Ein geheilter Othello
Ein geheilter Othello.
Der erste Schneesturm rüttelt an den Fenstern, dichte Flocken und welke Blätter vor sich hertreibend. Fröstelnd eilen die Menschen an den Häusern entlang; selbst die Pferde an den Wagen greifen so rasch aus, als es ihre müden Beine erlauben, und nur die Dohlen, die schwarzen Herolde König Winters, verkünden freudig krächzend die erneute Herrschaft ihres Herrn und Gebieters.
Mir aber zaubert Erinnerung lachende Sommerlust in die Stube, warmen Sonnenschein, azurblauen Himmel über einem stillen, tiefen Wasserspiegel, umrahmt von rebenbekränzten Hügeln mit einem Neste kleiner Häuschen, auf welche altersgraue Kastellmauern verdrießlich herabschauen, als grollten sie ob des stillen Friedens ringsum, der ihnen keine andere Rolle mehr zuweist, als mit ihren erhitzten Quadern die Netze der anwohnenden Fischer zu trocknen. Am Strande vor dem Häuschen badet eine Schar fröhlicher Kinder; auf dem weiten grasbedeckten Platze unterhalten sich einige Männer mit dem beliebten Kugelspiele; im Vordergrunde aber liegt eine dunkle Apollogestalt in Fischertracht platt auf der Erde, den fezbedeckten Lockenkopf auf beide Ellbogen gestützt; auf dem Rücken des Mannes schaukelt sich jauchzend ein unbeflügelter Amor im bloßen Hemdchen, während ein schönes junges Weib lächelnd auf die Gruppe herabsieht.
Wohl sah ich manch schönere oder großartigere landschaftliche Scenerie, doch keine, welche sich meinem Gedächtnisse so treu und lebhaft eingeprägt hätte wie diese, allerdings nicht nur ihrer Naturreize, sondern einer Geschichte wegen, welche sich in der Erinnerung mit dem idyllischen Strandbilde untrennbar verflocht.
Andrea Chiotti – so hieß der Mann mit dem Amor auf dem Rücken – war seines Zeichens Fischer und dabei Besitzer eines kleinen Anwesens in der Umgegend von Muggia, dessen Ertrag ihn sammt seiner kleinen Familie vor den zeitweiligen Nahrungssorgen minder glücklicher Berufsgenossen schützte, außerdem aber ein Mann, der an körperlichen Vorzügen seinem jungen schönen Weibe durchaus gleichkam und sich überdies jener herkulischen Muskelkraft und unverwüstlichen Gesundheit erfreute, wie sie eben nur das rauhe Seemannsleben verleiht. Trotzdem schien der kaum dreißigjährige, vielbeneidete Familienvater von seinem Glücke wenig befriedigt, zeigte vielmehr statt der üblichen scherzhaften Laune seiner Gefährten ein ernstes, in sich gekehrtes Wesen, das – wie ich später zu bemerken Gelegenheit hatte – nicht selten in finstere Schwermuth überging.
Abgesehen von dieser Seltsamkeit war Chiotti jedoch ein eben so gutmüthiger Geselle wie gewandter Schiffer, weshalb ich denn auch seine Barke wählte, so oft es mich gelüstete, Seeluft in unverfälschter Reinheit zu athmen. Ein melancholisches Liedchen summend, ließ dann der junge Fischer das sauber gehaltene kleine Fahrzeug weit hinaus treiben auf die Höhe des blauen Golfes, um dort seine Netze auszuwerfen, während ich mich, im Schatten des breiten Segels gelagert, in ein Buch vertiefte oder jenen süßen Träumen nachhing, welche die Menschenseele, angesichts des grenzenlosen Horizontes, zwischen Himmel und Erde schwebend, mit leisen Fittigen in die Welt der Phantasie – das Reich der Seligen – entrücken.
Chiotti störte mich nie, sondern verfiel seinerseits, wenn er seine Vorbereitungen zum Fischfang getroffen hatte, in ein trübes Hinbrüten, aus welchem ihn erst die Neigung der Sonne oder eine lebhafte Bewegung in den Netzen erweckte. Meine Versuche, den Grund dieser räthselhaften Gemüthsstimmung zu erforschen, blieben erfolglos. Ich brachte ihn zwar bisweilen zum Plaudern, doch nicht über sich oder ihn betreffende Verhältnisse. So ließ ich ihn schließlich gewähren und fühlte mich in seiner stummen Gesellschaft um so behaglicher, als das Wenige, was er sprach, nicht nur gesunden Menschenverstand, sondern auch einen äußerst regen Rechtssinn und, was bei seinen Landsleuten noch seltener zu finden ist, eine ungewöhnliche Achtung für fremde, namentlich deutsche Art und Sitte verriet.
So war denn unser Verkehr ein, wenn nicht freundschaftlicher, so doch gegenseitig wohlwollender geworden, als ich eines Tages an dem jungen Manne eine Unruhe bemerkte, welche mit dem Niedergange der Sonne zu wachsen schien. Immer häufiger schaute er nach Osten aus, wo die grotesken Linien der Karstberge sich vom tiefblauen Himmel abhoben, bis er endlich nach solchem Blicke in die Ferne plötzlich die eben erst ausgeworfenen leeren Netze einzuziehen begann, als ob es gelte, den reichsten Fang zu bergen.
„Was in aller Welt treibt Ihr da, Chiotti?“ fragte ich erstaunt.
