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Titel: Ein deutscher Jude
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[533]
Ein deutscher Jude.
(Mit Portrait.)

Während die von Vielen längst todtgeglaubte deutsche Reichsverfassung vom 28. März 1849 mit einem Male in den Herzen des Volkes wieder auflebt und von einer zahlreichen, über ganz Deutschland verbreiteren Partei zu dem Panier erhoben worden ist, unter welchen sie den Kampf, der damals nicht ausgekämpft werden konnte, neuerdings aufzunehmen und früher oder später zu einem [534] siegreichen Austrage zu bringen gedenkt, während dessen geht von den Kämpfern jener früheren Zeit, von den ersten Urhebern und Vertheidigern der Reichsverfassung von 1849, Einer nach dem Andern dorthin, von wannen Niemand wiederkehrt, einem jüngeren Geschlecht die Erbschaft ihrer Anstrengungen, ihrer Hoffnungen und Enttäuschungen hinterlassend, sammt der Pflicht dankbarer Erinnerung an das, was Jene gethan, gelitten, erstrebt – wenn auch leider nicht erreicht haben.

Vor Kurzem ist wieder jener Aelteren einer, und wahrlich keiner der mindest Bedeutenden, geschieden. Es giebt Namen von stärkerem, weiterhin tönendem Klange, aber sicherlich keinen von reinerem, als den Namen Gabriel Riesser. Sei es denn Einem, der dem Verstorbenen längere Zeit und in einer der wichtigsten Epochen seines Lebens als Kampf- und Gesinnungsgenosse so nahe gestanden, wie Wenige, vergönnt, zu Riesser’s Ehrengedächtniß hier ein kurzes Lebens- und Charakterbild desselben zu entrollen! G. Riesser war geb. zu Hamburg am 1. April 1806. Aus jüdischer Familie stammend und viel zu ehrenhaft, um seinen Glauben eines äußeren Vortheils wegen zu wechseln (wie sehr auch seine aufgeklärte Gesinnung ihn über eine beschränkte Auffassung jenes Glaubens erhob) sah er sich alle Wege zu einer öffentlichen Wirksamkeit, wie sie seiner hohen geistigen Bildung entsprochen haben würde, versperrt. Um so eifriger warf er sich zum Verfechter eben der Sache auf, welche er nicht blos als seine eigene, auch nicht einmal blos als die seiner Glaubensgenossen, vielmehr als eine allgemeine Sache der Humanität, der Gerechtigkeit, des Fortschritts betrachtete, der Sache der Emancipation. Durch zahlreiche Schriften in dieser Richtung, in denen eben so sehr die edle Hoheit seines Charakters, wie die Schärfe seines Verstandes und die Macht seiner Beredsamkeit glänzend zu Tage trat, erwarb er sich einen wohlbegründeten Ruf als Schriftsteller, und unter seinen Glaubensgenossen weitverbreitete verehrungsvolle Sympathien.

Auf diese schriftstellerische Wirksamkeit für die Sache der Emancipation und daneben für andere, mehr oder minder damit im Zusammenhang stehende Fragen des Rechts und der Politik blieb die Thätigkeit Riesser’s im Wesentlichen bis zum Jahre 1848 beschränkt. Die denkwürdige Bewegung dieses Jahres rief ihn endlich auf einen größeren Schauplatz, wie er seinen Fähigkeiten und seinem von früh auf regen patriotischen Thatendrange entsprach. Riesser erschien beim Vorparlament zu Frankfurt und fand dort alsbald Gelegenheit, ebenso wohl für die bisher von ihm so beharrlich verfochtene Sache seiner Glaubensgenossen, wie für ein großes und wichtiges allgemeines Princip in Betreff der politischen Neugestaltung Deutschlands beredt und siegreich aufzutreten. Als die Versammlung darüber verhandelte, ob und wie weit die Wahlordnung für das zu berufende deutsche Parlament sofort festzustellen, oder was davon etwa den Einzelgesetzgebungen zu überlassen sei, ergriff Riesser das Wort und sprach die wenigen, aber gewichtigen Sätze, welche, indem sie den Kern der Sache trafen, für den Redner, der so scharf, klar und von dem höchsten Standpunkte aus diese Fragen angriff, sogleich allgemein die günstigste Meinung erweckten.

