Ein alter Reichs-Schlüssel und ein neuer Rhein-Bändiger

Textdaten
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Autor: H. v. C.
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Titel: Ein alter Reichs-Schlüssel und ein neuer Rhein-Bändiger
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aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 569–571
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ein alter Reichs-Schlüssel und ein neuer Rhein-Bändiger.


Zu den Städten am Rhein, welche der französischen Nachbarschaft eine lange Reihe schwerer Prüfungen verdanken, gehört auch das alte Breisach. Ein solches Stadtschicksal ist es werth, dem gegenwärtigen Geschlechte einmal in raschen, großen Zügen vorgeführt zu werden. Wir brauchen dazu nicht bis in die Tage zurückzugehen, wo Julius Cäsar auf dem Mons Brisiacus einen festen Sitz der Sequaner vorfand; wir können sogar hinsichtlich der mittelalterischen Geschichte der Stadt nur hinweisen auf die glänzende Zeit unter den Zähringer Herzögen, unter denen sie zum stärksten Bollwerk und zur ersten Stadt des Breisgaus erhoben wurde, und auf ihre harten Kämpfe gegen den Herzog Karl von Burgund und seinen schlimmen Statthalter Hagenbach, und beschränken uns hier auf die Geschichte der Stadt seit den letzten dritthalbhundert Jahren.


Breisach am Rhein vom Eggersberg aus.
Nach einer Photographie.


Es giebt von Breisach ein Bild aus dem Jahre 1778. Auf demselben erheben sich über dem achthalbhundert Fuß hohen Basaltrücken der Altstadt etwa acht bis neun Kirch-, Befestigungs- und andere Thürme über einer Reihe hochgiebeliger Gebäude von stattlichem Ansehen; als die imposantesten Bauwerke erscheinen am Südende der Bergstadt das zweithürmige St. Stephansmünster und in der Mitte der Nordhälfte derselben der riesige, wenn auch arg zertrümmert der Zeit trotzende Schloßthurm, beide von den Zähringer Herzogen im dreizehnten Jahrhunderte gebaut. Im Süden der Stadt erhob sich damals noch auf etwas niedrigerem Felsen das sehr feste Schloß Eggersberg, und im Norden trug der Eisenberg ein Vorwerk. Stellen wir daneben das Stadtbild der Gegenwart, so suchen wir nicht blos dieses Vorwerk und Schloß vor der Stadt, sondern auch, das Münster allein ausgenommen, alle Thürme und viele Hochgiebel des alten Breisach vergeblich; wir sehen mit einem Blicke, welch furchtbaren Zerstörungen der alte Reichsschlüssel noch in der neuern Zeit ausgesetzt war, und wenden mit um so mehr Theilnahme uns seiner Vergangenheit zu.

Der Kampf gegen Burgund war der schwere Abschied Breisachs vom Mittelalter gewesen. Land und Stadt genossen eines lange entbehrten Friedens, das Land, um aus den Verwüstungen [570] wieder einmal aufzublühen, die Stadt, um für kommende böse Zeiten um so fester gerüstet zu werden. Diese begannen auf’s Neue, aber in furchtbarer, bis dahin noch unerhörter Weise, mit dem Dreißigjährigen Krieg.

In diesem Verheerungskampfe blieb Breisach erst lange Zeit von der Kriegslohe verschont, die rings in den Ländern wüthete, indem es sich als des Reiches festestes Bollwerk am Oberrhein bewährte. Verloren sollte es Deutschland durch einen deutschen Fürsten in Frankreichs Solde gehen.

Herzog Bernhard von Weimar zog im Jahre 1636 gegen die Länder des Oberrheins mit einem zwar schwachen Heere heran, das aber stark durch tüchtige Führer war; nur ein Judas befand sich unter diesen, der Schweizer Erlach, ein leider ebenso verkäuflicher als tapferer Abenteurer. „Sein Heldenmut,“ sagt W. Menzel, „hätte wohl verdient, mit Vaterlandsliebe gepaart zu sein, anstatt mit jener niederträchtigen Allerweltsdienerei um’s Geld, welche die Schweizer Söldner in der Weltgeschichte brandmarkt.“ – Erst nachdem der Herzog die meisten festen Plätze am Oberrhein genommen, auch Freiburg besetzt und einen der berühmtesten Helden des Kriegs, den kaiserlichen Reitergeneral Johann von Weerdt, bei Rheinfelden, am 28. März 1638, geschlagen und gefangen hatte, konnte er an die Einschließung von Breisach gehen.

