Ein tiroler Bauerntheater

Textdaten
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Autor: Max Haushofer
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Titel: Ein tiroler Bauerntheater
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 444, 446–447
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ein tiroler Bauerntheater.

Von Max Haushofer.

Seit die Oberammergauer mit ihrem Passionsspiel sich einen Weltruf erworben haben, sind an verschiedenen Punkten der Alpen und ihres Vorlands die dramatischen Neigungen, die dem Volke im Blute liegen, zu hellem Leben erwacht. Passionsspiele oder Volksschauspiele weltlichen Inhalts werden da und dort aufgeführt, in Brixlegg, in Meran, in Dornbirn und Schliersee, und diese tiroler, vorarlberger und oberbayerischen Bauern stellen ihr Licht nicht unter den Scheffel, sie sorgen dafür oder man sorgt ihnen dafür, daß alle Welt von ihnen erfahre und komme, ihre urwüchsige Kunst zu bewundern. Ja die Schlierseeer haben sich von ihrem Meister und Impresario Konrad Dreher sogar auf Gastspielreisen in die Städte der Ebene mitnehmen lassen.

Neben diesen Bauernbühnen aber, die gleichsam unter den Augen der Welt emporgekommen sind und die, dank einer gewissen geschäftlichen Betriebsamkeit, ihre Rolle als Zugmittel für den Fremdenverkehr spielen, giebt es eine Reihe von anderen, auf denen auch Bauern Theater spielen, aber ganz für sich und unter sich, ohne Festausschuß und Vertreter der Presse. Einem solchen Bauerntheater gilt diesmal unser Besuch. Des Reiches Grenze liegt hinter uns. Zwischen dem bewaldeten Berghang und dem ruhig herabwogenden Innstrome rollt unser Bahnzug entlang, der alten Feste Kufstein entgegen, die mit ihren runden Türmen schon nahe herüberschaut. Hoch über Burg und Städtchen aber trotzen die gewaltigen Zinnen des Kaisergebirgs, mit blauen Schatten und grauweißen Lichtern, von Sommerwolken umtanzt.

Am Bahnhof zu Kufstein erwartet uns schon die kaiserlich österreichische Finanzwache, scharfäugig ausschauend nach jedem Gepäckstück, das etwa zollpflichtige Ware bergen könnte. Unser ganzes Gepäck aber ist eine vergnügte Sonntagsstimmung. Die ist Gott sei Dank noch nicht zollpflichtig. Unbehelligt durchwandern wir den Zollrevisionsraum und eilen über die Brücke ins Städtchen. Es ist zwölf Uhr; um zwei Uhr soll das Bauerntheater in Thiersee beginnen, also gilt’s Eile; denn man fährt dahin in etwa anderthalb Stunden; und eine halbe Stunde dürfen wir uns vergönnen, unseren Hunger zu stillen.

Man fährt dahin. Wie leicht ist das gedacht und gesagt! Während uns der Wirt zur „Post“ einen vortrefflichen Rehbraten vorsetzt, schickt er einen dienstbeflissenen Hausknecht zu den städtischen Rosselenkern, um ein Fuhrwerk aufzutreiben. Wir freuen uns riesig auf die Fahrt, schaut doch die Sonne so festtäglich auf den mächtigen Felsenturm des Peutling herab und spielt auf den glitzernden Wellen des Stroms, der unmittelbar zu unseren Füßen rauscht!

Da naht sich der Wirt. Eine verdächtige Bewegung seiner Achseln läßt nichts Gutes ahnen. Wahrhaftig – in der ganzen Stadt Kufstein mit ihrer ragenden Feste ist kein Roß mehr aufzutreiben! Der Wirt tröstet uns freilich mit der Bemerkung, die Straße sei so schlecht, daß ein Fuhrwerk gerade so lange Zeit brauche wie ein Fußgänger; aber der Trost erinnert doch sehr an den Fuchs mit den Trauben, denn die Sonne brennt heiß auf unseren Scheitel und es ist Mittag. Also denn zu Fuß! Aber den ersten Akt wird uns dieses ausgebliebene Roß wohl kosten.