„Wir wollen,“ sagte Riesser, „der Localität überlassen, was der Form angehört, aber für Deutschland reserviren, was dem Geist angehört. Ich glaube, daß die Frage des directen oder indirecten Wahlmodus der Form angehört, und daß es dem Geiste keinen Abbruch thut, wenn die Staaten, denen es die Verhältnisse nicht möglich machen, daß direct gewählt wird, den indirecten Modus beibehalten; aber daß kein Census, keine Bedingung des Vermögens, des Standes, des Religionsbekenntnisses obwalte, ist Sache des Princips, des Geistes, und diese Frage dürfen wir der Localität nicht überlassen. Meine Herren, die Einheit Deutschlands soll nicht eine bloße Form sein, diese Einheit soll eindringen in die Gesinnung. Lassen Sie die aufgegangene Sonne Deutschlands leuchten durch alle Winkel und düsteren Schluchten, lassen Sie allenthalben jeden Unterdrückten, in seinem Rechte Zurückgesetzten fühlen, daß er in der Vertretung einer Nation von vierzig Millionen eine Stütze habe! Nach diesem Grundsatze mache ich den Vorschlag, daß die genaue Festsetzung des Wahlmodus den einzelnen Staaten überlassen bleibe, daß aber der Wahlmodus auf dem Grundsatze beruhen müsse, daß jeder volljährige Deutsche ohne eine Bedingung des Standes, Vermögens und Glaubensbekenntnisses Wähler und wählbar sei.“

Die Versammlung erhob diesen Vorschlag zum Beschlusse. Trotz dieses so glänzenden parlamentarischen Debüts Riesser’s beim Vorparlamente schien es gleichwohl, als sollte dem Parlamente eine so bedeutende Kraft entzogen bleiben. Obschon Riesser, im Bewußtsein seines uneigennützigen, nur auf das Gemeininteresse Deutschlands gerichteten Strebens, zugleich im Bewußtsein seiner Pflicht als berufener Anwalt seiner Glaubensgenossen, die von der zu schaffenden nahen Ordnung der Dinge auch für sich Gerechtigkeit hofften, sich nicht scheute, als Wahlcandidat für das Parlament öffentlich aufzutreten, hatten doch seine und seiner Freunde Bemühungen eine Zeit lang wenig Aussicht auf Erfolg. In Hamburg selbst durfte er, bei der socialen Stellung, die er dort einnahm, auf eine Wahl ins Parlament zur Zeit noch nicht rechnen. Auch gehörte Riesser nicht zu denen, die vor einer lebhafter erregten Wählerversammlung (wie es damals die meisten waren) mit tönenden Schlagwörtern und großen Versprechungen rasche Erfolge zu erzielen im Stande waren. Gewissenhaft bis zum Peinlichen, hätte er es nie über sich vermocht, Hoffnungen zu erwecken, die er nach seinen eigenen Kräften und nach den gegebenen Verhältnissen, wie er sie erkannte, nicht mit Sicherheit zu erfüllen sich getraute, oder Behauptungen zu verfechten, die er nicht mit vollster, genauest erwogener Ueberzeugung vertreten konnte. Ebenso war er persönlich zu bescheiden, um nicht da, wo er mit einem ihm politisch halbwegs Gleichgesinnten hätte concurriren müssen, lieber freiwillig zurückzutreten, als es auf den Rücktritt des Andern oder auf die Entscheidung der Wähler ankommen zu lassen. Doch erhielt er endlich ein Mandat von den Wählern des Herzogthums Lauenburg.

