Ein schwerhöriges Familienmitglied

Textdaten
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Autor: H. K.
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Titel: Ein schwerhöriges Familienmitglied
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 876–878
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ein schwerhöriges Familienmitglied.
Beitrag zur Lehre vom gesellschaftlichen Verkehr.


Mit Recht bezeichnen wir das Auge als das edelste aller Sinnesorgane, und der Blinde darf um so mehr auf die Theilnahme seiner Mitmenschen rechnen, als der Verlust des Sehvermögens ihn der Selbstständigkeit seines Auftretens beraubt. Gerade diesem Umstande ist es zu verdanken, daß Mitgefühl und Nächstenliebe aller Orten sich den Blinden zuwenden, daß Unterricht und Versorgung derselben vielfach zum Gegenstande der staatlichen und Privatwohlthätigkeit geworden sind.

Anders steht es um die Gehörleidenden.

Wir brauchen nicht einmal die Extreme völliger Blindheit und Taubheit einander gegenüber zu stellen – schon der Vergleich der Schwachsichtigkeit und Schwerhörigkeit läßt den Unterschied erkennen. Wohl mag der Kurzsichtige die Folgen seines Leidens persönlich oft schwer empfinden, aber nur selten wird dieser Uebelstand im Verkehr mit der Gesellschaft störend hervortreten, und durch die Erfindung der Brillen erscheinen seine wesentlichsten Unannehmlichkeiten für das praktische Leben beseitigt.

Weit übler daran ist der Schwerhörige, den die Natur zwar nicht der Sprache, aber doch des Genusses derselben theilweise beraubt hat. Vom wesentlichsten Hülfsmittel des Gedankenaustausches ausgeschlossen, sehen wir ihn die meiste Zeit auf sich selbst angewiesen, und daher darf es uns nicht Wunder nehmen, daß davon sein Geistesleben auf das Innigste beeinflußt wird. Selbst wenn die Gehörschwäche erst im höheren Alter hervortritt, übt sie noch eine Charakterveränderung auf den von ihr Betroffenen aus. In ganz anderer Weise machen sich jedoch die Folgen des abnormen Zustandes geltend, wenn der Leidende von seiner ersten Kindheit an der Schwerhörigkeit verfallen war.

Zunächst tritt, da sich das Kind so oft von der Theilnahme am Gespräch ausgeschlossen fühlt, bei ihm das Bestreben hervor, durch wiederholtes Fragen über eine besprochene Angelegenheit Auskunft zu erhalten, und so wird es begreiflich, warum schwerhörige Kinder sich in der Regel durch Fragesucht und kaum zu befriedigende Neugierde bemerklich machen. Es wird aber auch [877] dadurch erklärlich, wie leicht Menschen von geringer Bildung, Güte und Geduld in ihrem Benehmen gegen solche Schwerhörige abstoßend werden, wenn sie sich nicht gar erlauben, sie zum Gegenstand ihrer Necklust zu machen, und in solchen Erfahrungen derselben ist die Quelle des Mißtrauens zu suchen, das sehr häufig den Umgang mit den hart genug Heimgesuchten für sie und Andere noch schwerer macht.

Im reiferen Alter veranlaßt den Leidenden das erwachende Ehrgefühl, durch verdoppelte Aufmerksamkeit, oder, wenn dies erfolglos bleibt, durch Vermeidung überflüssiger Gespräche jeder Gelegenheit aus dem Wege zu gehen, bei welcher er sich durch verkehrte Antworten bloßstellen könnte. Besitzt er einen gewissen Grad von Beharrlichkeit, so entwickelt sich daraus diejenige Charakterfestigkeit, welche ihm in seiner schwierigen Lage durchaus nöthig ist. Mit seinen Gedanken mehr auf sich selbst angewiesen, vermag er es, auch allein sich wohl zu fühlen, ja bei Vielen geht diese Eigenschaft in ihr Extrem, in eine ausgesprochene Liebe zur Einsamkeit über. Hunderte von Erfahrungen, welche jeder Andere dem Verkehr mit der Außenwelt verdankt, gehen dem Schwerhörigen verloren; mehr aus sich selbst schöpfend, erfolgt seine Geistesentwickelung in vielen Punkten abweichend von der des Gesunden, und dies kann zum Vortheil oder Nachtheil seines Charakters ausschlagen. Concerte, Theater und Vorträge gehören nicht in den Kreis seiner Zerstreuungen, wenn er sie auch ungern entbehrt; dafür wird er um so größeren Gefallen an anderen finden, deren Genuß durch sein Leiden nicht gehemmt wird, also an Naturbetrachtungen und Bücherstudien.

