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Titel: Ein historisches Gebirgsthal
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aus: Die Gartenlaube, Heft 18, S. 295–298
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ein historisches Gebirgsthal.


Seit die Eisenbahn von Rosenheim her über Kufstein einen bequemen Eingang in das schöne Unterinnthal, in die tirolische Hauptstadt und gegen den Brenner zu geöffnet hat, sind es wohl Wenige, die noch die andere Tiroler Hauptstraße bereisen, eine Straße, die in jeder Beziehung mit jener sich messen darf, wenn man auch auf ihr nicht im bequemen Coupé dahinfliegen und die Meilen zu Minuten abkürzen kann, sondern den Weg in langsamem Wagen oder mittelst noch langsamerer Fußwanderung zurücklegen und die Schönheiten und Genüsse desselben mit müden Beinen erkaufen muß.

Diese jetzt vereinsamte Straße führt aus Baiern über den Würmsee, am Kochelsee vorüber und den Walchensee entlang oder durch das Loisachthal nach Partenkirchen, von dort in südöstlicher Abbeugung in das geigenkundige Mittenwald, bei welchem [296] von links herein der Karwendel und von rechts das Wettersteingebirge sich so eng aneinanderdrängen, daß dazwischen nur ein schmaler Durchgang bleibt, auf welchem die grüne Isar über dem harten Bette ihres Kieselgerölls sausend herangezogen kommt. Das ist der Scharnitz-Grund. Es giebt viel liebliche Thäler in den Bergen und manchen anmuthigen Winkel, der dem Reisenden den Gedanken weckt, daß es hier gut Hüttenbauen sein müßte; zu dieser Art von Gegenden gehört die Scharnitz nicht. Selbst im Hochsommer, wenn die von den Kalkschrofen des Gebirges eingesogene Hitze auch nachtüber anhält, hat das Gelände einen winterlichen Zug, der nicht eben zu längerm Verweilen einladet, aber wesentlich zu dem großartigen Bilde gehört, das sich in feierlichem Ernste vor dem Wanderer aufthut, zumal wenn er sich, um einen Gesammtüberblick zu gewinnen, die Mühe nicht verdrießen läßt, zu einem der vielen Kalköfen hinanzusteigen, welche am Isarufer häufig nach Gefallen errichtet, ausgenützt und dann dem Verfalle überlassen werden.

Das ist ein Schauplatz, wie er großartiger von der Natur selten geschaffen worden; zu beiden Seiten sind Berge als Coulissen vorgeschoben, und das Gebirge bildet einen Hintergrund, wie keine Bühne der Welt ihn zu bilden vermag. Von links fallen die Wände des Karwendels ab, während rechts ein Ausläufer des Wettersteins schroff abstürzt, in der Mitte aber die Felspyramide des Arnsteins gebieterisch in die Wolken ragt. Zu Füßen desselben im engen Thalgrunde liegt das Grenzdörfchen Scharnitz, eingebettet zwischen Ueberresten von Mauern und Schanzwerken, welche den schmalen Thalgrund und das Flußbett der Isar dereinst beherrschten und den Durchgang zu einem stark befestigten Engpasse gestalteten. In dem ersten Bergeinschnitte hinter demselben öffnet sich der Eingang in die drei unbewohnten Felsenthäler von Karwendel, Gleirsch und Oberau, von denen eines das andere an Wildheit zu überbieten sucht, während gegenüber sich das freundlichere, von ein paar kleinen Dörfern belebte Leutaschthal aufthut.