„Schlimmes Wetter, Herr,“ erwiderte dieser in seiner kurzen Weise, ohne sich in seiner Arbeit stören zu lassen; „die Bora ist im Anzuge, und die läßt nicht mit sich spaßen.“
Nun blickte auch ich besorgt nach den Bergen, von welchen sich bisweilen der bekannte Nordostwind orkanartig auf die weite Niederung der Adria und ihres Ufergebietes herabstürzt. Ich wußte, daß schon manches Fischerboot solchen unvorhergesehenen Stürmen zum Opfer geworden; doch deutete der blaue Himmel so wenig auf eine nahe Gefahr, daß ich im Stillen die Vorsicht Chiottis belächelte, der schon das Segel stellte, um die frische Abendbrise zur Heimfahrt zu benutzen. Alsbald schwellte sich das Stückchen Leinewand, worauf unser kleines Fahrzeug mit der anmuthigen Bewegung eines Schwanes über die leicht gekräuselten Wellen glitt, während mein schmucker Fährmann sich zum Steuer setzte, um wieder in jenes finstere Hinbrüten zu verfallen, dem er sich so gern überließ.
„Ihr habt wohl schon schlimme Erfahrungen mit Frau Bora gemacht?“ fragte ich, um ihn seinem Trübsinne zu entreißen.
„Schlimme Erfahrungen?“ wiederholte er wie aus einem schweren Traume auffahrend, „Per Dio, wäre es nur das! Schlimme Erfahrungen bleiben keinem erspart, der mit ihr zu thun hat, aber mich, Herr, hat die verwünschte Hexe zum –“
Er hielt inne, als scheute er sich, das Wort in meiner Gegenwart auszusprechen.
„Fahrt immerhin fort!“ ermuthigte ich; „bin ich auch kein Gewissensrath, meiner Theilnahme dürft Ihr versichert sein.“
„Ja, Herr, ja, ich weiß das und danke Euch,“ versetzte Chiotti sinnend, um nach kurzer Pause hinzuzufügen: „Vielleicht ist auch das eine Fügung; stammt Ihr doch aus demselben Lande wie der Fremde, an dem ich zum – Mörder geworden.“
„Ein Mord, Chiotti?“
Die Entdeckung, mich mit einem Verbrecher allein in einem Nachen auf offener See zu befinden, war eine so überraschende, daß ich bei dieser Frage unwillkürlich nach der Brusttasche griff, wo ich bei weiteren Ausflügen meinen Revolver verwahrte; doch die Tasche war heute leer; in Chiottis Gesellschaft hatte ich eine derartige Vorsicht für überflüssig gehalten. Letzterer schien übrigens nichts von meiner Bewegung bemerkt zu haben; er starrte vor sich hin und erwiderte nur mit einem unheimlichen Lächeln nickend:
„So ist’s, Herr, so gut wie ein Mord, wenn auch – nun, Herr, ich will lieber von Anfang beginnen, Ihr mögt dann urtheilen, da es für mich keinen Richter giebt.“
Diese in geheimnißvollem Tone geflüsterten Worte im Zusammenhalt mit der krankhaften Melancholie des jugendlich kräftigen Mannes gaben meinen Gedanken eine neue Richtung; ich glaubte nun, daß ich einen Irrsinnigen vor mir habe, was allerdings kaum angenehmer war als die Gesellschaft eines Mörders. Ich hütete mich daher, auch nur mit einem Worte die Rede meines unheimlichen Gefährten zu unterbrechen, welcher, den Blick unverwandt auf die blaue Fluth zu unseren Füßen gerichtet, also begann: „Noch vor vier Jahren, Herr, war ich der froheste, ja vielleicht auch übermüthigste Barkenführer von Triest. Ich war gesund und stark, und niemals fehlte es mir an Kundschaft; außerdem aber war mir das schönste Mädchen von Muggia gut, und Ihr wißt, Herr, was dies sagen will. Mit der Aussicht auf Hochzeit stand es freilich nicht am besten; Angiolinas Vater wollte seine Einwilligung nicht eher geben, als bis ich Herr meiner eigenen Barke wäre. Indessen wir waren beide jung, legten unsere Ersparnisse zusammen, und so war ich denn so glücklich, wie ein Mensch sein kann, der sein Herz an ein allzu hübsches Mädchen verloren hat. Ihr meint wohl, Herr, ich schwatze Unsinn, und doch war es nur diese Schönheit, welche mir damals Tag und Nacht keine Ruhe ließ; denn kurz gesagt, der Teufel [114] der Eifersucht plagte mich; ich aber plagte Angiolina, obschon ich das arme Kind nur Sonntags sehen konnte, oder wenn ich eine Kundschaft hier überzufahren hatte, was selten genug geschah, der Bora wegen, die sich gern den Spaß macht, zu kommen, wenn man sie am wenigsten erwartet.
Eines Tages aber kam ein Fremder, blond wie Ihr, Herr, und jung, groß und stark dazu, ein Riese, der keine Furcht zu kennen schien und das Ruder fast so gut zu führen wußte wie ich. Nachdem ich ihn einmal nach Muggia geführt, nahm er meine Barke in Accord und ließ sich an jedem heitern Tage mit dem frühesten Morgen herüberfahren, um hier ans Land zu gehen und erst abends zurückzukehren. Nun, er zahlte gut, und so kümmerte ich mich um so weniger um sein Thun, als Angiolina anfangs, wenn sie meine Barke vom Fenster aus bemerkte, zum Strande kam, um mir Gesellschaft zu leisten. Erst als das Mädchen, ein Verbot des Vaters vorschützend, mich den ganzen Tag mit meiner Barke allein ließ, begann ich Verdacht zu schöpfen; Angiolinas Behausung lag auf mäßiger Anhöhe zwischen Bäumen und Strauchwerk; man konnte ungesehen dort ein- und ausgehen.