Sobald die Kunde nach Wien drang, daß der Weimarische Herzog das schwachverproviantirte, aber von 4000 Mann unter dem tapfern General-Feldzeugmeister von Reinach vertheidigte Breisach einschließe und mit Redouten umgebe, offenbar um bei der Schwäche seiner Armee den Sturm zu vermeiden und die Stadt auszuhungern, so rüstete der Kaiserhof Heer um Heer, um die Belagerer zu vertreiben. Das erste führten General Götz und der Herzog von Savelli heran. Letzterer war ein Wortbrüchiger, denn zugleich mit Johann von Weerdt gefangen, entwich er, gegen das gegebene Ehrenwort. Götz und Savelli kamen von Offenburg her und sollten nicht blos Breisach entsetzen, sondern über dritthalbtausend Malter Getreide dorthin bringen, denn schon jetzt begann in der engumschlossenen Stadt die Noth. Durch französische Hülfstruppen verstärkt, lieferte Herzog Bernhard den Kaiserlichen am neunten August bei Wittenweier eine siegreiche Schlacht. Vergeblich hatte man in Breisach nach Hülfe und Rettung ausgeblickt, der reiche Proviant fiel dem Gegner in die Hände, und mit den von Deutschen eroberten kaiserlichen Fahnen wurde Ludwig’s des Vierzehnten Wiege geschmückt.

Jetzt erhoben sich auch die unmenschlich mißhandelten Bauern des Schwarzwaldes gegen Bernhard und schlugen viele seiner Schweden und Franzosen todt. Dennoch mißlang auch ein zweiter Versuch, einen ungeheuren Proviantpark von Mehl und Pulver in die Stadt zu bringen. Der ihn mit sieben Regimentern schirmende General Horst wurde vom schwedischen Obersten Rosen zurückgetrieben und wieder ein großer Theil der Ladungen ihm abgenommen. Trotz alledem wuchs mit der Noth der unglücklichen Einwohner die Hartnäckigkeit der Vertheidiger. Das war im September. Schon damals kostete in Breisach eine Ratte einen Gulden, ein Ei einen Thaler und ein Hundeviertel sieben Gulden – bei dem Geldwerthe jener Zeit!

In den ersten Octobertagen führte der Herzog Karl von Lothringen eine neue Entsetzungsarmee über Belfort heran; zwei andere Corps unter Götz und Horst sollten seinen Angriff unterstützen. Bernhard lag fieberkrank darnieder, aber die neue und große Gefahr rüttelte ihn auf, er stieg zu Roß und schlug den Lothringer am dreizehnten October bei Thann auf’s Haupt. Todtkrank im Wagen kam der Sieger in sein Lager vor Breisach zurück. Auf diesen Umstand baute Götz neue Hoffnungen. Mit zehntausend Mann eilte er am zweiundzwanzigsten October zum Entsatze herbei und siegte in mehreren Treffen über Schweden Franzosen und Weimarische, bis am achtundzwanzigsten October ihn ein Hauptschlag traf und zwang, mit den Trümmern seiner Armee sich nach Freiburg zurückzuziehen.

In Breisach hatte die Hungersnot alles menschliche Maß schon überstiegen. Thierhäute wären bereits zu Leckerbissen geworden, von den Wänden kratzten die Unglücklichen den Kalk, um ihn zu essen. Dennoch blieb der Commandant Reinach standhaft; ja er soll seine Gattin erschlagen haben, als er erfuhr, daß sie ohne sein Wissen Vorräthe aus der Festung verkauft habe, und er schwur, eher sein eigenes Kind anzugehen, als den Platz zu übergeben. Aber auch der letzte Hoffnungstag brach endlich an, und das Unglück wurde Herr über so frevelhafte Schwüre.