Schweigend liegt vor dem Beschauer der weite Thalgrund mit der Bergenge; nur das Rauschen der mit starkem Gefäll heranströmenden Isar dringt zu dem Beschauer herauf, oder über ihm ertönt der heisere Ruf eines majestätisch vorüberschwebenden Gold- oder Beinbrechadlers, die, sonst fast überall verschwunden, hier noch manchmal in den Felswüsten horsten. Wer die Gegend an einem schönen Abend überblickt, wenn die untergehende Sonne die schroffen weißgrauen Kalkwände mit dem Purpur des Alpenglühens übergießt, der mag wohl zu guter Stunde einen abgerissenen Gedanken des Monologs erkunden, in welchem die Natur ihren eigenen Herzschlag zu belauschen scheint. Von den flammenden Felsen, neben denen die quellennährenden Eisfelder und einige Schneerunsen liegen, wo nur Flechten am Gestein fortkommen und das duftende Wintergrün, gleitet das Auge zu den Kahren und Köpfen, auf denen die Gemse haust und das Schneehuhn brütet, und zu den langbegrasten Halden, mit Knieholz, Latschen und Legföhren, unter denen das Haidekraut kümmerlich fortkommt – es sind die gefährlichen Grate, wo Edelweiß, Jochraute und Jägerblüml blühen und schon Manchen zu sich emporgelockt haben, um ihn dann in’s Verderben hinunterzustürzen. Dann kommen die milderen Hänge, wo in geschützten Bergeinschnitten die Almen und Sennhütten liegen mit ihren saftig grauen Mähdern voll duftender Alpenkräuter und buntblühender Orchideen – wie die Wüste um eine Oase liegen Steinblöcke herum, auf denen die Glockenblume läutet, der Quendel nickt, die Gemskresse ihre Dolden schüttelt und der Steinbrech sich bescheiden anklammert. Nun folgt die Region der alten bärtigen Tannen, die gerade in diesen Gegenden einen seit Jahrhunderten unerschöpften Holzreichthum eröffnen, unter ihnen die Moose in den kostbarsten Formen und Arten und die Korallenwurz, die für ihre Aehren den dichtesten Schatten aussucht. In den Tannen- und Föhrenwald beginnen sich dann im allmählichen Absteigen Laubbäume zu mischen, unter denen der mächtige Bergahorn mit seiner herrlichen breitblätterigen Krone den Reigen führt, mildere Lüfte verkündend und mit ihnen die trauliche Nähe menschlicher Wohnungen.

Solche Spiele, welche die Natur vor dem Beschauer auf dieser Scene entfaltet, sind mannigfaltig und fesselnd genug; aber auch jene sind es nicht minder, die der Mensch – die vorüberziehende Staffage – auf ihr bereits aufgeführt hat, meist Vielen zum Leide und sich selber nicht zur Freude!

Die riesigen Berghäupter sahen wie jetzt hernieder, als das ganze Land vom tirolischen Zirl an bis heraus zum altbajuvarischen Kochelsee von undurchdringlichem Urwald bedeckt war, bis der kriegskundige Römer kam, ihn zu lichten, und, die Wichtigkeit der Bergenge erkennend, die Enge zu einem festen Passe (Scaranzia) umgestaltete; sie schauten mit dem gleich unbeweglichen Stein-Antlitz zu, als der Sturm der Völkerwanderung heranbrauste, um das Römergebäude in Trümmer und den Wohnsitz einer kurzen Cultur wieder in eine Einöde zu verwandeln. Gleichgültig hallten ihre Wände den Glockenton zurück, als zur Zeit der Frankenherrschaft Herzog Thassilo von Baiern einige Benedictinermönche in den Ruinen ansiedelte, denen es aber wohl zu unwirthlich war, so daß sie schon nach wenigen Jahren den rauhen Wohnsitz mit dem milderen Pustertal vertauschten. Es störte sie nicht aus ihrer gigantischen Ruhe auf, als im Mittelalter die Räder von ganzen Zügen schwer beladener Frachtwagen vorüberknarrten und die Schellen wälscher Maulthiere und Saumrosse unablässig klingelten: der Handel aus Italien und der Levante hatte sich hierher die Hauptstraße gebahnt und, wie die Gartenlaube bereits früher (Nr. 1 dieses Jahrgangs) geschildert, in dem nahen Mittenwald eine Lager- und Transitstation geschaffen, deren Bedeutung man sich jetzt nur noch schwer vorstellen kann. Das war besonders der Fall, als die stolzen Herren der Lagunenstadt den Weg über Bozen verpönten und förmlich in Verruf thaten, weil Herzog Sigmund von Tirol einen Zug venetianischer Kaufleute in Bozen gewaltsam angehalten und in’s Gefängniß geworfen hatte. Dann sahen sie, wie die friedlichen Bilder durch kriegerische von der Schaubühne verdrängt und, während der dreißigjährige Krieg in den deutschen Landen wüthete, die seit den Römertagen zerstörten Befestigungwerke aus den Trümmern aufgerichtet wurden. Herzogin Claudia von Tirol, die schöne Medicäerin (und Heldin in Hermann Schmid’s Roman „Der Kanzler von Tirol“), stellte dieselben großartig wieder her; die nach ihr benannte Porta Claudia kam aber erst später dazu, ihre Widerstandsfähigkeit zu erproben. Das war, als fast ein Jahrhundert später Max Emanuel von Baiern, der Stürmer von Belgrad, seinen Tirolerzug unternahm und die Veste, die sich ihm ohne besondere Schwierigkeiten ergeben hatte, für künftige Fälle vorsorgend, von Grund aus zerstörte. Wieder hergestellt, sollte sie erst in den Kriegen Napoleon’s noch eine – hoffentlich die letzte – kriegerisch blutige Berühmtheit erlangen.

