Textdaten
<<< >>>
Autor: F. Brunold
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ein einsames Herz
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 30, 31, S. 477–479, 483–487
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[477]
Ein einsames Herz.
Von F. Brunold.

Der Leichenwagen hielt vor der Thür. Die alten Frauen, die, wie bei den Trauungen vor den Kirchen, bei jedem Leichenbegängniß vor den Häusern sich aufhalten, standen auch hier, die Hände unter der Schürze, um sich wie immer, über Jedes ihre Bemerkungen laut und ungehindert mitzutheilen. Sie warfen einen Blick auf den Leichenwagen und sagten: „Es ist der große! Also keine kleine Leiche!“

„Ja!“ sagte die Eine, „dort kömmt auch Geheimraths Kutsche angefahren.“

„Und der Herr Rechnungsrath von neben an,“ sagte eine Andere, „hat sogar seine Orden vorgebunden und den neuesten Frack angezogen. Man sollt’s nicht meinen!“

„Und nun sehe Einer die Blumenpracht!“ sagte die Dritte. „Sollt’ man nicht glauben, die Dinger wüchsen jetzt wie die Grashalme auf allen Plätzen? Und wir haben doch erst April im Kalender, wo eben die Rosen und Schmucklilien nicht wie Gras wachsen. War das ein Anblick!“

In diesem Augenblick fuhren wieder mehrere elegante Kutschen vor, in denen, wie man sah, reiche und vornehme Herren saßen. Auch der Prediger kam und ging in das Haus. Mehrere Damen, in tiefe, schwarze Gewänder gehüllt, blühende Myrthen und andere herrliche Blumen in der Hand, folgten bald darauf. Alle schritten sie mit dem unverkennbarsten Zug der tiefsten Trauer die Treppe hinauf zur Wohnung, wo die Leiche stand.

„Wer ist gestorben?“ frug eine schöne blühende Frau. „Wohl ein junges Mädchen, das oben im Sarge liegt?“

„Nicht jung! nicht hübsch mehr!“ hieß es. „Die droben liegt, war eine arme Nähterin – und jung? – Nein! jung war sie schon lange nicht mehr!“

Die Frau schwieg, sie schien nicht mehr reden zu wollen, sie ging in das Haus hinein und schlich sich langsam, leise, gefolgt von etlichen Anderen, die Treppe hinauf, bis sie endlich vom Flur aus durch die offene Thür den Sarg sehen konnte, wie auch im Nebenzimmer die Leidtragenden, die sich anschickten, die Rede des Geistlichen zu vernehmen. Die Frauen waren gerade noch zu rechter Zeit gekommen. Man war im Begriff den Sarg zu schließen – noch ein Blick, der letzte, war ihnen vergönnt.

Und da lag sie nun in weißem Sterbekleide in dem schwarzen Schrein, der überaus reich mit weißen Kanten, Spitzen und Bändern garnirt war, die volle, blühende Myrthenkrone auf dem Haupt, umschlungen von einem Kranz von Camelien und weißen Rosen. Die Hände ruheten gefaltet auf der Brust, auf der sonst nichts weiter lag als ein kleines, schmuckloses, goldenes Kreuz, das an einem einfachen, weißseidenen Bande vom Halse niederhing. – Der Sarg wurde geschlossen. – Es war geschehen! Die Frauen und Jungfrauen, die jungen lieblichen Kinder, die im Nebenzimmer geweilt, kamen und legten ihre duftenden Blumen, ihre Kränze auf den Sarg, sodaß derselbe wie unter einer Blüthendecke begraben lag. Die Rede des Geistlichen begann. Und während derselbe in einfach rührender Weise der Geschiedenen dachte, während die Umstehenden sich der aufrichtigen Thränen des Schmerzes und der Wehmuth nicht enthielten, ging den Einzelnen das Leben der nun in dem Herrn Ruhenden in Bildern und Zügen der Erinnerung vorüber.

„Weißt Du noch?“ flüsterte eine Dame in schwarzer Robe, an deren Seite zwei herrlich schöne Kinder weinend standen, ihrer Nachbarin zu, „weißt Du noch?“

Und die Andere nickte leise und sagte traurig: „Ich weiß es wohl!“


Wie hatte einst der Frühling des Lebens, der Lenz der Natur der Verstorbenen entgegengelacht! Ihr Vater war Beamter des großen königlichen Instituts, dessen Säulen des Portals, dessen reichgeschmückte Giebelwand jetzt noch die breite, prächtige Straße daher [478] leuchtet. Sie war ein wahrhaft schönes Mädchen, sie gehörte zu jenen Wesen, von denen die Sage geht, daß ein Engel bei ihrer Geburt die Augen ihr geküßt habe und dadurch die anfangs schwarzen in dunkelblaue umgewandelt, während das Haar seine glänzende Rabenschwärze behielt. Ihr Anblick hatte etwas bezaubernd Anziehendes, und dieser Anblick wurde schöner und schöner, je mehr sie sich zur Jungfrau entwickelte, je mehr ihr inneres und äußeres Leben sich entfaltete.