So schlich ich mich denn eines Nachmittags bis auf Sehweite an und harrte, den Eingang im Auge behaltend, etwa eine halbe Stunde; als die Thür endlich geöffnet wurde, sah ich – o Herr, das Blut schoß mir zu Kopfe, daß sich die Sonne vor meinem Auge verdunkelte – wie der Fremde aus dem Hause trat, begleitet von meinem Mädchen, dem er mit vertraulichem Lächeln zunickte, um darauf, von ihren Blicken verfolgt, hinter Bäumen zu verschwinden. – Also darum die täglichen Fahrten, darum die Lüge des väterlichen Verbotes! Und während ich gleich einem Verdammten nur das Antlitz meines vermeintlichen Engels zu schauen lechzte, lag dieser kosend in den Armen des Fremden, das Spielzeug der flüchtigen Laune eines Niederträchtigen! Die Hölle im Herzen eilte ich zum Strande hinab. Der Mann, der mir das Liebste geraubt, sollte sich nicht lange seines fluchwürdigen Lebens freuen, das stand fest; Messerstoß oder Ruderschlag – es war mir alles gleich, wenn nur meine Rache befriedigt wurde.
Der Fremde erwartete mich schon und machte mir lachend Vorwürfe über die Unvorsichtigkeit, meine Barke unbewacht gelassen zu haben; ich erwiderte nichts, biß die Zähne zusammen und spannte meine Segel.
Es war ein heiterer Tag, Herr, wie heute; als wir jedoch die Bucht verließen, erkannte ich die sicheren Sturmzeichen, und damit war mein Plan gefaßt. Ich war von jeher im Wasser zu Hause wie ein Aal, hatte mich als Knabe schon zum bloßen Spiel in die aufgewühlten Wogen gestürzt; wenn die Barke umkippte und der Fremde ertrank, so war das seine Sache; von mir konnte niemand verlangen, daß ich einen Riesen stundenlang über Wasser erhalte. Der Deutsche war ein guter Ruderer, aber vom Schifferhandwerk verstand er nichts; ich konnte daher, ohne Verdacht zu erwecken, mein Segel so ungeschickt stellen, daß wir nur wenig vom Flecke kamen. Uebrigens kümmerte er sich auch gar nicht um mich, sondern lag im Vordertheil der Barke und blies sorglos den Rauch seiner Cigarre in die Luft, ohne Ahnung, daß die Wuth um so wilder in mir tobte, je länger ich in dieses rosig lachende Antlitz sah, unter dem sich die Seele eines Schurken barg. Dann aber, als die ersten Windstöße kamen und ich bei gerefftem Segel zum Ruder griff, folgte er ruhig meinem Beispiele und führte das seine so kräftig, daß es uns wahrhaftig nicht schwer geworden wäre, den Hafen zu erreichen, wenn auch die Wellen höher und höher stiegen und der Wind wie mit scharfen Krallen über die Planken fuhr.
Die Bora war wohl noch nie einem Menschen so willkommen gewesen wie mir in jener Stunde; ja, die Wuth der Eifersucht hatte meine Seele so ganz und gar erfüllt, daß ich mit Frohlocken des Augenblicks harrte, um dem Verführer Angiolinas, wenn er vergeblich mit den Wogen ringen würde, ein höhnisches ‚Addio‘ zuzurufen. Und endlich kam er; eine riesige Welle erhob sich vor uns, ein kräftiger falscher Schlag meines Ruders, und statt uns auf deren Rücken zu erheben, wurde die Langseite der Barke erfaßt und diese sammt uns unter dem Wasserberge begraben. Aus dem tosenden Schwalle auftauchend, sah ich dicht neben mir das Antlitz des Fremden, wie es mir schien, lachend und rosig wie sonst. Wüthend öffnete ich die Lippen, um dem Verhaßten das Todesurtheil zuzurufen; doch Madonna fügte es anders, denn in demselben Momente traf mich ein Stoß der aufstrebenden Barke am Hinterkopfe mit solcher Wucht, daß mir die Besinnung schwand und ich versinkend nur noch das Brausen der über mir zusammenschlagenden Wellen vernahm. Wie lange diese Bewußtlosigkeit gedauert, weiß ich nicht zu sagen; als ich aber erwachte, stand der Fremde wohlbehalten und lachend vor mir und meinte: ‚Nun, Freund Chiotti, Dein Kopf ist noch ganz, wie ich sehe, und somit hat die Sache nichts weiter zu bedeuten; denn um Deine Barke darfst Du nicht trauern, Du sollst in Zukunft eine bessere führen.‘ Damit ging er, und erst von den Umstehenden erfuhr ich, daß mich der junge Riese ans Ufer gebracht, ohne von solcher Leistung sonderlich erschöpft zu scheinen. Gleich einem geschlagenen Hunde ging ich heim; dem gegenüber, der mir das Leben gerettet, war ich machtlos; der Grimm darüber aber reifte den Gedanken, mein heißes Verlangen nach Rache wenigstens an der Treulosen zu stillen. Meine Barke war noch ein leckes Wrack, ich ging darum, sobald es meine Kopfbeule erlaubte, zu Fuße nach dem wohlbekannten kleinen Hause. In die Thür tretend, wurde ich von Angiolina mit einem Freudenschrei empfangen; doch wich sie entsetzt zurück, als sie meinen zornfunkelnden Blick und das Messer in meiner Hand gewahrte. Ich war halb von Sinnen, Herr; aber dennoch, wie das liebe Mädchen dastand, so sanft und wehrlos wie ein Lamm, da sank mir der Muth, und ich wäre spornstreichs davongerannt, hätte nicht ein neuer Gegenstand meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ein Winkel des kleinen Raumes nämlich war durch einen von der Decke herabfallenden Vorhang den Blicken entzogen. Ich hatte es bisher nie bemerkt, es mußte aber meinen Verdacht um so mehr erwecken, als sich Angiolina, die Richtung meines Blickes verfolgend, mit allen Zeichen der Angst wie abwehrend mir entgegenstellte. Alles vergessend stürzte ich mit erhobenem Messer auf die Stelle los, riß den Vorhang bei Seite und – stand vor einem Bilde, nein vor der gebenedeiten Madonna selbst, welche mit den süßen Zügen Angiolinas mild und doch wie zürnend auf mich herabsah. Seht, Herr, damals war es, daß es wie Schuppen von meinen Augen fiel, daß ich plötzlich erkannte, wie schlecht ich war. Angiolina hatte – nur um das Ziel unserer Wünsche rascher zu erreichen – eingewilligt, dem fremden Herrn als Modell für das heilige Bild zu dienen; ich fiel ihr zu Füßen und bat um Verzeihung für meinen ruchlosen Verdacht.