Wir wandern über die Brücke zurück, nachdem uns der Wirt den Weg als einen nicht zu verfehlenden beschrieben hat. Wir finden auch richtig die Straße, die zum bewaldeten Thierberg hinanführt. Aber ein Dämon war’s, der diese Straße gebaut hat. Denn nachdem wir eine gute halbe Stunde auf ihr rüstig bergan geschritten sind, zeigt sie jene unheimliche Eigentümlichkeit, die wir schon an mancher Gebirgsstraße beobachtet haben, bei dieser aber am wenigsten erwartet hätten. Sie wird nämlich zusehends schmaler und unscheinbarer, sendet bald nach rechts, bald nach links einen kaum mehr sichtbaren Fußsteig ab und verflüchtigt sich selber schließlich zu einem sumpfigen Pfade, der sich zwar noch den Anschein giebt, als sei er einst befahren worden, in kürzester Zeit aber auch diese Maske fallen läßt und am Ufer eines kleinen Waldsees völlig zu Ende geht.

Wir sind in tiefster Wildnis. Verwunschen und verzaubert liegt der See vor uns, in welchem ein elegantes Badehäuschen wie ein kleiner weltvergessener Bau von Geisterhänden steht. Es ist ein entzückendes Waldgeheimnis, dieses rings von dunklen Fichten umrauschte wunderbar grüne Gewässer und der verschlossene zierliche Holzbau am Ufer. Sollte nicht im nächsten Augenblicke die Nixe dieses Waldsees aus diesem Hüttchen schweben und uns völlig verwünschen, daß wir den Weg in die Menschenwelt nicht zurückfänden?

Die Sache wäre sehr romantisch; aber wir wollen keine indianischen Pfadfindereien, sondern vorwärts nach dem Theater zu Thiersee. Mit verzweifelter Hast stürzen wir uns in den Bergwald, immer in der Richtung nach Thiersee zu vordringend. Ein steiler Felsabsturz scheint uns zu einem weiten Umweg nötigen zu wollen; da wird der harmlose Theatergang zum schneidigen Alpensport, und nach einer halbstündigen Kletterpartie finden wir uns endlich wieder auf einer Straße, wo wir tiefaufatmend den Wunsch nicht unterdrücken können, die Thierseeer Theaterdirektion möge doch in einem künftigen Jahre für einen oder zwei schlichte hölzerne Wegzeiger Sorge tragen.

Wenige Minuten später wandern wir in den anmutigen weiten Thalkessel von Thiersee ein. Der See, an dessen Ufer die Höfe der Gemeinde liegen, glitzert in der Nachmittagssonne; hoch über ihn schwingt sich die Felspyramide des Peutling in die klare Sommerluft am Hange grüner Hügel; von bewaldeten Bergzügen überragt, schimmern wohlanständige, gutgebaute Bauernhäuser. Viele tiroler Thäler übertreffen das Thierseeer Thal an Großartigkeit; die wenigsten aber gleichen ihm in Bezug auf sanfte Anmut der Landschaft und auf behäbige Heiterkeit der Wohnstätten. Ein flüchtiger Blick in das Haus eines Thierseeer Bauern, eine kurze Zwiesprach mit einem Inwohner genügt, um den Fremden darüber aufzuklären, daß er sich hier bei einem Völkchen befindet, welches auf seinem Boden und in seinem Brauche festgewurzelt steht, der Außenwelt nicht bedarf, aber gastfreundlich den Durchzug durch sein grünes Waldparadies gestattet. Im Gegensatze zu so vielen anderen Bergthälern sieht man hier nichts Armes, nichts Verkümmertes. Es mögen etwa hundertvierzig Häuser sein, die zu den Ortschaften Vorder- und Hinterthiersee und Landl gehören; aber fast jedes dieser Häuser ist ein stattlicher Bauernhof mit reichlichem Zubehör an fruchttragenden Feldern, üppigen Wiesen, Wald und Almweide. Und auf den Thierseeer Almen hausen nicht, wie das sonst in Tirol üblich ist, wüste „Schafler“ und „Melker“ männlichen Geschlechts, sondern hier ziehen wie in den bayerischen und oberösterreichischen Voralpen die Mädchen des Dorfes allsommerlich nach den Almen hinauf, deren ergiebige Weidegründe sich weit über selten begangene, kaum gekannte Berglandschaften hin erstrecken. Und daß die Thierseeer Mädchen schön sind, glauben wir nach den wenigen Proben, die wir davon gesehen haben, ohne weiteres. Aber auch die Männer sind von stattlicher Art, hochgewachsen und schlank, mit offenen verständigen Gesichtern und entschiedenem, [446] dabei aber doch gutmütigem Wesen. Man merkt es ihnen an, daß ihr Thalgrund nicht karg in der Ernährung seines Völkchens ist und daß sie weder in völliger Bergeinsamkeit verwildert noch auch durch allzuhäufige Berührung mit der großen Welt überfeinert sind.

