Ein guter Rath
[891] Ein guter Rath. (Zu dem Bilde S. 888 und 889) Sylvester ist die Zeit der Fragen an das Schicksal. Ueberall spuken in der Nacht, da das alte Jahr einem neuen den Platz räumt, jene tausendfältigen Weissagespiele, mit deren Hilfe der Mensch den Schleier der Zukunft ein wenig lüften möchte, um zu sehen, welch ein Bild dahinter steckt. Und wo man all die Beweiskraft jener geheimnißvollen Zeichen und Andeutungen nicht mehr glaubt, da treibt man doch die alten Spiele als launige Belustigung. – Auch die eine der venetianischen Schönheiten auf unserem Bilde hat eine „Frage an das Schicksal“. Aber für sie giebt es in dem Zauberschatz des alten Aberglaubens kein Rezept, für sie dreht es sich nicht mehr um so allgemeine Fragen wie: „Werd’ ich in diesem Jahre einen Mann bekommen?“ oder: „Ist mein Zukünftiger groß oder klein, reich oder arm, gerade oder krumm?“ Für sie handelt es sich um eine ganz bestimmte, mit allgemeinen Winken nicht mehr zu erledigende Angelegenheit, für sie gilt es eine runde klare Lösung in dem nagenden Zweifel: „Was antwort’ ich ihm auf seinen Brief?“ Und da ist guter Rath theuer!
Nun, wo die Noth am größten, ist die Hilfe am nächsten! Die gute Freundin, der sie den Handel vorgetragen, weiß offenbar ganz genau, was man in solch einem Falle zu sagen hat. Mit italienisch lebhafter Gebärdenbegleitung entwickelt sie die Fäden eines äußerst diplomatisch gehaltenen Bescheids, ergeben lauscht ihr Gegenüber, verstummend vor so viel Schlauheit. Ob er aber befolgt werden wird, der gute Rath? Ja, das ist eben auch noch eine „Frage“!