Im Parlament schloß Riesser sich dem linken Centrum, dem sogenannten Würtemberger Hof, an. Er gehörte zu dem Theile dieser Fraktion, der nach dem Septemberaufstand sich als besonderer Club im Augsburger Hofe constituirte. Sowohl in diesen engeren Kreisen, als in der Versammlung selbst nahm Riesser bald eine geachtete und hervorragende Stellung ein. Die Lauterkeit seiner Gesinnungen, die Wärme seines patriotischen und seines Rechtsgefühls, die aus seinem ganzen Wesen hervorleuchtete, gewannen ihm schnell allgemeines Vertrauen, während die Schärfe und Klarheit seines Denkens selbst denen imponirte, welche an praktisch politischer und parlamentarischer Erfahrung ihm überlegen waren. Er ward in den wichtigsten Ausschuß des Parlaments, den Verfassungsausschuß, gewählt und von diesem unter Anderm mit der ebenso schwierigen, als bedeutsamen Berichterstattung über den Abschnitt der Verfassung „vom Reichsoberhaupte“ betraut. Er war eine Zeit lang Mitglied des Bureau’s als zweiter Vizepräsident. Seine Stimme wurde stets mit besonderer Aufmerksamkeit gehört und hatte ein nachdrückliches Gewicht in jenen kleinen Versammlungen von Mitgliedern der verschiedenen Fraktionen der Mehrheit, welche bei besondern Veranlassungen, z. B. bei der österreichischen und der Oberhauptsfrage, theils nur unter sich, theils auch im Verein mit den gesinnungsverwandten Männern des Reichsministeriums, die Lage der Verhältnisse und die jeweilig einzuschlagenden Wege beriethen. Endlich war er auch Mitglied der großen Deputation des Parlamentes, welche dem König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen die auf ihn gefallene Wahl zum deutschen Kaiser anzeigen und ihn zur Annahme der Krone auf Grund der Reichsverfassung vom 28. März 1849 einladen sollte. Als nach der abschlägigen Antwort des Königs die Deputation beschloß, demselben das Unheilvolle dieses Schrittes und die Unmöglichkeit einer Abänderung der einmal beschlossenen Reichsverfassung nochmals vorzustellen, war es Riesser, der nebst zwei andern Mitgliedern mit der Abfassung einer solchen Erklärung beauftragt ward.

Als Redner ist Riesser im Parlament nur selten, aber dann immer mit bedeutendem Erfolge aufgetreten. Nachdem er zuerst in einer rein formellen Frage, wobei er Gelegenheit hatte, seinen logischen Scharfsinn zu zeigen, die Aufmerksamkeit der Versammlung auf sich gelenkt, überraschte er dieselbe mit einer glänzenden Improvisation, worin er einen fanatischen Angriff des sonst freisinnigen, aber in diesem Punkte äußerst voreingenommenen Würtembergers Moritz Mohl auf die Ideen mit einer ebenso sachlich eingehenden, als von den höchsten Ideen durchwehten Beweisführung siegreich, unter dem lauten Beifall einer ungeheuren Mehrheit des Hauses, widerlegte.

Diese Rede kennzeichnet so ganz nicht blos den Standpunkt Riesser’s in der Judenfrage, sondern sein Wesen überhaupt und die Art seiner Beredsamkeit, daß wenigstens die Hauptsätze derselben hier eine Stelle finden mögen.