Das gute Mädchen! Es vergab und vergaß meine Tollheit, den Fremden dagegen sah ich nicht mehr. Er hatte das Bild Tags zuvor vollendet und kehrte in die Heimath zurück, nachdem er Angiolina weit mehr als die bedungene Summe übergeben, um, wie er sagte, auch mich für die Kopfbeule schadlos zu halten. Ja, Herr, so that der Fremde. Angiolina wurde Dank seiner Großmuth wenige Monate später mein, und mein Erstgeborener trägt seinen Namen. Weder auf meinem Anwesen noch auf dieser schönen Barke lastet eine Schuld, nur meine Seele ist um so schwerer belastet. Diese Last wird nicht von ihr genommen, bis – o, ich wollte –“
Chiotti, welcher bisher mit der dramatischen Lebhaftigkeit und Zungengeläufigkeit des Romanen gesprochen, ließ den Kopf wieder auf die Brust sinken mit einem Ausdrucke von Trostlosigkeit, der mir jetzt noch räthselhafter war denn zuvor.
„Ich begreife Euch nicht, Freund Chiotti,“ versetzte ich, als er hartnäckig schwieg; „wahr ist’s, Ihr habt, von Leidenschaft verblendet, Schlimmes beabsichtigt; der Himmel fügte es jedoch, wie Ihr selbst sagtet, zum Besten, Euere Reue aber –“
„Zum Besten?“ fiel Chiotti jetzt dumpfen Tones ein, „nein, nur anders fügte er es, wie Ihr gleich hören werdet. Wenige Tage nach der Abreise des Fremden erhielt Angiolina ein Schreiben aus einer großen Stadt im Norden, worin er mit kurzen Worten anzeigte, daß er – merkt wohl auf, lieber Herr! – daß er infolge eines Stoßes in der Brustgegend, welchen er gelegentlich des Sturmes auf der Adria durch den Anprall meiner umgekippten Barke erhalten, aber nicht beachtet habe, auf der Heimreise schwer erkrankt sei; das Bild würde im Falle seiner Genesung durch einen bevollmächtigten Kommissionär abgeholt und verpackt werden, andernfalls aber sollte Angiolina dasselbe nach Jahresfrist einer Kirche weihen. O Herr, nie in meinem Leben betete ich so inbrünstig für das Wohl eines Menschen wie damals für das des großmüthigen Fremden; allein der Kommissionär kam nicht, und ein Jahr später blickte die Madonna von geweihter Stelle [115] zürnend auf den herab, der an seinem Lebensretter zum – Mörder geworden!“
Armer Chiotti! Unter solchen Umständen waren Trostgründe allerdings schwierig zu finden; als ich es aber dennoch versuchte, schüttelte er nur traurig den Kopf, um erst nach geraumer Weile mit plötzlich aufleuchtendem Blicke hinzuzufügen: „Nein, nein, mir könnte nur eines helfen, eines, und ich wollte, dieser Sturm –“ er stockte verlegen, bis ich ihn abermals mit freundlichen Worten aufforderte, seinem Wunsche rückhaltlos Ausdruck zu geben.
„Nun denn, Herr,“ meinte er endlich, „Ihr seid, wie gesagt, ein Landsmann des Fremden, und wenn es die Madonna fügte, daß auch Ihr –“
Es wollte doch nicht über seine Zunge, ich aber hatte begriffen.
„Danke schön,“ rief ich trotz aller Theilnahme hellauf lachend. „Ihr wünschet, daß die Bora auch mich in das Wasser fegte, um mich wieder herausfischen zu können, nicht wahr?“
„Beim Himmel, Herr, Ihr solltet so sicher wie ein Kind in Mutterarmen ans Ufer gelangen!“ betheuerte Chiotti, sprang jedoch mit dem letzten Worte wie besessen auf das scharf geblähte Segel zu, um es mit wenigen energischen Handgriffen zu reffen.