Die wehrhafte Bevölkerung des Thierseeer Thales hatte schon zum öfteren Gelegenheit, ihre Heimat gegen eingedrungene Feinde zu verteidigen. Im Jahre 1703 warfen die Thierseeer bayerische und französische Heerhaufen zurück, und als die Franzosen hundert Jahre später, im Jahre 1805, durch den Hörhager Paß eindringen wollten, wurden sie ebenfalls von den Thierseeer Scharfschützen mit blutigen Köpfen zurückgewiesen. Nicht besser erging es den Bayern im Jahre 1809 am Paß Hörhag und am „Kiechlsteg“. Und wenn die besten Namen der tiroler Volkskämpfer genannt werden, dann steht immer auch Jakob Sieberer aus dem „Landl“ bei Thiersee mit in erster Reihe, ein Kampfgenoß Speckbachers, der als österreichischer Major auf dem Rückmarsch aus Italien verstarb.

Dieser kriegerischen Erinnerungen aber wollen wir hier bloß flüchtig gedenken, weil sie mit zum Gesamtbilde von Thiersee gehören. Was uns heute zunächst angeht, ist ja das Thierseeer Theater. Es ist unenträtselt, weshalb sich gerade in gewissen Ortschaften die eigenartige Freude an der dramatischen Kunst erhalten hat, deren Bethätigung bis in das ferne Mittelalter zurückreicht. Soweit die deutsche Zunge klingt, findet sich nirgeuds so viel volkstümliches Theaterspielen als im tiroler Unterinnthale und den angrenzenden bayerischen Landschaften. Die Unternehmer sind in der Regel ortsansässige Gesellschaften, die nicht um des Erwerbs willen, sondern aus reiner Freude an der dramatischen Muse ihr „Gspiel“ veranstalten. Die Stücke, welche aufgeführt werden, sind zur großen Mehrzahl aus den Federm ganz namenloser Dichter geflossen; einzelne entnehmen ihren Stoff der Bibel, die meisten sind Ritter- und Räuberstücke; immer aber haben sie einen moralischen Zug. Das Bauerngemüt will nämlich, daß auf dem Theater die Tugend belohnt und das Laster ordentlich bestraft werde, und da mit solchen Stücken nicht allein die Zuhörerschaft, sondern auch die Polizeibehörde und die Geistlichkeit am ehesten einverstanden ist, beherrschen dieselben die Bauernbühnen.

Ein anderes bezeichnendes Merkmal dieser Bauernstücke ist das Zurücktreten des weiblichen Elements. Darin bildet die tiroler Bauernkomödie den entschiedensten Gegensatz zum modernen französischen Drama, durch welches ja bekanntlich als roter Faden das „cherchez la femme“ hindurchläuft. Im tiroler Bauerndrama spielen meist nur wenige Personen weiblichen Geschlechts, sei es, weil die bäuerlichen Künstlerinnen in der That viel weniger dramatische Begabung zeigen als ihre männlichen Kollegen, sei es, weil das Volksbewußtsein einem vordringlichen Auftreten des schöneren Geschlechtes widerstrebt. Demgemäß sind auch Stücke, in welchen die Liebe zwischen unverheirateten Leuten zweierlei Geschlechts den Kern der dramatischen Verwicklung ausmacht, höchst seltene Ausnahmen. Eltern- und Kindesliebe, Gattenliebe, Erfüllung beschworener Gelübde, Reue über begangene Missethat, Habsucht und wilde Rachelust, Ehrgeiz und Herrschsucht, das sind die Seelenregungen und Lebensziele, aus welchen sich die tiroler Bauernkomödie aufbaut. Wer übriges einmal eine wirkliche Liebesscene auf einer solchen Bühne angesehen hat, wird den Bühnenleitern gerne zugestehen, daß sie recht haben, wenn sie dem Publikum möglichst selten Wiederholungen solcher Genüsse bieten.