Unter solchen Umständen konnte es nicht fehlen, daß die jungen Männer, die vorübergingen, die am Fenster Sitzende bewunderten, und daß manch’ Einer von ihnen sich zu der aufbrechenden Mädchenrose hingezogen fühlte. Und als die Liebe nun durch ihre Seele zog, als sie meinte, Den gefunden zu haben, dem ihr Herz jubelnd entgegenflog, da war ihr Leben ein einziger Wonnegesang. Sie jubelte dies Glück nicht aus in Wort und Blick, aber ihr ganzer Körper schien durchgeistigt vom Hauch der Liebe, ihr Körper schien Engelsflügel bekommen zu haben – und in ihrer Brust schienen unzählige Lerchen einen Wettgesang anzustimmen.

Und als dennoch, wenige Monden darauf, diese Liebe zu Grabe getragen werden mußte, als er, der Treue geschworen, diese Treue brach, ihr Ringlein ihr wiedergab – hat sie nicht laut geschrieen, geklagt und die Hände gerungen; sie hat nur wochenlang still gelegen, wie in Todesschlaf versenket. Und als sie endlich zu neuem Leben erwachte, wußte man es, daß der Engel, der die Augen ihr geküßt – der Engel der Schmerzen gewesen war.

Bald darauf trat ein neues Unglück ein. Der Vater starb. Und wie es bei solchen Beamtenfamilien meist der Fall zu sein pflegt, daß, wenn der Gatte die Augen schließt, auch die Sorge und Noth, die bisher das kaum nothdürftig ausreichende Gehalt von Monat zu Monat fern gehalten hat, klar zu Tage tritt, so war es auch hier der Fall. Das Amt war kein bedeutendes gewesen, Vermögen nicht gesammelt worden. Die Dienstwohnung mußte verlassen werden, und Mutter und Tochter zogen in eine bescheidenere, als sicheres Einkommen nur die Pension genießend, die der Beamtenwittwe von Staatswegen zu Theil wurde.

Ein anderes Mädchenherz wäre dem Schmerze erlegen. Ihr stählte der Schmerz den Charakter, die innere Lebenskraft. Es war ein bescheidenes Stübchen, das Mutter und Tochter von jetzt ab ihr eigen nannten. Alles Ueberflüssige, alles Entbehrliche war verkauft worden. Sie lebte von nun ab für die Mutter; sie arbeitete für sie. Und als Letztere weinend die Hände auf ihr Haupt legte, sagte sie in ruhigem Ernst:

„Beklage mich nicht! Ich habe des Lebens schönstes Glück genossen; ich habe das Diadem der Freude getragen – und so will ich auch die Schattenseite von diesem Dasein dulden. – Es kommt ja nicht darauf an, wie lange man ein Glück genießt, sondern nur, daß man überhaupt von Gott gewürdigt wurde, es zu genießen. – Ich habe geliebt, treu, herzinnig, mit ganzer Kraft meiner Seele; ich werde dieser Liebe nicht für einen Augenblick uneingedenk bleiben, ich werde mich derselben nimmer schämen; aber an das Licht des Tages soll dieselbe niemals wieder treten. – Und wenn ich heut, zum ersten Mal nach seinem Scheiden, von dieser Liebe zu Dir, Mutter, spreche, so laß es auch das letzte Mal gewesen sein! – Ich will und werde diese Liebe niemals verleugnen; nein, offen will ich es bekennen: Ich habe ihn herzinnig lieb gehabt, wie nur ein Herz das andere lieben kann – aber sprechen davon laß uns nimmer wieder. Ich bin glücklich gewesen. Dieses Glück war zu groß, zu schön für mich; und um desselben willen vergebe und vergesse ich die Schmerzen, die sein Scheiden mir bereitet hat. Möge die Erinnerung an mich nie den Frieden seiner Seele trüben.“

Sie schwieg; – und niemals wurde des Gegenstandes wieder mit Worten gedacht. Keine der Bekannten, keine der Freundinnen erwähnte jemals dieser Liebe wieder. Sie wußten es Alle, daß sie diese Liebe noch immer verschwiegen in der Brust trug, daß sie aber auch zugleich dieselbe nicht durch ein profanes Wort entheiligt oder geschmäht wissen wollte. Den eigentlichen Grund, weshalb diese Herzen sich schieden, hat Niemand erfahren, sie hat ihn mit in’s Grab genommen.

Nur manches Mal in tiefer Nacht,
Wenn Alles ringsum schlief,
Ist sie aus bösem Traum erwacht,
Und seufzte schwer und tief.

Und unbewußt der Lippe leis’
Entfuhr ein Name dann
Indeß vom Auge fiebernd heiß
Einsam ’ne Thräne rann.