Doch muß das Uebel schon einen bedenklichen Grad erreicht haben, wenn der Träger dadurch für die Freuden der Geselligkeit ganz abgestumpft werden soll. In höheren Gesellschaftskreisen, wo die Unterhaltung dem Zwange der Etiquette unterliegt, wird der Harthörige sein Gebrechen am schwersten empfinden und daher nicht selten die Rolle des müßigen Zuschauers vorziehen. In zwanglosen Cirkeln aber, wo sich leicht Zwiegespräche mit den Nachbarn anknüpfen lassen, sehen wir ihn von einer vortheilhafteren Seite. Keine äußeren Förmlichkeiten verhindern ihn hier, dicht an den Fragenden heranzutreten, wodurch ihm Gelegenheit zum Meinungsaustausch gewährt wird. Das Gleiche trifft bei gemeinschaftlichen Promenaden zu, und das Bestreben des Schwerhörigen wird stets darauf gerichtet sein, ein paarweises Zusammengehen der Theilnehmer zu veranlassen. Neben einem einzigen Begleiter oder in der Mitte von Zweien zu gehen, ist hierbei für ihn Bedürfniß.

Diese Abhängigkeit im Gespräch und namentlich die Befangenheit beim ersten Zusammentreffen mit Unbekannten würden gewiß den Schwerhörigen seltener irgend welchen Rücksichtslosigkeiten in der Behandlung aussetzen, wenn nicht Eitelkeit oder eine gewisse Scheu viele derselben zu dem Streben verleitete, ihr Gebrechen zu verheimlichen. Daraus entstehen gewöhnlich Irrungen, bei welchen leider der Schwerhörige die Kosten der Komik trägt. Ein verständiger und gebildeter Schwerhöriger wird jeden ihm Fremden, mit dem er sprechen soll oder muß, vor Allem offen mit seinem Leiden und dem Grade desselben bekannt machen, wie dies beispielsweise eine Dame mit dem Verfasser that.

„Setzen Sie sich hierher,“ sprach sie, auf den Stuhl zu ihrer Linken deutend, „ich werde Sie hier besser verstehen; ich habe mein einst sehr feines Gehör fast verloren. Und nun sprechen Sie einmal, wie Sie es im Zimmer gewohnt sind.“ – Ich sprach, wie sie es wünschte. – „Das ist für mich zu leise,“ bemerkte sie da; „bitte, probiren Sie es etwas lauter.“ – Ich mochte wohl das „Etwas“ zu stark genommen haben, denn sie winkte mir mit der Hand ab und rief: „Oho, das war zu viel, möchten Sie nicht etwa die Mitte von beiden Graden versuchen?“ – Ich versuchte es, und freudig nickend sagte die Dame dann: „So ist’s das rechte Maß, so werden wir uns recht gut unterhalten können.“

Trotz meiner Folgsamkeit und Aufmerksamkeit mußte ich nach einiger Zeit doch noch eine Lehre hinnehmen. Nachdem die Dame, welche die Beobachtung meiner Lippenbewegung beim Sprechen zu Hülfe nahm, lange mit mir zufrieden gewesen war, gerieth ich in einen Erzählungseifer, der mich zu sehr raschem Reden fortriß. Da erhob sie abermals die Hand, um dem Strome Einhalt zu thun, und sagte: „Bitte, bitte, hängen Sie die Worte nicht so eng an einander, sprechen Sie, wie ein gut gedrucktes Buch, das zwischen den Worten ein wenig Raum freiläßt!“ Natürlich geschah dies. Für letzteren Wunsch haben wir eine treffliche Erklärung. Es besteht nämlich zwischen den Gehör- und Sehnerven eine große Uebereinstimmung. Von Seiten der Netzhaut erfolgt die Aufnahme des Lichteindruckes bekanntlich nicht augenblicklich, sie bedarf vielmehr eines, wenn auch sehr kurzen Zeitraumes, um diese Empfindung zu fixiren und dem Bewußtsein zu übermitteln. In gleicher Weise hält sie den Eindruck über die Dauer der Einwirkung hinaus eine kurze Zeit fest, die etwa den zwanzigsten Theil einer Secunde bekrägt. Eine schnell im Kreise geschwungene glühende Kohle macht aus diesem Grunde in der Dunkelheit auf unser Auge den Eindruck eines geschlossenen Feuerringes.

Etwas Aehnliches findet beim Gehörnerven statt, bei dem kranken oft mehr als beim gesunden. Folgen die Schallwellen nämlich zu schnell auf einander, so empfindet der Harthörige meist nur einen einzigen verworrenen Laut, sein Gehör vermag keine Gliederung in den Gesammteindruck zu bringen. Werden dagegen die einzelnen Worte langsam ausgesprochen und durch entsprechendes Absetzen getrennt, so ist es dem Zuhörer weit leichter, dem Gange der Unterhaltung zu folgen. Beim schnellen Sprechen dagegen wird jeder vorhergehende Eindruck von dem nachfolgenden überholt, ehe der Lauschende Zeit hat, sich den Sinn desselben klar zu machen.

