Textdaten
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Autor: P. W.
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Titel: Ein fleischfressender Hirsch
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aus: Die Gartenlaube, Heft 44, S. 748
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[748] Ein fleischfressender Hirsch. Bekanntlich hat der letzte Winter dem Wildstande sehr geschadet, da bei der anhaltend strengen Kälte die Bäche und Flüsse zugefroren waren und der hohe Schnee, der Alles bedeckte, das Wild abhielt, seine Nahrung zu suchen. Folgende Thatsache nun dürfte für Thierfreunde nicht ohne einiges Interesse sein.

Während meines Aufenthaltes bei meinem Freunde in E. hatte ich Gelegenheit, dort einen Hirsch zu sehen, der dem Tode des Verhungerns und Verdurstens durch einen glücklichen Zufall entgangen war. Waldarbeiter fanden im Januar dieses Jahres das arme Thier im Schnee liegen. Es war aus Mangel an Nahrung entkräftet und auf einer Seite schon vollständig erstarrt. Sie hoben den Hirsch auf, trugen ihn in die Stadt und brachten ihn zu dem Jagdberechtigten des betreffenden Reviers, zu Herrn F., welcher dem Hirsch, der ungefähr ein Jahr alt war, ein Bündel duftiges Heu vorwarf, das derselbe mit Gier verzehrte. Hierauf ließ ihn Herr F. Wasser saufen und bereitete ihm in der Küchenstube unter dem im Gebirge üblichen großen Kachelofen eine Streu. Bei der behaglichen Wärme und sorgsamen Pflege erholte sich der Hirsch vollständig und gewöhnte sich mehr und mehr an die menschliche Gesellschaft, besonders an seinen Herrn, der, ein großer Thierfreund, sich viel mit dem Hirsche beschäftigte und ihm den Namen Hans gab.

Als ich Herrn F. besuchte, fand ich das Thier munter im Garten umherspringend; auf den Ruf seines Herrn kam es herbei und beschnupperte mich neugierig, wie es ein Hund mit Fremden zu machen pflegt. Darauf fraß der Hirsch mir ein Stück Brod willig aus der Hand, richtete jedoch seine Aufmerksamkeit alsdann auf eine frische Wurst, welche sein Herr eingewickelt unter dem Arme trug, und ruhte nicht eher, als bis sein Ziehen und Zerren an dem Papier Erfolg hatte und ihm ein Stück davon gereicht wurde. Als ich meine Verwunderung darüber ausdrückte, erzählte mir Herr F., daß der Hirsch überhaupt mit der menschlichen Gesellschaft auch menschliche Gewohnheiten angenommen, sogar Hirschbraten nicht verschmähe und Bier aus dem Seidel trinke. Mit dem Hunde seines Herrn steht er auf ganz freundschaftlichem Fuße, während er gegen fremde Hunde die Furchtsamkeit seines Geschlechtes abgelegt hat und seine „Spieße“ gar wohl anzuwenden weiß. Bei schönem warmem Wetter schläft er in einem Schuppen, während er bei rauher Witterung seinen ersten Lagerplatz unter dem großen Kachelofen aussucht.
P. W.