Sie hat gelebt, geschafft, gearbeitet für die Mutter. Und als diese, sie segnend, starb, blieb sie in dem Stübchen wohnen, das sie bislang inne gehabt – und schaffte und arbeitete mehr denn zuvor – für sich, für ihren Unterhalt. Kamen die Freundinnen, die Bekannten und baten, diese oder jene Unterstützung nachzusuchen, diese oder jene Hülfe anzunehmen, die ihr gut thun würde, da der Mutter Pension ja nun auch seit dem Tode derselben nicht mehr ausgezahlt würde, so schüttelte sie ernst das Haupt und sagte: „Nein, nein! nicht betteln! Der Staat hat genug zu ernähren; ich kann arbeiten; ich werde und will Niemand zur Last fallen.– Was thut’s, daß ich von früh auf bis spät in die Nacht hinein werde die Nadel führen müssen? Ich danke es meiner guten Mutter, daß sie mich das Nützliche, das Brauchbare lernen ließ, daß sie mich an ernste, ausdauernde Thätigkeit gewöhnte. – Ich werde nicht mehr, wie in jungen Jahren, am Clavier sitzen und singen können, aber meine Lieblingslieder kann ich mir noch immer, wie ehedem, bei der Arbeit summen. Was thut’s, daß ich nicht mehr Blumen und Bilder zeichnen kann, die ja doch im Ganzen genommen werthlos waren? Ich sticke dafür jetzt die schönsten Blumen und Arabesken in Tüll und Mull, und meine Gedanken sticke ich eben mit ein. Freilich! meine lieben Bücher, meinen Schiller, meinen Lessing, werde ich nicht mehr lesen können – ich muß meine Augen schonen. Doch sind sie mir deshalb gänzlich verloren? Wird die Recha des Nathan mir nicht immer gegenwärtig bleiben? Wird Schiller’s Louise, seine Maria, seine Thekla, seine Bertha mir nicht, wie sonst, zu Herzen sprechen? – Was ich liebte, das Gute, vergesse ich nimmer, nur das Böse suche ich aus meinem Gedächtnisse zu verbannen.“

Und nach einer Weile setzte sie, ein wenig schalkhaft lächelnd, hinzu: „Fürchtet auch nicht, daß ich in der Mode werde gänzlich zurückbleiben! Ihr wißt, ich hielt von jeher auf guten Stoff zu meinem Anzuge – und der veraltet immer weniger leicht, als solch unsolider Firlefanz. Ihr sollt in mir keine Vogelscheuche finden – die Euch die Gäste vertreibt, so ich einmal Euch zu besuchen komme.“ Das sprach sie Alles so sanft, so ruhig mild lächelnd, daß man ihr nicht zürnen konnte, aber daß man sie auch lassen mußte, wie sie war, wie sie blieb, wie sie sein wollte. ––

Und sie war und blieb einsam, still für sich, auf sich selbst bauend, sich selbst vertrauend. Die Jahre kamen und gingen. Ihre Freundinnen wurden verheirathet, sie wurden glückliche Mütter – und schickten nun, wenn sie nicht selber kommen konnten, ihre Kinder von Zeit zu Zeit zu der Freundin, die sie nicht vergessen hatten, die sie selbst noch zu besuchen kamen, hin und wieder, wie ehedem, da sie noch jung waren, da die Tage des Schmerzes, der Einsamkeit noch nicht gekommen waren. Sie selber klagte nie, sie blieb sich immer gleich, gleich mild, gleich freundlich, den Kindern eine liebe gute Tante, zu der sie gern gingen, zu der die Mütter sie gern sendeten.

Der Geheimrath, der drüben, ihr gegenüber, seit einiger Zeit in der theuren Wohnung wohnte, sah ihr Licht noch spät in der Nacht schimmern, wenn er von seinen Acten aufblickte oder aus fröhlicher Gesellschaft spät nach Hause kam. Er fand sie immer schon auf, still am Fenster nähend sitzen, wenn er früh des Morgens aufstand und zu seinem Tische ging. Er kannte sie, ihr Leben – er hatte sie von Jugend an gekannt. Sein Vater war Director des Instituts gewesen, an welchem der ihrige seine bescheidene Unterstelle gehabt hatte. Er gedachte des schönen, blühenden Mädchens, mit dem er sich als Knabe fröhlich durch den Garten getummelt hatte, dem er später als Jüngling so manche kleine Aufmerksamkeit erwiesen hatte, dessen Liebesleben den äußeren Umrissen nach ihm nicht unbekannt geblieben war. Jetzt sah er nun das alternde, einsam drüben am Fenster sitzende Mädchen, dessen Leben einst so glücklich, so heiter, sorgenlos zu werden versprach. Er konnte es nicht lassen, es drängte ihn, er mußte zu ihr gehen, er mußte sehen, wie es ihr ginge.

Und sie erkannte ihn gleich, sie erröthete ein wenig, als sie ihn eintreten sah. Aber es war nur einen Augenblick, und die flüchtige Scham, die sie empfand, daß sie in so beschränkten Verhältnissen dem gegenüber stehen mußte, der sie einst wohl anders wieder zu sehen erwartet hatte, war überwunden. Sie kam seiner offenen Güte, seiner Freundlichkeit herzlich entgegen. Sie wies seine angebotene Hülfe nicht zurück, aber sie nahm dieselbe auch nicht an.

[479] „Ein einzeln stehendes weibliches Wesen bedarf wenig,“ sagte sie.

„Und wenn Sie älter werden?“ sprach er und blickte sie dabei voll Wehmuth und Theilnahme an.