Da ich von der Erzählung des Mannes ganz und gar in Anspruch genommen war, hatte ich eine vom Karste heranjagende dunkle Wolke nicht bemerkt, welcher nun die Bora heulend folgte, wie dem fliehenden Hirsche die Meute. Den bald kläglich wimmernden, bald zornig aufschreienden Tönen der Lüfte antwortete dumpfes Brausen und Grollen aus der Tiefe des Meeres, nach der Volksmeinung Stimmen höllischer Geister, welche dem Gebote der Berghexe gehorchend sich anschicken, sündige Menschen und deren Werke in ihr finsteres Reich hinabzuziehen.
Dunkler und dunkler ward es; die Sonne sank als blutrother, strahlenloser Feuerball in ihr Wellengrab, und nur ein fahler Schimmer beleuchtete die schäumenden, gleich gierigen Ungeheuern aus der Tiefe aufspringenden Wogen, wie die muskulöse Gestalt Chiottis, welcher das Ruder mit der ganzen Kraft seiner nervigen Arme handhabte.
Eingedenk meiner geringen Ruderfertigkeit blieb ich ruhig auf meinem Platze, mein Wohl und Wehe dem anheimgebend, dessen innigster Herzenswunsch mich, wenn auch in bestgemeinter Absicht, in diese schäumenden Wellen versenkte; begreiflicherweise war mir dabei nicht allzu wohl zu Muthe, und ich hielt meinen Mann scharf im Auge, dessen Züge, sonst vom dunkelsten Braun, jetzt an Farbe dem fahlen Schimmer am Horizont glichen; was er aber auch denken mochte, er that seine Schuldigkeit als trefflicher Seemann, und mit dem letzten Schwinden des Dämmerlichtes waren wir, obgleich vom Sprühregen der hochgehenden See durchnäßt, in der sicheren Bucht geborgen.
Hier gab es eine eben so bewegte wie malerische Scene. Mehrere Fischerbarken waren schon vor uns eingelaufen, andere wurden noch erwartet, weinende oder betende Frauen standen gruppenweise am Ufer, auch Mäuner mit Laternen, deren Flämmchen unter der Gewalt des Sturmes gleich Irrlichtern bald verlöschend, bald hell aufleuchtend flackerten.
Bei unserer Ankunft löste sich von einer dieser Gruppen eine Frauengestalt, um mit dem Rufe „Andrea, mein Andrea!“ meinen Fährmann zu umschlingen.
„Ich habe hier noch zu thun, Angiolina,“ sagte dieser, das junge Weib nach kurzer Umarmung von sich drängend, „Du aber geh’ heim und sorge für den fremden Herrn; der Weg ins Albergo ist weit, sein Rock vom Salzwasser naß. Geh’, ich komme nach – auf Wiedersehen, Herr!“
Von seiner Eifersucht war der Mann offenbar geheilt; Angiolina dagegen blickte zögernd auf mich, doch Chiotti hatte sich schon den Männern zugewandt, welche sich eben mit der Instandsetzung eines Rettungsbootes beschäftigten; es blieb ihr keine Wahl, sie ging mit einem „Ist’s gefällig, Herr?“ mir alsbald voran.
Ich hatte die junge Frau noch nie gesehen, auch jetzt vor der dichten Kopfumhüllung nur ein Paar großer dunkler Augen erblickt; wie sie aber nun mit leichtem elastischen Schritt gegen den Sturm ankämpfte, der wüthend an ihren Kleidern zerrte, verriethen die Formen der mittelgroßen, schlanken Gestalt ein Maß von Anmuth und Schönheit, welches des jungen Fischers Leidenschaftlichkeit wenigstens in milderndem Lichte erscheinen ließ.
Nach wenigen Minuten hatten wir das von letzterem beschriebene Häuschen auf dem mit Reben und Obstbäumen bestandenen Hügel erreicht und traten in den Eingangsraum, welcher nach Landessitte zugleich als Wohnstube und Küche diente. Neben dem Feuer auf dem niederen Herde saß eine Matrone, mit der einen Hand die Kohlen schürend, mit der andern einen Knaben auf ihren Knieen haltend, welcher Angiolina mit frohlockendem Geschrei begrüßte, bei meinem Eintritte aber sofort verstummte, um mich mit verwunderten, mißtrauischen Blicken zu betrachten.
Eine kurze Verständigung zwischen den Frauen genügte, um mir den bequemsten Platz am Feuer zu verschaffen, von wo aus ich mit aller Behaglichkeit Umschau halten konnte. Nach landesüblichem Begriff war der Raum ungewöhnlich sauber gehalten; die Wände getüncht, der Ziegelboden gefegt, das Kupfergeschirr über dem Herde glänzend wie Gold und die Fischergeräthschaften an der Wand fast symmetrisch geordnet. An Bequemlichkeit oder Schmuck gab es, abgesehen von dem nie fehlenden, gewöhnlichen Madonnenbildchen mit der Lampe davor, allerdings hier eben so wenig wie in einer andern Fischerwohnung; doch machte sich dieser Mangel im Hause Angiolinas kaum fühlbar, solange sie selbst darin weilte. Und nicht die Schönheit allein war es, welche dies bewirkte, sondern die jugendliche, man möchte sagen jungfräuliche Anmuth, welche, wie in ihren Bewegungen, so auch in dem sanften reinen Ausdrucke der lieblichen Züge lag und mich sofort die Wahl meines Landsmann-Malers begreifen ließ.