Eine beliebte Zuthat zum Dramatischen bildet auch bei der tiroler Bauernkomödie die Musik, und es findet sich in jedem Orte, wo gespielt wird, auch ein oder das andere musikalische Dorfgenie, welches für diesen Teil sorgt. Abwechslung im Repertoire aber darf man nicht verlangen. Die Bühnen spielen gewöhnlich in jedem Jahre bloß ein Stück, und zwar während der Sommermonate jeden Sonntag nachmittag, bis die Herbstwaffenübungen die männlichen Bühnenmitglieder zu anderer Thätigkeit rufen.

Wie lange gerade das Theater zu Thiersee besteht, konnten wir nicht in Erfahrung bringen. Eine steinalte Frau erzählte uns, es sei schon gespielt worden, als sie noch ein Kind gewesen. Im Jahre meines Besuchs ist das einzige Stück des Thierseeer Repertoires „Ludwig der Heilige, religiöses Volksdrama in 5 Aufzügen von Karl Franz. Musik von Johann Obersteiner.“ Wir hätten uns gern den gedruckten Text des Stückes verschafft, erhielten aber die betrübende Auskunft, daß der Autor eben erst daran denke, das Werk drucken zu lassen.

Das Theater selber ist ein äußerst einfacher, hoher Bretterbau. Nur das Erdgeschoß enthält ein paar Fenster, neben denselben einige hölzerne Klappen. Wir nähern uns einem der Fenster, in der Hoffnung, daselbst ein Billet erhalten zu können. Aber da giebt es bloß Bierkrüge und hinter denselben ein Faß. Jenseit dieses Fasses aber sieht man in einem dunklen Garderoberaum einen gepanzerten Ritter und eine königliche reichgeschmückte Frauengestalt vergnügte Zwiesprache halten. Er bietet ihr den Krug, sie, ihrer königlichen Würde eingedenk, zögert eine Weile, hernach nimmt sie den Krug aber doch mit gnädigem Blick. Mittlerweile hat sich eine jener Holzklappen neben dem Fenster aufgethan, ein hemdärmeliger Kassierer erscheint und reicht uns aus einem Korbe, in welchem mit rührender Einfachheit Guldenzettel, Kupferkreuzer und Billetvorräte aufgestapelt sind, einen „ersten Platz“, worauf uns ein ebenfalls hemdärmeliger Logendiener unsern Platz anweist.

Purpurne Finsternis umschleiert zunächst unser Auge, denn man hat noch vor Richard Wagner das Prinzip durchgeführt, den Zuschauerraum zu verdunkeln. Ein sanfter Händedruck des Logendieners schiebt uns nach einer Stelle hin, wo wir, mit den Händen umhertappend, zuerst den Strohhut einer einheimischen Zuschauerin erwischen, hernach aber richtig die Lehne einer Bank finden, an welcher wir nach weiterem Umhertappen auch einen Sitz zum Herabklappen fühlen; zwar nur von Holz, aber doch leidlich bequem. Nun erst wenden wir den Blick der erleuchteten Bühne zu. Wir sehen das ganz neu gemalte Innere eines mittelalterlichen Festungsraumes, an einer Seite liegen, offenbar mausetot, wie Sardinen übereinandergeschichtet, einige menschliche Gestalten, die sich bei schärferer Betrachtung als getötete Sarazenen erweisen. Der ritterliche Kreuzfahrer aber, der sie erschlug, hält eben einen Monolog über sein Heldentum. Gleich der nächste Auftritt ist hochdramatisch, denn er zeigt uns den tapferen, aber verräterischen Ritter Simon von Coucy, den Bösewicht des Stückes, wie derselbe einen wohlgefärbten afrikanischen Feind zu Boden wirft, dessen schwarzes Leben mit seinem blanken Schwerte bedroht und ihn nötigt, seinen teuflischen Intriguen gegen die Kreuzfahrer, welchen er doch selbst angehört, zu dienen. Der Zweikampf dieser beiden ist mit einer gewissen technischen Virtuosität ausgeführt und zeigt uns, welche dramatischen Vorgänge die Lust und Stärke der Darsteller sind.