[535] „Ich nehme das Recht in Anspruch,“ sagte er, „vor Ihnen aufzutreten im Namen einer seit Jahrtausenden unterdrückten Classe, der ich angehöre durch die Geburt, und der ich – denn die persönliche religiöse Ueberzeugung gehört nicht hierher – ferner angehöre durch das Princip der Ehre, das es mich hat verschmähen lassen, durch einen Religionswechsel schnöde versagte Rechte zu erwerben. (Bravo!) Im Namen dieser unterdrückten Volksclasse gegen gehässige Schmähungen vor Ihnen das Wort zu ergreifen, dieses nehme ich in Anspruch. (Stimmen: Sehr gut!) Sie haben durch einen förmlichen Beschluß den nichtdeutschredenden Volksstämmen, die in Deutschland leben, Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichheit der Rechte, Gleichheit alles dessen, was dem Deutschen Deutschland theuer macht, zugesichert. Sollen wir Juden es für unser Unglück erachten, daß wir deutsch reden? Sollen wir darum schlechter behandelt, soll uns die Freiheit vorenthalten werden dürfen, weil wir nicht in die Kategorie nichtdeutschredender Volksstämme gehören? Soll die Geschichte von Ihnen sagen, daß Sie mächtige Volksstämme, die zerstörend in die Geschicke Deutschlands eingreifen könnten, die gewaffnet und gerüstet vor Ihnen stehen, durch Verleihung gleicher Rechte haben versöhnen wollen, daß Sie für die drohende Gewalt nur milde Worte hatten, einer schwachen Religionspartei dagegen, die in bürgerlicher Hinsicht nichts will, als in Deutschland aufgehen – denn nur nach Denjenigen, die klar denken und lebendig fühlen und ein deutliches Bewußtsein ihrer Lage haben, können Sie diese, wie jede Masse beurtheilen – einer Classe, die keine Nationalität haben will, die ihnen von ihren Feinden aufgebürdet wird, die deutsch denkt und fühlt, mit Mißhandlungen entgegengetreten, und zu ihrem Nachtheil Ausnahmsgesetze bestehen lassen, während Sie andererseits alle Ausnahmsgesetze vernichten?“

Ganz anderer Natur und doch ebenso seinem innersten Wesen, seinem tiefen und unbestechlichen Gefühl für Recht und Wahrheit entquollen, darum auch eben so eindrucksvoll in ihrer Art, war die Rede, welche Riesser nach den traurigen Ereignisen vom 18. September, dem Angriff einer wüsten Rotte auf die Paulskirche, dem blutigen Morde Auerswald’s und Lichnowsky’s hielt – bei Gelegenheit eines vom Reichsministerium in das Parlament gebrachten Gesetzentwurfs zum Schutz der Versammlung.

„Deutschland,“ rief er der Versammlung zu, „wird durch eine blutige Herrschaft unter dem Vorwande der Freiheit niemals, auch nur einen Augenblick, regiert werden können; es bedarf für jetzt und für immer einer mäßigen, einer gerechten, einer sittlichen Regierung. Die Städte von München bis Königsberg, von Triest bis Hamburg werden den Abgeordneten der Blutherrschaft ihre Thore nicht öffnen, wie es einst Lyon und Nantes gethan. (Sehr gut! Lebhafter Beifall auf der Rechten und im Centrum.) Die Anarchie würde die Einheit Deutschlands unmöglich machen, und die Reaction, die nach Wiederholung solcher Schrecknisse – ich erinnere Sie an das warnende Beispiel des jetzigen republikanischen Frankreichs – die Reaction, die dann unvermeidlich wäre, würde die Freiheit und Einheit Deutschlands auf lange, lange Zeit vernichten.“

Riesser selbst, wie der bei weitem größte Theil des Würtemberger Hofs hatte in der Frage des Malmoer Waffenstillstandes mit Dänemark – der bekanntlich den Anlaß und Vorwand zu dem Frankfurter Aufstande gegeben – gegen die Majorität, für Verwerfung des Waffenstillstandes und Fortsetzung des Krieges gestimmt. Aber er protestirte feierlich gegen jede Solidarität seiner Partei mit der Partei des Aufruhrs.

„Wir, meine Herren,“ sagte er, „die wir in der Waffenstillstandsfrage gegen die Majorität des Hauses gestimmt haben, und die wir diese Abstimmung nicht bereuen und sie wiederholen würden, wenn die Frage sich erneuern könnte – wir müssen das Bündniß mit jener, großentheils erkünstelten Aufregung zurückweisen, welche eine schlechte Absicht an dieses Waffenstillstandsvotum geknüpft hat. Wir können in dem unredlichen Vorwand keineswegs den wahren Grund der vorgefallenen Gräuel erkennen.“

Eine dritte größere Rede Riesser’s – sowohl dem Umfange nach, als nach der Wichtigkeit des Gegenstandes wohl die bedeutendste unter allen – war sein Schlußwort als Referent über die Frage des Reichsoberhauptes. Sie ward, obschon sie fast zwei Stunden dauerte, mit gespannter Aufmerksamkeit angehört und von der Mehrheit des Hauses mit einem wahren Beifallssturm belohnt. Einzelnes daraus hier wiederzugeben, müssen wir uns versagen.