Es war im Jahre 1805, als Marschall Ney, während Bernadotte über Kufstein in Tirol eindrang, gleichzeitig den Angriff durch die Scharnitz leitete. Sein erstes Corps unter General Laissé, aus etwa dreizehntausend Mann Franzosen und Baiern bestehend, stellte sich vor der Veste auf, welche, von dem österreichischen Oberstlieutenant Swinburne mit siebenhundert Mann Soldaten und Tirolerschützen vertheidigt, sowohl wegen ihrer Stärke als wegen der Lage selbst für uneinnehmbar galt. Zwei Stürme waren bereits mit großen Verlusten zurückgeschlagen, als die Franzosen einen unbesetzt gebliebenen Bergpfad entdeckten, der vom Wetterstein her über das sogenannte Alpel in das Leutaschthal und somit in den Rücken der Scharnitzstellung führte. Die Tiroler mußten sich zurückziehen, und als die Franzosen Morgens zum dritten Sturme anrückten, fanden sie die Werke verlassen, die sie dann so gründlich zerstörten, daß seitdem kein Versuch mehr gemacht wurde, sie wieder herzustellen. An der Isar liegen noch unansehnliche Ruinen derselben; über denselben zieht der Bergpfad hin, noch heute im Munde des Volkes der „Franzosensteig“ geheißen.

Jetzt ist die Scharnitz nur noch für den Naturfreund von Bedeutung; für einen solchen wird der Besuch im höchsten Grade lohnend sein, selbst wenn er nicht darauf ausgeht, die erwähnten Seitenthäler nach den hier vorkommenden seltenen Versteinerungen oder die Berghalden nach botanischer Ausbeute zu durchsuchen. Das Dörfchen selbst ist klein und noch ärmlicher als klein; der Schmuggel und das Wildschützenthum, einst die beiden Hauptpulsadern für das Leben der Bewohner dieser Gegend, sind unlohnend und unmöglich geworden, und so ist keine andere Beschäftigung geblieben, als in den Holzschlägen, Kohlenhütten oder Kreidegruben. Wer die Scharnitz wieder verläßt, kann über

[297]

Der Scharnitzgrund im bairischen Hochgebirge.
Nach der Natur aufgenommen von J. Heilmair in München.

[298] Seefeld und Zirl an der Martinswand in kurzer Zeit Innsbruck erreichen und sich vorher in dem Wirthshause zu Seefeld bei Forellen, Cybebenbrod und selten gewordenem gutem Tirolerwein erquicken und von dem Legendenkram unterhalten lassen, der dort wuchert. Noch näher hat er es, in den freundlichen Markt Mittenwald zurückzukehren, wo das gute Bier ihn belehrt, daß er sich in Baiern befindet, und im Garten hinter der Post, den gewaltigen Karwendel unmittelbar vor sich, einem Berichte über den außerordentlichen Aufschwung zuzuhören, welchen der Handel mit Mittenwalder Geigen, Guitarren und Bässen nach allen Welttheilen genommen hat.

Von Legenden und Sagen wird er allerdings nicht so viel hören, als in Seefeld – es wäre denn die Sage, daß in den Bergen, in denen sonst nur Zinkblende und Bleiglanz vorkommt, einmal eine Silbergrube gewesen, die der „silberne Hansel“ geheißen habe und wegen des Uebermuthes der reich gewordenen Knappen verschwunden sei – oder die Geschichte von dem bereits genannten Franzosensteige, über den verschiedene Lesarten im Gange sind.