„Ja, freilich,“ sagte sie und fuhr sich dabei mit der Hand über die noch immer schöne Stirn, „wer möcht’ gern alt werden! und wir Frauenzimmer am wenigsten, und doch nimmt das Alter keine Rücksicht, es kommt – und oft recht fühlbar.“

Doch als er nun dringender fragte: „Haben Sie jemals an diese Ihre Zukunft gedacht? Haben Sie einen Plan? Bitte, sprechen Sie!“ da schaute sie ihn an mit den blauen, von dem Engel geküßten Augen und sagte: „Ich denke immer, Gott wird mein Gebet erhören und mich früher von der Welt nehmen, ehe diese Hände, diese Augen aufhören, ihren Dienst zu versehen. Doch freilich, Gottes Wege sind wunderbar! So hab’ ich also auch den Fall bedacht. Und damit Sie sehen, daß ich Ihr freundliches Entgegenkommen in vollstem Maße zu schätzen weiß, will ich Ihnen sagen, was ich meine, und Sie sollen mir dazu behülflich sein, damit geschieht, was ich wünsche. Nein, nicht gerade was ich wünsche, aber was ich doch als Nothwendigkeit betrachte, wenn mich Gott nicht früher abrufen sollte. Blicken Sie zum Fenster hinaus, von drüben herüber glänzen uns die Giebel des Magdalenenstiftes entgegen. Das ist ein Zufluchtsort für ältere Damen. Dort möchte ich mein Leben beschließen. Wollen Sie für mich die geeigneten Schritte dazu thun?“

Der Geheimerath blickte auf das einst so blühende Mädchen, er gedachte ihrer Schönheit, ihrer Jugend – und nun ihres Wunsches, ihrer Zukunft. Ein schmerzliches Gefühl zog durch seine Brust; er konnte nicht sogleich antworten – er mußte schweigen.

Sie sah seine Bewegung, sie wußte, was in ihm vorging, und sprach daher weiter, unter wehmüthigem Lächeln: „Es berührt Sie eigen, daß ich meine Zuflucht in ein Stift der Barmherzigkeit, oder wenn Sie wollen, in ein Spital nehme. Der Name schreckt mich nicht. Und meinen Grundsätzen, mich, so lange es geht, mit eigener Kraft durch die Welt zu bringen, werd’ ich dadurch nicht untreu. Anstalten der Art werden von Bittgesuchen bedeutend heimgesucht, sodaß unter Vielen es nur Wenigen gelingt, die Aufnahme zu erreichen. Wollen Sie deshalb für mich schon jetzt die geeigneten Schritte thun? Ich thät’ es selbst, aber ich denke, ein Mann in Ihrer Stellung findet weniger die Thüren und Herzen verschlossen, als es mit einem unbedeutenden Frauenzimmer der Fall sein würde. Wollen Sie?“

Der Geheimrath mußte unwillkürlich die Hand der Bittenden ergreifen, und er sagte in einiger Hast, wie voll Freude: „Gewiß will ich das thun!“ Zögernd jedoch setzte er hinzu: „Aber wissen Sie auch, daß eine bedeutende Summe zum Einkauf in die Stiftung nöthig ist?“

„Ich weiß es!“ sagte sie ruhig, als sie sah, daß der Geheimrath in seiner Rede inne hielt, „und daß ich dies weiß, macht es eben, daß mir die Aufnahme in dies Stift besonders wünschenswerth ist. Ich mag umsonst, aus Gnad’ und Barmherzigkeit, nicht Aufnahme finden. Zahle ich, wenn auch wenig, bin ich gleichsam dort, wie auf Leibrenten!“

[483] Nach einer kurzen Pause erwiderte der Geheimrath dem alternden, einsamen Mädchen: „Aber es sind mehrere Hundert, wenigstens dreihundert Thaler, zum Einkauf in die Stiftung nöthig.“

„Auch das weiß ich,“ rief sie freudig entschieden; „denken Sie nicht, daß ich, wenn ich an eine solche Zuflucht dachte, nicht auch für dieselbe gespart haben würde. Ich weiß, ich werde mir diese Summe vollständig ersparen.“

„Ersparen?“ fiel der Rath erstaunt und doch auch wieder [484] etwas ungläubig ein, „ersparen von Ihrem geringen Verdienst, der oft zum Lebensunterhalt nicht zureichend sein mag? Hunderte ersparen? Das ist unmöglich!“

„Unmöglich?“ lächelte sie und ihr Auge glänzte in heiligem Feuer. „Sie kennen die Charakterfestigkeit der Frauen nicht! Ich bedarf Weniges – und ich habe gespart.“

Der Geheimrath schüttelte noch immer wie ungläubig das Haupt; endlich sagte er: „Ich will Ihnen glauben; ich will thun, was Sie verlangen. Ist’s möglich, so soll Ihr Wunsch erfüllt werden. Doch um dies Eine bitte ich: betrachten Sie mich von heute ab als Ihren Freund, und wenn es mir gelingt, Ihnen die Aufnahme zu verschaffen, und Ihnen die erforderliche Summe zum Einkauf mangelt – lassen Sie mich das Fehlende ergänzen.“ Der Rath schwieg.