Es war reizend anzusehen, wenn Angiolina mit dem kleinen „Mondo“ (Abkürzung von Edmondo, Edmund) spielte, wie eben nur eine junge Mutter zu spielen versteht, und das silberhelle Lachen der beiden stellte nicht nur mich, sondern auch die ernst dreinsehende Matrone an, so daß Lust und Fröhlichkeit den ganzen Raum erfüllte. Gewiß, man hatte recht, Chiotti zu beneiden, und nur dem Walten eines seltsam tragischen Geschickes war es zuzuschreiben, daß gerade der Beneidete den einzigen Schatten in die sonnige Heiterkeit des kleinen Fischerhauses warf. Mehrmals hatte ich das ängstliche Aufhorchen Angiolinas bemerkt, wenn mit den dröhnenden Windstößen ein Geräusch von Schritten in die Stube drang, und als ihr Gatte endlich kam, da wichen Frohsinn und Heiterkeit, und das kleine Heimwesen schien plötzlich kahl und düster gleich einem Gefängnisse.
Mit verstörter Miene, wirrem Haar und schleppendem Gang eintretend grüßte er mechanisch und schien erst durch meine Frage, ob ein Unglück geschehen, zu klarem Bewußtsein seiner Umgebung zu kommen.
„Ein Unglück, Herr? O nein!“ erwiderte er, wie sich besinnend; „ehemals passirte wohl dergleichen, doch seit ein Schuft das Salzwasser verunreinigt, will kein ehrlicher Mensch mehr ertrinken. Cospetto, sie kamen alle so trocken heim wie Heringe im Faß, und nun lachen sie und sind guter Dinge, weil sie meinen, es sei besser, in der warmen Stube zu sitzen als durch einen tölpischen Fährmann umgekippt zu werden!“
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Nach diesen Worten lachte Chiotti laut auf, zog den verschüchterten Knaben auf seine Kniee und rief: „Nun wollen auch wir lustig sein, nicht wahr, Mondo? Hopp, Hopp!“
Mein fragender Blick traf Angiolina, welche denselben mit einem traurigen Nicken beantwortete, gleichzeitig nach dem Fenster deutend, an das der Wind gewaltsam anschlug, als wollte sie sagen, daß Chiottis Zustand mit dem Sturme draußen im Zusammenhange stand.
In der That dauerte es nicht lange, so horchte dieser bei einem besonders heftigen Anpralle des Windes erschreckt auf und sagte, den Knaben beiseite schiebend, als ob er mit einer uns unsichtbaren Person spräche: „Gut, gut, ich höre schon, weiß ja, daß es sich für Schelme nicht schickt, beim warmen Herde zu sitzen, ei doch, ich komme! Was liegt auch an einer Kopfbeule, wenn sie gut bezahlt wird? Cospetto, man trinkt ein Glas Wein und ist ein gemachter Mann – ha, ha!“
Damit ging er, ohne auf des jungen Weibes herzzerreißenden Ruf zu hören, das ihm auf dem Fuße nacheilen wollte, von der Mutter jedoch zurückgehalten wurde.
„Laß ihn, laß ihn!“ sagte diese, „der Wein thut ihm gut, ich mag ihn lieber trunken als so trostlos sehen; bete, Kind, bete; Madonna hat das Elend geschickt, sie allein kann es von uns nehmen.“
Es lag im Tone dieser Rede ein nicht mißzuverstehender Vorwurf, der denn auch die junge Frau so schmerzlich traf, daß sie wie gebrochen in die Kniee sank, die Hände vor das Gesicht schlug und in bitterliches Schluchzen ausbrach.
Chiottis Mutter – denn dies war die Matrone – suchte offenbar die Schuld des heißblütigen Sohnes auf die Schwiegertochter zu wälzen, deren Einwilligung, als Modell für das Madonnenbild zu dienen, allerdings den ersten Ring zur ganzen Unglückskette geschmiedet; und wer wollte angesichts solchen Jammers mit dem Mutterherzen rechten?
Auch der Knabe barg jetzt sein Gesicht weinend im Schoße der Mutter, während die Alte verdrossen zum Feuer ging, um die Polenta fertig zu machen. Die Gegenwart eines Fremden mußte unter solchen Umständen als Last empfunden werden.
So verließ ich denn das jetzt stille Haus und steuerte dem Winde entgegen meiner Wohnung zu, so sehr von den Eindrücken der letzten Stunden erfüllt, daß ich der Unbill des Wetters kaum mehr achtete. Das Schicksal dieser harmlosen Menschen, welche im Grunde des Herzens brav und doch so unglücklich waren, ging mir um so näher, als sich mir für den Augenblick keine Aussicht auf eine glückliche Lösung zeigte.
Erst als ich lange schlummerlos auf meinem Lager das Vernommene nochmals reiflich überdacht, glaubte ich einen schwachen Hoffnungsschimmer entdeckt zu haben. Nach Chiottis Aeußerungen war keine bestimmte Todesnachricht eingetroffen; seine Annahme, daß der Maler gestorben sei, wurzelte vorderhand nur in der Ueberzeugung, daß die Schenkung eines so werthvollen Gegenstandes, wie das Madonnenbild in seinen Augen war, nur durch den Tod des Eigenthümers erklärt werden könne. Darüber Gewißheit zu erlangen, hatte allerdings seine Schwierigkeit, da der Maler dem jungen Ehepaare nur als Signor Edmondo bekannt war, auch in seinem Schreiben nur diesen Namen ohne nähere Adresse gezeichnet hatte; dennoch ließ ich den einmal erfaßten Hoffnungsstrahl nicht fahren, sondern begab mich schon andern Morgens in die kleine Kirche, deren Seitenschiff das Madonnenbild nach Chiottis Angabe barg. Es war vortrefflich ausgeführt, machte jedoch auf mich trotzdem mehr den Eindruck einer genialen Anfängerarbeit, als den eines vollendeten Meisterwerkes. Die Hauptsache aber war, daß sich meine Vermuthung bestätigte, indem ich nach sehr eingehender, zeitraubender Untersuchung, in den gemalten Arabesken eines Teppiches zu Füßen der Madonna versteckt, den Namen „Edmund Walter“ mit annähernder Wahrscheinlichkeit zu entziffern vermochte.
