahn von Verona nach Venedig. Als bescheidener Reisender benutzte ich die dritte Classe, die mir dabei den Vortheil gewährte, mit dem Volke in weit unmittelbarere Berührung zu kommen, als in einer vornehmeren Wagenclasse. Bei der Station Vicenza stiegen zwei Herren ein, ein Mann von etwa sechsunddreißig Jahren, im Costüm der dortigen Landgeistlichen, und ein etwas älterer, dem Aussehen nach ein behäbiger Landwirth. Die beiden neuen Passagiere fanden in dem bereits ziemlich besetzten Coupé Bekannte. Man begrüßte einander, und bald war das Gespräch, welches im Dialecte der dortigen Gegend geführt wurde, im besten Gange.
Deutsche Typen sind in der Lombardei und im Venetianischen gerade nichts Ungewöhnliches. Mein Gegenüber, der muthmaßliche Pächter, hatte jedoch ein so urdeutsches Gesicht, daß es mich wirklich überraschte. Hätte der Mann nicht Italienisch gesprochen, so würde ich ihn unbedingt für einen Landsmann gehalten haben. Noch mehr aber wurde ich überrascht, als die Beiden während einer Pause der allgemeinen Unterhaltung mit einander in einem Dialecte zu sprechen begannen, dessen rauhe, harte Accente durchaus nichts Italienisches hatten. Die Sprache klang fast wie Deutsch in der oberbairischen oder schlesischen Mundart; aber obwohl ich mit der gespanntesten Aufmerksamkeit hinhorchte, konnte ich doch nichts davon verstehen, wenn mir gleich hie und da ein Wort bekannt vorkam.
„Was sprechen die Herren für eine Sprache? wenn es erlaubt ist zu fragen,“ sagte ich auf Italienisch zu dem Landgeistlichen, der neben mir saß.
„Wir sprechen Cimbrisch, mein Herr,“ lautete die verbindliche Antwort. „Sie haben wohl noch nie die Sprache der tredici comuni vernommen, nicht wahr?“
Der dreizehn Gemeinden? Richtig, davon hatte ich gehört! Aber so weit ich mich erinnerte, waren es nur sieben deutsche Gemeinden, die sogenannten sette comuni, die hier mitten in dem venetianischen Flachlande eine vereinsamte deutsche Sprachinsel bildeten.
„Man sagt gewöhnlich die sette comuni,“ versetzte der freundliche Abbate auf meine weitere Frage, „aber eigentlich sind es dreizehn und genau genommen noch mehr, in denen noch Cimbrisch gesprochen wird. Da ist Schio, Ricoaro, Toara, Thiene, Arzignano, Asiago, Merostica, Agigliaro, Enego, Bassano, Cassuna und noch verschiedene andere. Interessirt sich der Herr vielleicht für unsere Sprache?“
„Als Deutscher interessire ich mich allerdings für diesen verlorenen Vorposten des Deutschen,“ erwiderte ich.