Sie aber sprach, freundlich lächelnd: „Nicht ergänzen, nur vorstrecken das etwa Fehlende, das ich dann nach und nach abzuzahlen gedenke. Damit Sie aber nicht fürchten, daß Ihre Güte zu bedeutend in Anspruch genommen werden möge, erlauben Sie mir –“

„Doch nicht etwa, Ihre Ersparnisse zu sehen?“ rief der Geheimrath in komischer, freundlicher Hast. „Nein, nein! ich will nichts wissen, nichts sehen –“ und schnell eilte er zur Thür hinaus.




Und nun! welch reizendes Bild! Am Flügel sitzt ein junges Mädchen – und singt. Und die Worte, die der Lippe entströmen, klingen so metallvoll, glockenrein, daß es eine unaussprechliche Freude gewährt zuzuhören. Jetzt geht die Thüre auf. Sie, die wir kennen, tritt leise ein. Sie bleibt zögernd stehen, sie lauscht den Worten des Liedes – und ein Zug recht schmerzlich süßer Freude lagert sich auf ihrem Gesicht. Endlich wendet die Sängerin den Kopf und wird so die Lauschende gewahr. Mit dem freudigen Ausruf: „Tante, meine liebe, beste Tante,“ fliegt sie auf, umschlingt sie mit ihren vollen, weichen, schönen Armen und drückt ihren Mund auf den ihrigen. „Wie Du mich erfreut hast durch Dein Kommen! Und gerade heute mußt Du kommen, wo Alle aus dem Hause sind, wo ich allein bin, Dich ganz genießen kann – und Dir Alles thun, was Dir Freude macht.“

„Ja, ja!“ sagte die Angekommene und streichelte ihrem Lieblinge die Wange; „nennst mich auch Tante, und ich bin’s auch dem Herzen nach. Bist mein Prachtmädel! War mir heut’ so eigen zu Muth, es hielt mich nicht daheim! So bin ich denn nun gekommen – und sollst mir Etwas singen – singen, bis ich ruhig geworden sein werde.“

„Und das will ich von ganzem Herzen thun,“ sagte das junge Mädchen und kauerte sich nieder zu den Füßen der Verehrten. „Ich will Dir alle meine neuesten, schönsten Lieder singen – bis Du selber sagen wirst: nun hör’ auf. Hab’ Dich ja so lieb! Und bist Du es nicht gewesen, die meine Bitte bei den Eltern unterstützte, als ich bat, mich dem Theater widmen zu dürfen?“

„Denk’ auch daran Recht gethan zu haben!“ sagte die Tante und streichelte dem Lieblinge das blonde Haar. „Bist mit Leib und Seel’ Sängerin, und der liebe Gott hat Dir eine Stimme gegeben, daß es Sünde wäre, wenn Du sie einrosten ließest. Doch Eins, Kind, was Du werden willst, werde es ganz; nur was man ganz erfaßt hat, bringt Glück und Freude – und die Schmerzen, die nicht fehlen – trägt man auch. Und nun sing’ mir Deine Lieder, Kind, aber nicht Deine neuen, sondern die alten, die ich kenne und die mir lieb sind!“

Die Sängerin nickte, sie stand auf, sie ging zu ihrem Instrument und sang. Es waren einfache Lieder, die ihrer Brust entströmten. Und sie mit ihrem einsamen Herzen, mit ihren Jahren voll Gram, mit ihrem Tropfen Glück und Lebensfreude, sie saß in der Ecke des Sophas, hatte die Augen geschlossen und ließ diese Lieder, diese Melodien vorüberrauschen, durch ihre Seele ziehen, wie Windharfenklang, wie einen Gruß aus ihrer Heimath Jugendland. Die Sängerin sah sich um, und unbemerkt, unbeachtet hub sie plötzlich nun, im süßen Wohllaut ihrer Stimme, der Träumenden Lieblingslied zu singen an. Aus vollem Herzen sang sie jetzt:

Find’st Du auf Deinen Wegen
Ein Herz, das treu Dich liebt;
Denk’, daß Dir wird ein Segen,
Den Gottes Hände legen
Auf’s Haupt Dir, ungetrübt.

Die Ruhende öffnete das Auge, sie lauschte; sie hob sich leise auf und schritt zur Singenden. Derselben ihre Hand auf das Haupt legend, sagte sie: „Hab’ Dank! ’s ist ein wahr Wort, das dort im Liede steht. Und wenn auch Du, mein Liebling, einst findest, was Dir Dein Herz rascher schlagen macht – dann, Kind – dann laß still und einzig allein die Liebe walten. Denk’, daß Du jede Minute, die Du ihm und Dir verbitterst, Dir selbst von Deinem schönsten Glück entziehst. Und wenn er kommt und Dich um Etwas bittet, schlag’s ihm nicht ab, so Du’s erfüllen kannst; denn die Liebe zeigt sich mehr in dem, was man bittet, als was man gewährt. Geht’s nicht, kannst Du den Wunsch ihm nicht erfüllen, dann, dann versüß ihm die abschlägige Antwort wenigstens durch große Freundlichkeit, durch ein herzinnig Wort, durch doppelte Liebe und Güte. Er muß sehen, daß die Nichtgewährung Dir mehr Schmerz verursacht, als die Erfüllung ihm je Freude bereiten könnte. Kind! Kind! wir können unendliches Glück auf Erden spenden – und Leid bereiten, das, wie der Name in der Baumrinde, nie verwächst! Laß still die Liebe walten.“ Bei diesen Worten rollten die Thränen ihr aus den Augen, und sie vermochte sie nicht zu halten, wenn sie auch zu lächeln versuchte.