Freunde natürlicher Entwickelungen erzählen, ein bairischer Ingenieur Weiß, der sich eben auf Vermessung in der Gegend befand und dieselbe daher auf’s Genaueste kannte, habe den anrückenden Baiern und Franzosen den Bergweg gezeigt. Andere wollen wissen, ein alter vielfach abgestrafter Wildschütze, der wie vogelfrei in den Bergen gelebt, habe sich zum Führer angetragen, wenn er Pardon und Versorgung für seine Familie erhielte. Die dritte, wohl der Wahrheit am nächsten kommende Erzählung dürfte sein, daß der Jagdgehülfe Wurmer von den Franzosen durch Todesandrohung gezwungen wurde, den Führer zu machen, dann aber vor den Verfolgungen der benachbarten Tiroler flüchten und, als er einmal Nachts heimlich zurückkam, um Weib und Kind zu besuchen, an Dachrinnen und Dächern hinklettern mußte.

Doch hat auch die Romantik nicht unterlassen, in die schlichten grünen Zweige ihre Blumen einzuflechten und daraus ein Ganzes zu bilden, das dem Geschmacke der Mehrheit zusagt, dem überall das stärker Gewürzte am besten mundet.

Nach diesen Berichten hauste auf einer der Leutasch-Almen eine hübsche Tirolersennerin, die einen nicht minder hübschen bairischen Jagdgehülfen zum Schatze hatte, der denn auch fleißig zu ihr „gen Alm fuhr“ und sich dadurch eine ganz ungewöhnliche Orts- und Wegkenntniß aneignete. Das Paar hing mit seltener Liebe und Beständigkeit aneinander, und diese Anhänglichkeit wurde auch nicht gelockert, als der Krieg, durch welchen Tirol sich von der bairischen Herrschaft losmachen wollte, ausbrach, und die bisher ruhend gewesene Nationalitätenfrage bei beiden Bevölkerungen täglich und stündlich verschärfte und zuspitzte. Sie hatten sich in eine Art von Neutralität wie in eine Nebelkappe gehüllt und mochten wie Romeo und Julie oder Max und Thekla denken, sie Beide gehörten nicht zu ihren Häusern oder Stämmen. Da traf es sich, daß der Jäger von dem Anführer der Franzosen aufgefordert und genöthigt wurde, seine Truppen über den Berg in den Rücken der Tiroler zu führen – aber obwohl er es wider Willen und nur gezwungen that, ließ die Tirolerin keinen dieser Entschuldigungsgründe gelten: sie gab dem Feinde ihres Vaterlandes augenblicklich den Abschied und haßte ihn nun ebenso glühend, als sie ihn zuvor geliebt. Mit gleichen Augen von der ganzen tirolischen Nachbarschaft angesehen und nach Kräften verfolgt, mußte er sich in ein anderes Revier versetzen lassen. Vier Jahre später stand er mit der von Baiern gebildeten Schaar von Jägern und Forstleuten in der Scharnitz den bewaffneten Tirolern gegenüber, zu denen auch manche ihrer Mädchen und Weiber sich in kriegerischer Begeisterung gesellt hatten. Er fiel im ersten Gefecht und die Kugel, die ihn zu Boden streckte, soll aus der Büchse seiner einstigen Liebsten gekommen sein; mit der erreichten Rache aber, so wird hinzugefügt, sei auch ihr Haß gebrochen gewesen, Reue und Trübsinn hätten sich ihrer bemächtigt, und so sei sie lange halb irrsinnig unter den Leuten herumgegangen und habe durch Kräutersammeln und Wurzelgraben ein ärmliches Leben bis in das letztverwichene Jahrzehnt gefristet.

Im Anblick des Karwendel mag der Hörer wählen, welche Geschichte ihm die bessere dünkt und zu welcher am meisten die gefurchte Greisenstirn des Berghauptes stimmt, um dessen starre Locken sich das Abendroth flüchtig schlingt, wie ein Kranz irdischer Rosen um den Scheitel eines Unsterblichen.