Auf Grund dieser Entdeckung und mit Zuhilfenahme eines aus der Buchhandlung bezogenen Künstlerlexikons wandte ich mich nunmehr direkt an den Maler, als dessen Heimathsort Schleswig angegeben war, verschwieg meinen Freunden jedoch diesen Versuch, um nicht vorzeitig Hoffnungen zu erwecken, für deren Erfüllung ich keinen andern Anhaltspunkt als die mir bekannte Launenhaftigkeit und Flüchtigkeit der Künstlernatur hatte. Ohne Chiottis schmerzliches Geheimniß zu verrathen, ersuchte ich meinen unbekannten Landsmann, lediglich ein Lebenszeichen zu geben, um einem braven Manne den Vorwurf, daß dessen Ungeschicklichkeit oder Unvorsichtigkeit seinem Wohlthäter das Leben gekostet, von der Seele zu nehmen, versah den Brief mit einem Begleitschreiben an die betreffende Behörde und erwartete nun mit begreiflicher Spannung das Ergebniß.
Sagte ich mir auch hundertmal, daß eine Bestätigung der Todesnachricht als der wahrscheinlichere Fall zu erwarten sei, so baute ich doch auf die germanische Zähigkeit des Landsmannes und harrte um so ungeduldiger, als mir Angiolina gelegentlich eines Besuches mittheilte, daß sich der Zustand ihres Gatten von Tag zu Tag verschlimmere.
Die „zürnende Madonna“ schwebte im Wachen und Träumen vor den Augen des im kindlichen Glauben des romanischen Volkes Erwachsenen, eine Qual, welche um so verheerender wirkte, als der Mann in seinem gefahrvollen, aber nur zeitweise die volle Manneskraft erfordernden Berufe ganze Tage müßig und mutterseelenallein auf der weiten See verbringen mußte. In der ewigen Stille solcher Einsamkeit aber lauschte er Stunde um Stunde der Stimme in seinem Innern, welche ihm ohne Unterlaß zuflüsterte: „Verworfener, sühne Deine Schuld, ehe des Himmels Zorn Dich und die Deinen trifft!“
Drei Wochen waren verflossen, als endlich der so sehr ersehnte Postbote in meine Stube trat und mir ein Schreiben aus [127] Hamburg einhändigte. Hastig öffnete ich es und sah nach der Unterschrift; da stand mit festen, deutlichen Zügen der Name „Edmund Walter!“
Wie von einem Alp befreit, athmete ich auf; er lebt, der leichtsinnige Schlingel, dachte ich und las nun getrost die vier engbeschriebenen Seiten. Doch bat ich dem Manne sofort ab: er hatte in der That eine schwere, lebensgefährliche Krankheit zu überstehen gehabt, verdankte seine Rettung nur der aufopfernden Pflege einer Dame, Tochter eines Deutsch-Amerikaners, welche er auf der Reise kennen gelernt, und war vierzehn Tage nach seiner Genesung als Gatte der schönen Samariterin zur Nachkur über den Ocean in deren Heimath gezogen. Solchen Erlebnissen gegenüber war das Verblassen früherer Ereignisse in des Künstlers Gedächtniß um so begreiflicher, als die Erinnerung an das Madonnenbild dem Schöpfer, wie derselbe diesen Mittheilungen beifügte, auf seinem jetzigen künstlerischen Standpunkte keineswegs Befriedigung gewährte. Das im liebenswürdigsten Tone gehaltene Schreiben schloß mit freundlichen Grüßen an das Ehepaar Chiotti wie mit der Versicherung, daß er das Glück, dessen er sich an der Seite seiner jungen Gattin erfreue, ohne Bedenken mit einem nochmaligen Schiffbruche gleich jenem auf der Adria erkaufen würde.
Ohne einen Augenblick zu warten, eilte ich mit dem Briefe in der Tasche zum Strande hinab, wo Chiotti, wie ich wußte, sicher zu treffen war. Seine Barke hatte bei der nächtlichen Brandung eine kleine Havarie erlitten und war zur Ausbesserung trocken gelegt worden; doch kümmerte sich der Eigenthümer nicht weiter darum, sondern lag vom Morgen bis zum Abend am Ufer in dumpfem Brüten, kaum die nothdürftigste Nahrung genießend und jede Anrede mit einem kurzen „Ja“ oder „Nein“ und jenem unheimlichen Lächeln beantwortend, das die Lippen Geistesgestörter umspielt.
So fand ich ihn auch diesmal im Ufergrase ausgestreckt, Gesicht, Brust und Arme von der Abendsonne in leuchtende Bronze getaucht, dem Anscheine nach eine schöne harmlose Staffage der Strandidylle, die mir so unvergeßlich geworden. Angiolina war, von schwerer Sorge um den Gatten getrieben, herabgekommen und hatte den kleinen Mondo auf den Rücken des Vaters gesetzt, um diesen aus der geistigen Erstarrung zu lösen. Das Jauchzen des kleinen Krauskopfes mischte sich mit dem Frohlocken der abseits badenden Kinder wie mit dem lustigen Gelächter der „Boccia“ Spielenden zu einem einzigen Jubelkonzerte, ohne jedoch den stummen Mann auch nur für einen Augenblick aus seinem Tiefsinn zu wecken. Angiolinas Auge, das eben noch mit Entzücken die reizenden Bewegungen des strampelnden Kindes bewacht, füllte sich mit Thränen; es war der letzte Versuch: wenn Mondos Lachen wirkungslos blieb, dann gab es ihrer Meinung nach kein Heilmittel mehr für den Erkrankten.