Nur über Riesser’s Verhalten in den letzten Wochen des Parlaments, nach erfolgter definitiver Ablehnung der Kaiserkrone von Berlin aus, sei noch Einiges bemerkt, weil gerade darin sich wieder sein ganzes Wesen ausprägt.

Ein wie großer Feind jedes ungesetzlichen, zerstörerischen Treibens Riesser war, haben wir aus seiner Rede über die Septemberereignisse ersehen. Aber nicht minder empörte sein sittliches und sein Rechtsgefühl der Gedanke, daß durch den bloßen einseitigen Widerstand einiger Regierungen oder Dynastien – gegenüber den dringlichen Wünschen der großen Mehrheit des deutschen Volkes und angesichts der drohenden allgemeinen Weltlage – das Werk der einheitlichen und freiheitlichen Neugestaltung Deutschlands vereitelt werden sollte. Die Ueberzeugung von der politischen Nothwendigkeit einer solchen Neugestaltung, von dem Rechte der Nation darauf, und von der sittlichen Verwerflichkeit einer Verkümmerung dieses Rechts war bei ihm so stark und lebendig, daß er zur Erreichung jenes höchsten Zieles selbst äußerste Maßregeln nicht schlechthin zurückweisen zu dürfen glaubte, und er that in dieser Richtung mehrfache Schritte, um Heinrich v. Gagern und die diesem anhängende große Partei des Parlaments zu gewinnen. Nur dann, als alle jene Bemühungen scheiterten, als die große conservativ-liberale Mehrheit des Parlaments, statt sich zu einem bestimmten Entschlusse des Handelns aufzuraffen, in Masse austrat, während auf der andern Seite die localen Aufstände in der Pfalz, in Baden und Sachsen, indem sie über die Reichsverfassung hinausgingen, die Lage vollends unrettbar verwirrten, erst da gab Riesser die Sache der Reichsverfassung und die Thätigkeit des Parlamentes verloren. Aber auch da nicht ohne die härtesten Seelenkämpfe und das tiefinnerste Widerstreben seines ganzen Selbst gegen einen solchen Gedanken. So tief ergriff der Schmerz darüber und der innere Widerstreit der Gefühle das Gemüth Riesser’s, daß sogar seine physische Natur in diesem Kampfe fast erlag, und er, von täglichen Krankheitsfällen erfaßt und zur Betreibung parlamentarischer Geschäfte unfähig gemacht, zuletzt sich genöthigt sah, die Versammlung zu verlassen und in einer Reise an den Rhein erst wieder neue Kräfte zu sammeln.

Auch jetzt noch wollte er den Faden nicht gänzlich abreißen, der seine letzten, wie auch immer schwachen Hoffnungen an das ihm so theure Verfassungswerk knüpfte: er behielt sein Mandat bei und somit sich die Rückkehr in das Parlament vor, indem er nur einem seiner vertrautesten Freunde und Parteigenossen die Vollmacht hinterließ, für den Fall, daß dieser sich veranlaßt fände auszutreten, auch seinen Austritt mit zu erklären.

Mit wieder gestärkter Kraft, wenn auch mit schwacher Hoffnung, fand sich Riesser auf dem Unionsparlamente zu Erfurt ein, diesmal von seiner Vaterstadt Hamburg entsendet. Er betrachtete es als eine schwere, aber nicht abzulehnende Pflichterfüllung gegen das Vaterland, auch zu diesem letzten Versuche der Herstellung einer nationalen Einheit die Hand zu bieten, wie sehr er auch von vornherein nicht blos die Möglichkeit des Gelingens, sondern selbst die Aufrichtigkeit des Wollens auf Seiten der Urheber dieses Experimentes bezweifelte.