Das junge Mädchen schlang ihre Arme um den Hals der Weinenden, dann rief es: „O, ich weiß es, Du hast viel, unendlich viel gelitten; aber vergiß, vergiß ihn – er war Deiner Liebe nicht werth!“

„Nicht werth?“ rief die Weinende und wischte in Hast die Thränen aus den Augen, sodaß diese wieder in voller Klarheit zu leuchten begannen. „Nicht werth?“ sagte sie, wie voll Unwillen; „und wären wir die Besten der Menschen, wir – wir sind niemals des Glückes werth, das ein Augenblick herzinniger, reiner Liebe bringt. Nein, nein! sprich mir so nicht. Die Liebe ist des Lebens Paradies – und wer daraus vertrieben wird, der hat es stets auch mit verschuldet. Schilt mir die Liebe nicht, sprich nicht gering von Ihm!“

Beide schwiegen. Endlich sagte das junge Mädchen: „Tante, liebe, beste Tante! nur eine Frage: Lebt er noch? Hast Du nie, nie von Ihm erfahren?“

Die Gefragte nickte mit dem Kopf, sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn und sagte leise: „Ich weiß Alles. Man will es nicht und erfährt es doch; es ist als trüg’s der Wind uns zu. Er ist gegenwärtig ein hochgestellter Beamter, sein Name wird oft genannt – aber glücklich, nein, glücklich ist er nicht. Hätte mein Schmerz, mein Gebet Erhörung gefunden, er müßte es geworden sein.“ Doch wie über sich selber zürnend ob des Gesagten rief sie schnell: „Laß uns abbrechen; es taugt nicht, alte Geschichten aufrühren; geh, sing’ mir das Lied zu Ende – und dann – dann will ich heimgehen – und arbeiten.“

Und das junge Mädchen schritt lautlos wieder zu dem Instrument, setzte sich nieder und sang, während die Thränen ihm in die Augen traten:

Ohn’ Maß und Ziel und Zeiten
Blüht’s um Dich allerwärts;
Und Engel Dich begleiten,
Glaubt an die Ewigkeiten
Der Liebe nur Dein Herz.

Drum, steht Dir Lieb’ zur Seite,
Pfleg’ sie durch Wort und Blick;
Denk’, was das Herz erfreute,
War Liebe, sonst wie heute;
Die Liebe nur bringt Glück.

Die Sängerin schwieg. Sie aber, die zugehört hatte, stand auf und sagte: „Dank’! Nun muß ich gehen! Ade! Grüß’ Dein Mütterlein – und meine Thür find’st stets offen.“




Der Geheimrath hatte sich keinen Gang verdrießen lassen; er war, wie man zu sagen pflegt, von Pontius zu Pilatus gelaufen, bis er endlich seinen Zweck erreicht sah – und der einsam Harrenden die Erfüllung ihres Wunsches zusichern konnte. Jahre, viele Jahre vielleicht mußten muthmaßlich noch vergehen, ehe die Aufnahme erfolgen konnte, da der Tod noch manche Bewohnerin des Stiftes abzurufen hatte, ehe für sie ein Plätzchen offen wurde; aber die Hoffnung dazu war doch da. Und sobald die Einkaufssumme nur erst entrichtet war, was schon jetzt geschehen sollte, konnte sie sich als eine Genossin des Magdalenenstiftes betrachten. Er kam, er brachte die Nachricht – und sie, sie dankte es ihm aus vollem Herzen.

[486] „So wäre also mein Alter gesichert,“ sagte sie; „ich weiß, wohin ich mein Haupt zur Ruhe legen kann.“

„Und das Geld?“ fragte er und wollte noch Mehreres hinzusetzen. Doch sie fiel ihm sofort in die Rede, indem sie sagte und eine flüchtige Röthe ihre Wangen überhauchte: „Ja! das Geld! Es ist nicht ganz beisammen; ich dachte, offen gesagt, nicht, daß Ihnen diese Erreichung meines Wunsches sobald gelingen würde, zumal ich weiß, wie Viele sich ganz vergeblich bemühen; aber sehen Sie, ich habe die Jahre her gespart, was möglich; ich denke, es wird so sehr viel an der erforderlichen Summe nicht fehlen.“ Mit diesen Worten ging sie zur Commode, zog den Kasten heraus und holte einen ziemlich schweren Beutel mit Geld hervor. „Sehen Sie, das ist mein Schatz; wollen Sie ihn an sich nehmen und das Fehlende mir vorschießen? Ich denke so lange zu leben, daß Sie nichts verlieren sollen,“ setzte sie lächelnd hinzu, während der Rath mit Erstaunen das Geld nahm, es ausschüttete und zu zählen begann. Und er zählte und zählte; und je mehr er zählte, desto größer wurde seine Verwunderung. Endlich hielt er inne und sein Gesicht auf die lächelnd ihn Betrachtende richtend, sagte er:

„Mein Gott! das sind ja bedeutend mehr als zweihundert Thaler! Und dies Alles haben Sie erspart, erspart von dem Verdienst Ihrer Hände Arbeit? Wie ist dies möglich? Wie haben Sie dies angefangen?“

„Einfach,“ sagte sie und lächelte dabei zum ersten Mal glückselig zufrieden. „Ich hab’ nur ordentlich Buch, d. h. im Kopf, geführt, denn zum Schreiben war nicht Zeit. Einnahme und Ausgabe habe ich streng berechnet. Was mich sättigte, wußte ich; was ich zur Kleidung bedurfte, war leicht zu berechnen – und da fand sich bald, wie viel ich von jedem Thaler, den ich einnahm, zurückzulegen hatte – wenn ich anders etwas vor mich bringen wollte. Anfangs, in jüngeren Jahren, wurde es mir freilich schwerer, hätte manchmal Dies oder Jenes gern gekauft, auch wohl dies oder jenes kleine unschuldige Vergnügen mir gestattet – aber hat man nur der ersten Versuchung widerstanden, die übrigen machen sich leichter.“

Der Geheimrath lächelte, und von leichter Freude gestachelt, sagte er scherzend: „Bei Gott! Sie sollten Finanzminister werden; ich glaube, Sie brächten den Staat auf einen grünen Zweig.“ Doch sogleich wieder ernst werdend überzählte er noch einmal das Geld und sagte, sich zum Abgehen anschickend: „Ich besorge Alles sogleich zur Casse und lege das Fehlende zu. In einer Stunde sende ich Ihnen die betreffenden Quittungen und Documente. Wie leicht hätte Ihnen dies Geld gestohlen werden können!“

„Bei mir hätte es Niemand gesucht,“ sagte sie freundlich und geleitete ihn zur Thür hinaus. Er ging. Sie blieb. Einsam blieb sie, wie vordem, Tag ein, Tag aus arbeitend, jede Stunde nützend, keine Minute unbeachtet lassend.

Der Geheimrath sah ihr Licht bis spät in die Nacht hinein leuchten, und wieder vor Tagesanbruch fand er sie schon emsig nähen am Fenster. Die Freundinnen kamen nach wie vor, und wenn sie nicht selber kam, schickten sie die Kinder; auch die Sängerin, der Alternden blühender Liebling, fehlte nicht. Sie kamen Alle, und Niemand schien es zu bemerken, daß die von Allen Tante Gerufene älter und älter wurde; daß sie seltener denn früher ausging, immer spärlicher kam, ihre Lieblinge zu besuchen. – Sie hatte nicht Zeit, Besuche zu machen; die Arbeit schaffte nicht mehr wie ehedem; sie mußte schon oftmals die Nadel ruhen lassen oder das Auge für Augenblicke schonen. Was konnte es schaden? Niemand wußte es ja, daß sie des Nachts ein Stündchen zu den übrigen Arbeitsstunden zusetzte; sie mußte sich sputen, damit auch den letzten Rest des Vorschusses dem Rathe abzuzahlen ihr möglich werde – und das Alter bedarf ja auch des Schlafes weniger, als die Jugend; der Tod ist nahe – und dann hat man Zeit genug, im Grabe zu schlafen.

Es war im Winter wieder; eine Kleinigkeit war nur noch zu tilgen – dann – dann war die ganze Summe gedeckt. Alles Uebrige hatte sie bereits in den Jahren nach und nach abbezahlt; nur die letzten wenigen Thaler fehlten noch. Endlich war die Arbeit, an welcher sie so emsig genäht, beendet. Wohl ist es bereits Abend geworden. Es schneit und stürmt auf den Straßen. Was thut’s? Sie ist ja oft in solchem Wetter ausgegangen. Wird die Arbeit berichtigt, kann sie ihre Reslschuld noch heute dem Geheimrath abzahlen. Der Gedanke macht sie jubeln. Sie steht ohne Schulden, ohne Sorgen da – dann kann der Tod kommen, ihre Bücher sind in Ordnung. Soll und Haben stimmt genau. Sie geht. Sie achtet des Wetters nicht; sie achtet es nicht, daß sie sich den Tag über schon unwohl gefühlt. Hut und Mantel wird schützen. Die Arbeit im Arm schreitet sie muthig dahin. Es ist ein garstig Wetter. Sie liefert die Arbeit ab, sie empfängt das Geld; sie trägt es mit hochklopfender, keuchender Brust dem Geheimrath hin und schleicht sich müde fröstelnd nach Hause. Andern Tages war sie krank.