„Entschuldigen Sie, mein Herr,“ versetzte der Abbate, „unsere Sprache ist das alte Cimbrisch, aber nicht Deutsch. Wir sind Nachkommen der Cimbrer, vor denen einst das allmächtige Rom gezittert hat, aber mit den Tedeschi haben wir nichts gemein.“
Und nun folgte eine lange, gelehrte Abhandlung über die Cimbri, der man jedoch anmerkte, daß sie nicht auf den festesten Füßen stand. Die Tedeschi waren eben damals furchtbar verhaßt in Italien. Kein Wunder, daß der wackere Abbate nichts von der deutschen Verwandtschaft wissen wollte und sich deshalb um so eifriger auf seinen cimbrischen Ursprung steifte. Auf meine Frage, ob es Druckschriften in der „cimbrischen“ Sprache gebe, wußte er mir nichts weiter zu nennen als den „Kloane Catechismo vor de siben Kaméün.“
Daß es nichts ist mit den „Cimbern“, erfuhr ich später aus sprachwissenschaftlichen Arbeiten über den deutschen Dialect der „sieben Gemeinden“. Die Bewohner sind ganz einfach deutsche Einwanderer aus Oesterreich und Baiern, deren Ansiedelung sich, meines Wissens, urkundlich nur bis in’s elfte, zwölfte und dreizehnte Jahrhundert zurückverfolgen läßt. So stammt zum Beispiel die dortige Familie Verlati aus Baiern. Ihr Ahnherr, Johann Werl, kam 1014 mit Kaiser Heinrich nach Italien. So wird ferner ein Bertholdus Zuckele und ein Heinrich Dinter im Jahre 1363 in Pieve bei Schio urkundlich erwähnt. Ich besitze ein Verzeichniß deutscher, nur zum Theil italienisirter Namen von alten, in der Provinz Vicenza ansässigen Familien, das mehrere hundert Namen umfaßt. Für meinen speciellen Zweck, nämlich den Lesern der Gartenlaube ein Bild der unaufhaltsam fortschreitenden Verwelschung unserer Stammesgenossen im Venetianischen zu bieten, ist jedoch der oben erwähnte Kloane Catechismo weit geeigneter. Das nur 39 Seiten umfassende Büchlein, welches der Bischof Modesto Farina von Padua im Jahre 1842 neu auflegen ließ (die erste Auflage erschien 1813), weil er, wie er in [51] der Vorrede sagt, „sich bei seinen Besuchen in jener Gegend überzeugt habe, daß man in verschiedenen Dörfern (paesi) noch immer denselben Dialect spricht“, führt uns die Sprache in ihrer heutigen Gestalt so lebendig vor, daß man auch ohne linguistische Fachbildung den Proceß der Auflösung und Verschmelzung mit dem Italienischen leicht verfolgen kann. Es ist nur ein ganz kleines Glied des riesigen deutschen Volkskörpers, das uns hier abstirbt, aber darum kann uns sein Schicksal doch nicht gleichgültig sein. Werfen wir also einen Blick in den „kleinen Katechismus der sieben Gemeinden“.
Greift man den ersten besten Satz aus dem die Literatur unserer transalpinischen Stammesgenossen repräsentirenden Büchlein heraus, so ist es dem des Hochdeutschen kundigen Leser nahezu ebenso unverständlich wie etwa das Althochdeutsche oder das Gothische. Man betrachte zum Beispiel die folgende Stelle:
Brumme de natura un de Divinità von óander ist de natura un de Divinità von den andarn peden och.
Das klingt beinahe wie eine wildfremde Sprache, und doch ist es ganz einfach ein arg verbauertes Deutsch, durchspickt mit fremden Wörtern, dessen Orthographie dem Verfasser augenscheinlich nicht wenig Schwierigkeit gemacht hat. Er war gezwungen, die halb verschluckten Laute zu reproduciren, so gut es eben ging. Die festen grammatikalischen Formen sind abgestumpft und verwischt, die Artikel klingen blos an, die Vocalisation ist unrein, gerade wie bei der mundfaulen Sprache unserer gemeinen Leute. Die einzige Form, welche eine wirklich sprachliche Abweichung bietet, ist das erste Wort Brumme, das jedoch mit „brummen“ durchaus nichts gemein hat, sondern ganz einfach „warum“ heißt, nur mit dem Unterschiede, daß es, gerade wie das italienische perchè, sowohl „warum“ als „weil“ bedeutet. Wir haben hier gleich einen kleinen Beleg für die bereits so weit fortgeschrittene Verwelschung. Der Satz selbst lautet wie folgt:
„Weil die Natur und die Göttlichkeit von einem andern (d. h. von dem einen), ist die Natur und die Göttlichkeit der beiden andern auch.“
Der Einfluß des Italienischen zeigt sich ferner, abgesehen von den ganz in die Sprache hereingenommenen Fremdwörtern natura und divinità, besonders in der Stellung des Wortes ist, welches nicht mehr nach deutscher Art an das Ende des Satzes trat, sondern nach romanischer Weise voransteht. Bei dem Worte óander sind der Artikel und das folgende Wort zusammengezogen; dabei ist das Sprachgefühl schon so abgestumpft, daß der „Cimber“ „von einem andern“ sagt, anstatt „von dem einen“. Italienisch ist die Wendung nicht, denn hier heißt es dell’ uno (des einen) wie im Deutschen. Peden heißt „beiden“ und och heißt „auch“; die Formen de und un sind mundfaule Verstümmelungen von „die“ und „und“.