Damit war Riesser’s parlamentarische Thätigkeit auf größerem Schauplatze zu Ende. Nicht so sein Interesse für die allgemeinen Angelegenheiten des Vaterlandes. Wo immer er mit Rath oder That denselben förderlich sein konnte, da fehlte er nie. So hat er namentlich der schleswig-holsteinschen Sache und der von ihrem Rückschlage Betroffenen sich jederzeit auf das Wärmste und Thatkräftigste angenommen.

Im Uebrigen lebte er jetzt wieder zurückgezogen dem engern Kreise der Pflichten seines Berufs und der Zwecke seiner persönlichen Ausbildung, an welcher fort und fort zu arbeiten, er niemals müde ward. Wie er schon vor 1848 in fast alljährlichen Reisen von mehr oder minder großer Ausdehnung nicht blos Deutschland nach allen Seiten, sondern auch die meisten andern europäischen Länder, insbesondere England, Frankreich, Italien, genau kennen gelernt, mit den Anschauungen ihrer politischen und socialen Zustände sich bereichert, mit vielen ihrer bedeutendsten Persönlichkeiten fruchtbare Bekanntschaften angeknüpft hatte, so unternahm er im Jahre 1857 zu dem gleichem Zwecke eine Reise nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika, wo er längere Zeit verweilte und auch von der deutschen Emigration in Newyork in ihren bedeutendsten Vertretern (selbst solche nicht ausgeschlossen, denen er daheim auf der politischen Arena feindlich gegenübergestanden) durch ein großes Festmahl geehrt ward. Die Resultate seiner amerikanischen [536] Studien, namentlich über die eben damals brennend werdende Sclavenfrage, legte er in mehreren, mit gewohnter Feinheit und Klarheit geschriebenen Aufsätzen in R. Haym’s „Preußischen Jahrbüchern“ (1. Bd.) nieder.

Als im Jahre 1859 die Wogen der öffentlichen Meinung in Deutschland wieder höher zu gehen anfingen, blieb auch Riesser, mit seinem so warm patriotisch schlagenden Herzen, davon nicht unberührt. Zwar die erste Anregung zu einem tätigen Wiedereingreifen in den Gang der Ereignisse im Sinne der alten Parteibestrebungen von 1848, von damaligen Genossen an ihn im April 1859 gebracht, fand ihn noch

Gabriel Riesser.

ungläubig in Bezug auf die Möglichkeit einer Erneuerung jener Bestrebungen: er sah die Anhänger der strengeren Einheitspartei zum Theil in sich selbst gespalten, unklar oder schwankend, die allgemeine Stimmung (er verweilte damals eben in Frankfurt a. M.) im ganzen Süden heftig gegen Preußen eingenommen, und glaubte daher, daß die Einheitspartei kaum in der Lage sein werde, die Initiative für eine Verbesserung der deutschen Verfassung zu ergreifen, daß sie abwarten müsse, ob eine solche Initiative von anderer Seite ergriffen, oder durch den Gang der Verhältnisse selbst angebahnt werden möchte, um sich dann, nach gewissenhaftem Ermessen, dem anzuschließen, „was sie als das annähernd Beste erkennen würde.“ Als jedoch die Entwicklung der Ereignisse und das Bedürfniß einer Einigung über die brennenden nationalen Anliegen schneller, als es anfangs geschienen, zu einer persönlichen Annäherung und Verständigung der Nationalgesinnten hindrängte, da konnte auch Riesser, seiner ganzen Natur nach, einer solchen nicht fern bleiben. Schon im Juli zeigte er sich der Betheiligung an einem gemeinsamen öffentlichen Auftreten im Sinne einer neuen Nationalpartei nicht abgeneigt. Der Eisenacher Versammlung vom 13. August, zu der man ihn eingeladen, war er verhindert beizuwohnen; doch schloß er sich den dort Vereinbarten an, wenn schon die Schwierigkeiten des Unternehmens ihm auch jetzt noch überwiegend, die vorhandenen Hoffnungen und Kräfte zu deren Ueberwindung aber zur Zeit wenig Erfolg versprechend erschienen.