In diesem Augenblicke aber wurde die Scene plötzlich verändert. Dem Schreckensruf: „Ein Hai, ein Hai!“, von einem der badenden Knaben ausgestoßen, folgte ein dumpfes Aufklatschen in den Wellen und ein Schrei, wie ihn nur Mutterangst aus der menschlichen Kehle zu pressen vermag. Ein kleines, auf schmaler Landzunge spielendes Mädchen war, durch den Ruf erschreckt, in das Meer gestürzt und vor den Augen der Mutter in den brandenden Wogen verschwunden.
Starres Entsetzen lähmte augenblicklich jede Thätigkeit. Die Erscheinung des gefährlichen Seeungeheuers ist in jenen Gewässern ziemlich selten und deshalb um so mehr gefürchtet.
Was aber dem jubelnden Mondo nicht gelungen, das hatte der Angstschrei einer Mutter bewirkt. Chiotti wandte sich wie elektrisirt nach der Unglücksstätte und flog, nachdem er mit dem scharfen Seemannsauge die Sachlage überschaut, gleich einem vom Bogen geschnellten Pfeile dahin, um wenige Sekunden nach dem Falle des Kindes an derselben Stelle in den Wellen zu verschwinden.
Die Spanne Zeit bis zu dessen Wiedererscheinen dehnte sich zur Ewigkeit; doch endlich tauchte er auf, von hundertstimmigem Freudenschrei begrüßt, denn sein Arm umschlang das gerettete Kind!
Den folgenden Ausbruch mütterlicher Wonne und Dankbarkeit hörte ich nur mit halbem Ohr, so laut er auch ertönte; denn meine ganze Aufmerksamkeit war auf Chiotti gerichtet, wie er ans Ufer stieg, prächtig anzusehen in der leichten, an dem muskulösen Gliederbau klebenden Kleidung. Nein, das war nicht mehr derselbe Mann, der noch vor wenigen Minuten an sich und dem Himmel verzweifelnd dagelegen! Hoch aufgerichtet schritt er durch den Sand, die breite, braune Brust dehnend, als athmete er heute zum ersten Male die wonnige Luft dieses Himmelsstriches, mit strahlenden Augen um sich blickend, als sähen diese heute zum ersten Male die blühenden Gefilde dieses gesegneten Gestades! Und jetzt traf sein Blick das Wonnigste und Blühendste dieser neugewonnenen Welt, Angiolina, welche, mit Mondo in den Armen, sprachlos, zitternd vor Erregung, Angst und Freude ihm entgegentrat. Da erstarb auch ihm das Wort auf den Lippen; der Sturm in seinem Innern, die lange zurückgehaltene Gattenliebe suchte und fand einen andern Ausdruck, dessen Gebrauch allerdings nicht jedem Menschenkinde vergönnt ist. Der starke Mann hob mit den eisernen Armen Weib und Kind wie im Triumphe empor und rannte dann mit dem kostbaren Schatze so eilig davon, als könne derselbe nicht rasch genug den Blicken der neidischen Welt entzogen werden!
Ich wollte Chiotti in seinem wiedergefundenen Glück nicht stören und suchte ihn erst in später Abendstunde auf. Als ich das Fischerhaus betrat, lag noch in Chiottis Zügen ein Abglanz der Freude über die gelungene Rettung als ein „Gnadenzeichen der versöhnten Madonna“; aber das wehmüthige Zucken des Mundes verrieth hinlänglich, daß das Bewußtsein einer schweren, durch keine Sühne ungeschehen zu machenden That nicht geschwunden war.
Wäre ich darüber noch im Unklaren gewesen, die Wirkung des Schreibens, als ich dasselbe nach bestem Vermögen verdolmetschte, hätte jeden Zweifel benommen. Mit gefalteten Händen horchte Angiolina, mit schweren, wie Schluchzen tönenden Athemzügen Chiotti der freudigen Botschaft; dann preßte dieser meine Hand, als wäre sie eine Citrone, das junge Weib aber bot mir in der Herzensfreude die blühenden Lippen zum Kusse. Mein Blick traf Chiotti, doch dieser sah lächelnd zu, ein genesener freudestrahlender Mann!
Noch manchen Abend verbrachte ich in seiner Behausung, namentlich wenn Sturm und Regen den Aufenthalt im Freien verleideten und der Aufruhr der Elemente das Verlangen nach dem stillen Frieden eines häuslichen Herdes, dem Anblicke eines vollen Menschenglückes verdoppelte.
Ein volles Menschenglück? – Ja, es giebt ein solches, was auch Pessimisten in Palästen und Hütten dagegen sagen. Auch möchte ich es keinem derselben rathen, meinem zweifach geheilten Othello gegenüber daran zu zweifeln. Und das mag es wohl sein, was mir dessen markige Bronzegestalt im Rahmen der blauen stillen Meeresbucht stets in Erinnerung bringt, wenn die ersterbende Natur das Herz mit bangen Ahnungen befällt; was mir Sonnenschein und Sommerluft in die Stube zaubert, wenn die Dohlen des Winters Nahen künden und der Sturm vergilbte Blätter an die Fenster weht.