Wie tief das italienische Element in den deutschen Sprachkörper eingedrungen ist, beweisen nicht nur die massenhaften Fremdwörter, sondern auch, und mehr noch, die ganz italienischen Sprachwendungen, welche oft einen gar seltsamen Eindruck machen. Was die Fremdwörter betrifft, so bietet die Verwelschung des Deutsch der „Siben Kameün“ ein höchst anschauliches Bild davon, wie Mischsprachen entstehen. Man sieht hier denselben Proceß vor sich gehen, den z. B. einst das Englische durchgemacht hat. Bekanntlich sind im Englischen die Ausdrücke, welche abstracte Begriffe, Kunstproducte, Präparate, Einrichtungen des verfeinerten Lebens etc. bezeichnen, vorwiegend dem normannischen Sprachschatze entnommen, während der Kern der Sprache deutsch geblieben ist. Man vergleiche z. B. calf und veal, ox und beef, high und sublime, god und divinity, hut und cottage etc. Ganz dieselbe Erscheinung bietet das Deutsch der sieben Gemeinden. Hier sind alle abstracten Begriffe fast ausschließlich italienisch, zuweilen zwar mit einer deutschen Endung, aber öfter noch ohne dieselbe. So heißt das Wort „Geist“ stets spirito, „reiner Geist“ ist puaret (puro) spirito; Dreifaltigkeit, trinité; Menschwerdung, incarnaziun; Erlösung, redenziun; Stolz, superbia; Glaube, fede; Hoffnung, speranza; Nächstenliebe, carità; Versuchung, tentaciun; Sinn, minte (italienisch mente) etc.
Ich erwähnte oben, daß die vielen italienischen Sprachwendungen in dem Deutsch der „sieben Gemeinden“ oft einen ganz merkwürdigen Eindruck machen. An diesen grellen Italianismen merkt man, daß dem Volke das deutsche Sprachbewußtsein schon fast gänzlich abhanden gekommen ist. Ein paar Beispiele mögen als Belege dienen. Bekanntlich gebraucht die italienische Sprache das reflexive Zeitwort weit häufiger als die deutsche. Besonders wird das deutsche „man“ im Italienischen durchweg mit „sich“ und dem rückführenden Zeitwort umschrieben. So sagt z. B. der Italiener anstatt „was man nicht sieht“ reflexiv: „was sich nicht sieht“, che non si vede. Das Deutsch der sieben Gemeinden ahmt die Wendung getreulich nach: ba (was) sich net sighet. Der Satz: „Er ist Mensch geworden“ heißt italienisch: si è fatto uomo, wörtlich „hat sich Mensch gemacht“, und gerade so drückt sich das verwelschte Deutsch aus: hat sich gemacht man. Dabei sind, wie in allen romanischen Sprachen, die Begriffe „Mann“ und „Mensch“ in einen zusammengeflossen. Anstatt „heißt“ sagt man rufetsich ganz wie das italienische sichiama, französisch s’appelle. Auch die doppelte Verneinung ist gewissenhaft nachgeahmt, z. B. Ear hat net koan korp, „er hat keinen Körper nicht“. Doch ist hierbei nicht zu vergessen, daß die Verneinung bei „kein“ in der älteren deutschen Sprache noch gäng und gebe war.