Den Verlauf des Dramas wollen wir indes nicht weiter verfolgen. Dasselbe beschäftigt sich mit dem unglücklichen Kreuzzug König Ludwigs des Heiligen nach Tunis, welcher nach der Geschichte mit dem Tode des Königs, der einer im Lager herrschenden Seuche zum Opfer fiel, und mit dem Rückzug der französischen Kreuzfahrer endete. Der Stoff ist für ein Bauerntheater gut gewählt, giebt er doch reichlich Gelegenheit zu allerhand ritterlichem Dreinschlagen, zur Entfaltung theatralischen Pompes, zur Anregung religiöser Empfindungen, ohne daß hierbei konfessionelle Gegensätze in Frage kämen.

Weit mehr als das Drama interessieren uns die Schauspieler und die Art, wie sie ihre Aufgabe durchführen. Es sind durchweg bäuerliche Dilettanten. Sie sprechen hochdeutsch, wie das Stück geschrieben ist, allerdings so, daß man bei jedem Satze den Tiroler ziemlich deutlich heraushört. „Main Könnik! Wüllstu den Hümel erstiermen? O Taiffell! Ich wül gern Battenstehle bei ühm ibarnemmen!“ In solchen dialektischen Scherzen geht der Dialog fröhlich fort, doch versteht man jeden Satz deutlich. Und man muß es den Mimen lassen: gelernt haben sie ihre Sache ganz tüchtig. Lampenfieber haben sie keines – wie sollten sie auch vor vier Lampen fiebern? Im Gegenteile, man nimmt den Eindruck mit, als ob jeder dieser strammen Burschen hinter der Coulisse mit Ungeduld auf sein Stichwort gelauert hätte, um dann mit vollem Behagen herauszutreten und sein Pathos loszulegen. Am besten spielen sie getragene Stellen; wo es gilt, auflodernde Leidenschaft bewegt zu geben, erscheint wohl etliches als ungelenk, namentlich sind die Arme und Beine ein etwas sprödes Material, von welchem nicht immer der richtige Gebrauch gemacht wird. Und wenn die ritterlichen Helden, ihre Schwerter schwingend, durch die Coulissen enteilen, um nach den Wällen von Tunis zu stürmen, fährt einem wohl eine Erinnerung an den Kriegstanz von Kongonegern durch den Kopf.

Was die Kostüme betrifft, so wurden unsere Erwartungen entschieden übertroffen. Historische Echtheit ist ja hier am wenigsten zu verlangen. Dafür zeigen sich die Kostüme farbig, recht farbig. Rot, gelb, grün und blau springt’s einem vor den Augen umher, daß es eine wahre Freude ist und man wird auch gar nicht gestört, wenn irgendwo unter einem Sarezenenkaftan ein Paar [447] Unterinnthaler schwarze Festbeinkleider zum Vorschein kommen. Von zweifelhafterem Werte sind die Waffen; diese Kreuzfahrerschwerter machen einen ausgesucht hölzernen Eindruck, während die Helme mitunter als geradezu mystische Kopfbedeckungen erscheinen.

Das sind indessen Kleinigkeiten, die nicht imstande sind, den tüchtigen Eindruck des Ganzen zu schwächen – um so weniger, wenn man sich erinnert, wie man schon manchmal in einem Hoftheater während einer Tragödie humoristisch angeregt ward.