Auf der Frankfurter Versammlung, wo der Nationalverein zu Stande kam, war Riesser gegenwärtig, ward auch in den Ausschuß des Vereins gewählt. Doch schied er im Jahre 1861 freiwillig aus diesem letzteren wieder aus, da andere berufsmäßige Pflichten ihn ganz in Anspruch nahmen und überdies das zunehmende Alter bei ihm in dem Bedürfniß einer größeren Sammlung und in einer wachsenden Scheu vor Unternehmungen, deren Ziel nicht klar abzusehen schien, sich geltend machte. Doch hat er, wie schon ein Brief von ihm aus dem Juli 1859 bewies, und wie auch die „Wochenschrift des Nationalvereins“ in einem warmen Nachruf auf ihn anerkennend bestätigt, der Bildung einer neuen Freiheits- und Einheitspartei durch Verschmelzung der Constitutionellen und Demokraten rückhaltslos beigestimmt, ja er schien damals zu wünschen, daß die Ersteren, gemäß ihren Traditionen von 1848, die Initiative der neuen, auf ähnliche Ziele gerichteten Bewegung ergreifen möchten.

In seinen letzten Lebensjahren ward ihm noch die Freude zu Theil, in seiner Vaterstadt die Rechte und Ehren zu erlangen, die ihm längst gebührt hätten, von denen ihn aber früher eine unduldsame Gesetzgebung ausschloß, und damit zugleich – was ihm ungleich wichtiger war – das Princip thatsächlich zur Geltung gelangt zu sehen, für welches er sein Leben lang gekämpft hatte. Nachdem er im Jahre 1858 als Advocat in Hamburg immatriculirt, bald darauf bei der Neubesetzung der Vicepräsidentenstelle im Handelsgericht mit auf die weitere Wahl gesetzt worden war, ward er im Jahre 1859 zum Mitgliede des Obergerichts gewählt, – der erste Jude, nicht blos in Hamburg, sondern in ganz Deutschland, der ein richterliches Amt bekleidete! Gleichzeitig führten die auf Grund der Verfassung vorgenommenen Wahlen ihn in die Vertretung Hamburgs, die Bürgerschaft, und das Vertrauen dieser Versammlung berief ihn auf den Vicepräsidentenstuhl.

Leider sollte diese ohnehin so verspätete Befriedigung ihm nicht lange unverkümmert bleiben; die Reibung politischer Parteien in dem engen Rahmen eines so kleinen Gemeinweseus nimmt nur zu leicht einen geschärften, und namentlich einen persönlichen Charakter an. So erging es auch hier: Riesser, in seinen Ansichten weniger wohl über das letzte Ziel und Maß der anzubahnenden Reformen, als über das schnellere oder langsamere Tempo derselben, von einer entschiedener vorandrängenden Richtnug überholt, ward auch persönlich bei Seite geschoben und bei der Erneuerung der Versammlung im vorigen Jahre nicht wieder gewählt – eine Zurücksetzung, die ihm, im Bewußtsein seines langen, redlichen, immer nur dem Edelsten gewidmeten Strebens, mir Recht tief schmerzlich sein mochte. Indeß war Riesser einer von Jenen, die das Gute und Rechte thun, weil es das Gute und Rechte ist, und weil sie gar nicht anders können, nicht aus eigensüchtigen Beweggründen, aus Eitelkeit oder Ehrgeiz, und so wird ihn eben jenes innere Bewußtsein auch über die Verkennung, die ihm hier widerfuhr, erhoben und getröstet haben. Seinen Manen ward vollste Genugthuung dafür zu Theil durch das ehrende Gedächtniß, welches ihm die Bürgerschaft Hamburgs, ohne Unterschied der Parteien, in einem so glänzenden Begräbnisse, wie lange dort nicht gesehen worden, seine Glaubensgenossen in Frankfurt aber durch eine Stiftung widmeten, die seinen Namen verewigen soll – diesen Namen, der überdies mit der Geschichte der edelsten Toleranz- und Humanitätsbestrebungen, mit der Geschichte der Emancipation in Deutschland und zugleich mit der Geschichte der deutschen Einheitsbestrebungen und des deutschen Verfassungswerkes von 1848 unauflöslich verknüpft ist.