Der Geheimrath sah ihr Stübchen Abends dunkel bleiben; er fand sie früh des Morgens nicht am Fenster sitzen. Das beunruhigte ihn mehr, als er es sich selbst gestehen mochte. Er konnte nicht zögern, er mußte zu ihr gehen, zumal er Freudiges ihr zu verkündigen gedachte. Er kam und fand sie krank, recht krank auf dem Lager. Mild verweisend sagte er ernst: „Und Sie schickten nicht einmal zu mir? Wenn ich nun nicht gekommen wäre? Sie müssen machen und gesund werden – der Tod hat im Magdalenenstift Rast gehalten. Ihr Stübchen ist binnen kurzem leer.“

Die Kranke lächelte schmerzlich. „Ich werde dies Asyl nicht mehr bedürfen,“ sagte sie matt. „Gott hat mein Gebet erhört; ich scheide von hier – zur ewigen Ruhe.“

Und als der Geheimrath dies nicht Wort haben wollte, als er von baldiger Genesung, von besseren Tagen sprach, schüttelte sie das Haupt und sagte: „Wollen Sie mir die Ruhe nicht gönnen? Mein Tagewerk ist gethan; ich mache drüben im Stift einer Anderen Platz, die der Ruhe dort vielleicht mehr benöthigt ist, als ich es wäre, und die sich der Wohlthat mehr erfreuen wird, als ich es wohl jemals gethan hätte. Leben Sie wohl – und nehmen Sie vor meinem Scheiden meinen herzinnigen Dank.“

Der Geheimrath vermochte nichts mehr zu sagen; er ging – und sendete den Arzt. Es war zu spät! Alle Pflege, alle Liebe, alle Sorgfalt, die der Kranken von allen Seiten zu Theil wurde, vermochten nicht, den Tod zu bannen. Sie blieb wochenlang krank. Die Lerchen sangen, die Schwalben kamen wieder, ohne Genesung zu bringen. Anfangs April war sie gestorben. Als der Arzt kam und dem Geheimrath den Tod verkündete, sagte dieser: „Sie war beim Himmel ein ehrenwerther Charakter; der Hinblick auf dies weibliche Wesen hat mir oftmals Muth gegeben – wo ich schon verzagen wollte.“ Und mit der Hand auf den Actentisch zeigend, sagte er, nicht ohne einen Anflug von Bitterkeit und Geringschätzung: „Sehen Sie dort diesen Stoß Papiere – es sind alles Bittgesuche! O, wie beschämt die Todte alle Diese! Sie hat nie ein Bittgesuch um Unterstützung eingereicht, sie hat gearbeitet, so lange sie zu arbeiten vermochte; sie hat gedarbt und sich gekümmert – aber sich nie auf Anderer Hülfe verlassen, oder den Staat mit Bittgesuchen belästiget. Und jene Bittenden dort – es sind Männer, Männer, die von Noth und Sorge sprechen, während die Frauen sich in Sammet und Seide kleiden. Sie bücken sich bis zur Erde, wenn sie eine Remuneration errungen haben – und feinden sich doch auch wieder gegenseitig bis auf den Tod an, wenn Der oder Jener wenige Thaler mehr erhalten hat, als die Andern nach ihren neidischen Ansichten meinen, daß ihm zukomme. O, wie viel ehrenwerther steht jenes Mädchen da! Und wir Männer wagen die Frauen das schwächere Geschlecht zu nennen! Der Todten gebührte, wie selten einer Andern, die Krone, das Glück des Lebens; ihr gebührt, wie Niemandem sonst, der reichste Blumenschmuck auf dem Sargesdeckel.“

Und was er sprach, was er dachte, er suchte es zur That, zur Wahrheit zu machen. Er ging zu seinen Freunden, die alle durch ihn längst von der Gestorbenen wußten, die ihren Werth bereits erkannt hatten, da sie noch lebte. Sie kamen alle. Alle kamen sie aus innerster Ueberzeugung, mit einem Herzen voll Hochachtung, voll Liebe und Trauer. Sie kamen, wie der reiche Fabrikant kam, für den die Verstorbene im Leben so thätig gearbeitet hatte, und der es fühlte, daß er seine treueste, zuverlässigste, beste Nähterin verloren habe; wie die Freundinnen kamen, wie deren Kinder gekommen waren, mit Blumen in den Händen, mit Thränen in den Augen. Sie stehen Alle am Sarge. Und während der Geistliche sprach, während er der Verdienste der Geschiedenen gedachte, ging den Einzelnen der Trauernden das Leben der Todten im Schmucke der Erinnerung, im Geiste des Friedens, der Milde und der Liebe vorüber.




Die Rede ist beendet, der Sarg wird aufgehoben, der Leichenwagen nimmt ihn auf. Noch eine kurze Zeit, und man senkt ihn [487] in die Gruft. Die Erde fällt auf den Sarg. Der Hügel erhebt sich; der letzte Act eines Menschenlebens ist vorüber. Gerade, als der Trauerzug sich in Bewegung setzte, fuhr eine elegante Kutsche am Hause vorüber; ein einzelner Herr saß in derselben. Er sah den Zug, er wußte wer gestorben war – er wendete sich ab, er mochte nichts sehen, nichts hören, nichts wissen. Er war auf’s Neue befördert worden, er fuhr zum Minister – um seinen pflichtschuldigen Dank abzustatten.

Vorüber! nur vorüber!
’s ist Alles ja ein Hauch;
Und Du, Du einsame Thräne
Verschwinde, vergehe nur auch.

Was drängst Du heißer Gedanke
Dich wieder in’s Herz hinein:
Warum? warum geschah es?
Könnt’ es nicht anders sein?