Im Zwischenakte machten wir die Bekanntschaft jenes Tirolermädchens, deren Strohhut gleich beim Eintritt in unsere Hände geraten war. Es war ein wohlunterrichtetes Kind aus der Gegend von Kiefersfelden, ein bißchen kritisch angelegt. Sie hatte schon zu Brixlegg und Erl, auch in früheren Jahren zu Thiersee das „Gspiel“ mit angesehen und war daher einigermaßen erfahren. Das vorjährige Stück, welches sich mit den Wundern unserer lieben Frau zu Lourdes beschäftigte, hatte ihr viel besser gefallen, weil so „gar viel schöne Musik darin gewest“. Und weil sie zu Kiefersfelden selbst schon mitgespielt hatte, lobte sie natürlich ihr Kiefersfeldener Theater auf Kosten des Thierseeschen, welchen Lokalpatriotismus man ihr wegen ihrer glänzenden Augen und ihres schalkhaften Lächelns gern verzieh. Hernach zog sie gar aus einem schneeweißen Tüchelchen ein paar Schmalznudeln hervor und bot uns gastfreundlich eine derselben an. Leider wußte sie vom weiteren Verlaufe des Stückes nichts zu berichten. Uns hätte vor allem das Geschick des intriganten Ritters von Coucy interessiert. „Söllen boshaften Spitzbuabn“, meinte sie, hätte man in vier Stücke zerhacken sollen, und es sei noch viel zu gut für ihn, daß er sich selbst umbringen müsse. Auf unsere Frage, wie sich der Schurke ums Leben bringe, meinte sie: „Er wird sich wöll derstechen mit seim Sabel, der Kalfakter!“

So erfuhren wir wenigstens das Ende des Verräters Simon von Coucy. Damit waren aber auch unsere dramaturgischen Gespräche zu Ende; denn den letzten Akt durften wir nicht mehr mit ansehen, wenn wir den letzten Zug in Kufstein erreichen wollten. Unter den Klängen eines Trauermarsches, welcher fünf in verräterischer Weise geköpften französischen Rittern galt, verließen wir das Haus und traten hinaus in den Sonnenglanz der Berglandschaft. In der Nähe stand schon unser Wägelchen bereit, das uns nach Kufstein bringen sollte. Ein reizendes Fuhrwerk! Es war einer jener kleinen Wagen, wie sie die Bauern haben, um auf die Almen zu fahren: äußerst fest im Bau, aber arm an Bequemlichkeit; dafür mit einem mächtigen Gaule bespannt, der haarig ist wie ein Roß aus der Eiszeit und der das Wägelchen nach links und rechts herumschwenkt, als wär’s nur sein Frack!

So fuhren wir thalauswärts durch den Sommerabend, der mit rosigem Feuer die Zackenwände des Kaisergebirgs umfloß. Wir kamen ins Innthal hinaus, und bald trug uns der dröhnende Bahnzug wieder über die Grenze ins Reich.

„Kiefersfelden!“ ruft ein mächtiger Baß vor dem Fenster unseres Wagens. Dieser Name gemahnt uns wieder daran, daß auch in Kiefersfelden eine Volksbühne besteht, deren Mitglieder sich zumeist aus den Hammerschmiedgesellen des dortigen Eisenwerkes rekrutieren. Jetzt wird hier wieder gespielt, eine Zeit lang hatte die bayerische Polizei das Theater verboten, wohl in der Anschauung, daß es besser sei, wenn die Hammerschmiede an Sonntagnachmittagen in den Wirtshäusern umhertränken und sich die Köpfe blutig schlügen, statt im Dienste der Musen ihre Gemüter zu veredeln. Aber die Welt wird besser und die Polizei weiser; sie hat das Spiel wieder erlaubt. Und dies ist in der Ordnung. Denn man sage über diese Bauernbühnen, was man wolle, eines bleibt sicher bestehen: ein Volk, das im Kriege so für seine Heimat zu streiten weiß und im Frieden seine Sonntagsfreude in so idealem Streben sucht wie diese Unterinnthaler, das ist tüchtig und liebenswert in seines Wesens tiefstem Kern!