Noch auffallender als in den bisherigen Beispielen, die ich auf's Gerathewohl unter hundert ähnlichen herausgegriffen habe, zeigt sich die Verwelschung in dem Gebrauche des besitzanzeigenden Fürworts mit dem Artikel. Anstatt „unser Herr“ sagt man dar unzar Herre (der unsere Herr), ital. il nostro signore; ebenso d’eür imagine, ihr Bild, ital. la loro imagine etc. Ebenso erscheint, wie im Italienischen, der Infinitiv äußerst häufig sowohl mit dem bestimmten als mit dem unbestimmten Artikel. So wird z. B. die Sünde als an volghen net Gotte me Herren, das heißt als „ein Gott dem Herrn nicht Folgen“ (ital. un non seguire etc.) definirt. Der Geiz ist an sainan zo viil vor z’guut von disar earden, d. h. ein zu viel für das Gut dieser Erde sein; der Stolz ist an bélensich högarn übar d’andarn, ein sich Erhöhenwollen über die Andern, wobei genau wie im Italienischen das Fürwort „sich“ an den Infinitiv angehängt ist (ital. un volersi inalzare sopra gli altri). Auch zeigt sich das enteilende Sprachbewußtsein recht deutlich darin, daß nahezu alle starken Zeitwörter zu schwachen geworden sind. So heißt „gethan“ getant; „gestanden“ gastannet etc.
Anstatt weiterer sprachwissenschaftlicher Vergleichungen dürften dem Leser vielleicht einige Strophen des Halghe Gasang von der Geburt Christi erwünscht sein, aus denen man ein weit unmittelbareres Bild der Sprache der siben Kameün gewinnen wird. Ich gebe dieselben mit der Uebersetzung.
Darnach viartáusong jahr | Viertausend Jahre danach, |
Az dar Adam hat gavélt, | Als der Adam hat gefehlt (gesündigt), |
Ist kemmet af disa belt | Ist gekommen auf diese Welt |
Dar ünzar libe Gott. | Unser lieber Gott. |
Köt von Engheln in Schafarn | Verkündet von Engeln den Schäfern, |
Baz gang in Betlem gamacht | Welche (wörtl. was) (einen) Gang |
nach Bethlehem gemacht, | |
Seü gheent in de mittenacht | Sie gehen in der Mitternacht |
Zo naighen[1] z’halghe Kint, | Zu verehren das heilige Kind, |
Gabüart in bintar-zait | Geboren zur Winterszeit |
In armakot un vrise; | In Armuth und in Frost; |
Z’öxle allóan, mit plise,[2] | Das Oechslein allein, mit dem Felle, |
Un z’esele haltenz barm. | Und das Eselein halten es warm. |
Soviel als Probe der Sprache unserer verwelschten Stammesgenossen. Ich habe dieselben einen verlorenen Posten des Deutschthums genannt, und sie sind in der That für uns verloren. Alle Schulen, die ganze Intelligenz jener Districte sind italienisch, und ehe noch die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zurückgelegt sein wird, dürfte auch die letzte Spur des Deutschthums dort verwelscht sein. An diesem sich mit Naturnothwendigkeit vollziehenden Processe ist nichts zu ändern, und das gewaltige Deutschland hat keinen Beruf, sich mit krankhaften Nationalitätsbestrebungen abzugeben. Wenn wir also die Deutschen der „sieben Gemeinden“ von uns scheiden sehen auf Nimmerwiederkehr, so haben wir dabei wenigstens die Beruhigung, daß sie in einem befreundeten Culturvolke aufgehen. Der größte humoristische Dichter des neuen Italiens, Arnaldo Fusinato, ist aus Schio, einer der Sette comuni, gebürtig. Wir sehen hieraus, daß unsere verwelschten Landsleute uns in der neuen Volksheimath wenigstens keine Schande machen.