Nicht minder ist die Gewöhnung an das Organ des Sprechenden von wesentlichem Einfluß. Bekannte Stimmen werden daher besser vernommen, als fremde, und ein in den Familiencirkel neu eingeführter Gast wird häufig den Eindruck aufnehmen, daß seine lauten Fragen und Antworten von dem Leidenden nicht so genau verstanden werden, wie die leiser gesprochenen Bemerkungen der Familienmitglieder. Bei längeren, öfter wiederholten Zwiegesprächen wird dieses Hinderniß durch die Gewöhnung verringert, und der Besucher gewinnt dadurch die irrthümliche Ueberzeugung, daß das Gehörleiden seines Wirthes sich gebessert habe. Auch von der unmittelbaren Umgebung des Letzteren wird dieser Umstand, aber in entgegengesetzter Weise, beobachtet: der Angeredete scheint des Morgens beim Kaffeegespräch schlechter zu hören, weil er sein Gehör an jedem Tage gleichsam von Neuem den Organen der Fragenden anpassen muß.

Noch mancherlei andere Umstände tragen dazu bei, den Verkehr mit Schwerhörigen zu erleichtern, respective zu erschweren. Direct in das Ohr gelangende Schallwellen reizen den Gehörnerven in weit stärkerem Grade, als gebrochene, weshalb jeder rücksichtsvolle Mensch darauf achten wird, daß er dem Gehörleidenden bei der Anrede das Gesicht zuwendet. Dieser nimmt außerdem, wie bereits angedeutet, die Mundbewegungen des Redenden zu Hülfe und vermag häufig aus ihnen allein den Sinn der Worte zu enträthseln, selbst wenn er keinen Laut vernommen hat. Diese Mitwirkung des Auges erklärt uns, weshalb der Schwerhörige so ungern der Letzte beim Spaziergange ist, da ihm dieses Hülfsmittel verloren geht, sobald ihm die Vorausgehenden den Rücken zuwenden, und weshalb in der Dunkelheit der Verkehr mit demselben ein auffallend schwierigerer wird.

Von nicht geringerer Bedeutung für das gesellschaftliche Leben des Schwerhörigen ist schließlich eine andere Kleinigkeit, die Vielen auf den ersten Blick geradezu lächerlich erscheinen mag, wir meinen die richtige Wahl seines Platzes bei Tische, bei Familienfestlichkeiten u. dergl. m. Da wundert man sich beim Abendessen, daß derselbe so einsilbig und theilnahmlos dasitzt, während er bei anderen Gelegenheiten heiter und aufgeräumt sein konnte. Faßt man aber die näheren Umstände in’s Auge, so wird man gewahr, daß sein Platz für eine wirksame Anstrengung seines Ohres und Auges ungünstig gewählt ist. Kleine Aufmerksamkeiten auch nach dieser Richtung muß man sich zur Pflicht gegen solche Leidende machen.

Dagegen muß auch der Schwerhörige es als seine Pflicht anerkennen, alles zu vermeiden, was seine Lage verschlimmern könnte, und jedes Mittel zu benutzen, um dieselbe erträglicher zu machen. Wie der Blindgeborene auch nach glücklich ausgeführter Augenoperation die Größe und Entfernung der Gegenstände erst beurtheilen lernen muß, um von dem wiedererlangten Sehvermögen richtigen Gebrauch machen zu können, so soll auch der Gehörleidende sich in der richtigen Auffassung der gesprochenen [878] Worte üben, und Jeder, welcher im Laufe der Zeit eine Besserung seines Zustandes zu bemerken glaubt, ist es sich selbst schuldig, durch eigene Anstrengung der Natur zu Hülfe zu kommen. Es ist eine sehr zu tadelnde Angewohnheit Gehörleidender, daß sie sich aus völliger Apathie gar nicht mehr die Mühe geben, dem Gespräche mit Aufmerksamkeit zu folgen. Der Gedanke: „Davon verstehe ich doch nichts, also will ich mich nicht noch mit dem Zuhören plagen,“ sollte gänzlich verbannt werden, da diese verkehrte Anschauung den Betreffenden nicht selten verleitet, seinerseits auch leise und undeutlich zu sprechen, wodurch die Theilnahme der Außenwelt gewiß nicht vergrößert wird. Umgekehrt ist lautes und deutliches Sprechen eins der besten Mittel, sich selbst zu helfen, da der Angeredete unwillkürlich zur Nachahmung des Beispiels veranlaßt wird.

Vor einiger Zeit ging die Rede, daß in Anregung der Erfindung des Mikrophons ein Apparat für Schwerhörige erfunden worden sei, welcher für das Ohr dasselbe wäre, wie die Brille für das Auge. Seither ist es wieder still davon geworden. Indeß ist die Annahme keine abenteuerliche, daß es über kurz oder lang, wie schon im Mittelalter der Optik für Schwachsichtige, so endlich auch der Akustik gelingen werde, für Schwerhörige ein Linderungsmittel aufzufinden, dessen Einführung Millionen als die größte Wohlthat ihres Lebens empfinden würden.

H. K.