Jetzt endlich sollten drei Entsetzungsarmeen zugleich angreifen, Götz bei Neuenburg über den Rhein gehen, um Bernhard vom Elsaß abzuschneiden, der Herzog von Lothringen über Kolmar vorrücken und bei Drusenheim sich mit Horst verbinden. Die energische Befolgung dieses Planes würde für Bernhard verderblich geworden sein, wenn er ihn nicht verraten und er selbst durch neuntausend Franzosen unter dem General Longeville verstärkt worden wäre. So schlug er erst Horst zurück und warf sich dann mit aller Macht auf den kühnen Götz. Diesem war es gelungen, bis in die Nähe der Rheinbrücke von Breisach vorzudringen, ehe der Kampflärm ausbrach. Schon standen die Kaiserlichen auf der Brücke, und in Breisach erhoben sich die stehenden Hände den Rettern entgegen, da bezwang Bernhard abermals seine Krankheit und warf sich zu Roß mitten in den Kampf. Eine zufällige Erscheinung, in jener Blüthezeit des Aberglaubens ein himmlisches Zeichen, ermutigte Bernhard’s Soldaten: ein Adler schwebte hoch ob seinem Haupte. Der furchtbarste Kampf entspann sich auf der Brücke, acht Angriffe mußten zurückgeschlagen werden, Freund und Feind verschlang in Menge die Fluth des Rheins, bis Götz mit dem Rest seiner Leute nichts übrig blieb, als die Flucht. Der Lothringer kam nicht zum Gefechte und mußte nun, allein zu schwach, auf seine Sicherheit bedacht sein. Das letzte kaiserliche Entsetzungsheer war dahin.

Wie streng auch des Kaisers Befehl, die Festung zu halten, an den Commandanten lautete – die äußerste Grenze des Möglichen war erreicht: der Hunger wirkte entmenschend, der Hungerwahnsinn trieb zum Furchtbarsten: man fraß Menschenfleisch; man soll nicht nur Kinder geschlachtet, sondern Leichen ausgegraben und verschlungen haben. Wie viel noch Einwohner übrig waren, und in welchem Zustande, läßt sich nach der Kunde bemessen, daß von den viertausend Mann Besatzung nur vierhundertzwei die Uebergabe am neunzehnten December erlebten. Bernhard gestattete ihnen für ihre tapfere Vertheidigung, nach einer labenden Mahlzeit, über die sie wie die wilden Thiere herfielen, ehrenvollen Abzug mit sechs Kanonen und neunzehn Fahnen. Als der Herzog nach seinen in die Gefangenschaft der Kaiserlichen gefallenen Leuten fragte, erfuhr er, daß sie, achtundachtzig an der Zahl, theils verhungert, theils gezwungen worden seien, einander selber aufzufressen. Aber so furchtbar war der Anblick der allgemeinen Noth, daß Bernhard seinen Zorn bezwang; er ließ den Commandanten von Reinach unbestraft und hielt sein Fürstenwort.

Breisach sollte die Haupt- und Residenzstadt des starken deutschen Staates werden, welchen Herzog Bernhard am Oberrheine zwischen Schwarzwald und Vogesen zu gründen gedachte. Den treulosen Erlach, der sein ganzes Vertrauen besaß, der aber längst von Frankreich bestochen war, machte er zum Commandanten der Festung. Als er sein Ende nahen fühlte, setzte er seine Brüder als Erben seiner Eroberungen und seiner „fahrenden Habe“ ein; aber kaum hatte er am neunzehnten Juli 1639 die Augen geschlossen, so griff Erlach nach letzterer und that hinsichtlich Breisachs seine „französische“ Pflicht. Der westphälische Friede sanctionirte den Raub Frankreichs.

Fast ein halbes Jahrhundert blieb Breisach der französische Schlüssel zum deutschen Reiche. Trotz der vielen Kriege Ludwig’s des Vierzehnten war dies doch für die entvölkerte Stadt und die verwüstete Umgegend eine Zeit der Erholung. Damals wurde das Rheinthor gebaut, das noch jetzt als ein Denkmal französischen Hohns über Deutschland dasteht, und an dem noch heute die freche Inschrift zu lesen ist:

„Limes eram Gallis, nunc pons et janua fio,
Si pergunt Galli, nullibi limes erit.“

Zu deutsch:

„Grenze war ich dem Gallier, jetzt werd’ ich Brücke und Thor ihm.
Nirgends, dringet er vor, halten noch Grenzen ihn auf.“

Dennoch nahm der Ryswicker Friede (1697) Breisach den Franzosen wieder ab. Im Zorne darüber baute an der andern Rheinseite Ludwig der Vierzehnte sich selbst ein neues Breisach. [571] Vauban stellte ihm schon nach zwei Jahren Neubreisach mit dem Fort Mortier her. Nur vier Jahre darnach benutzte der König den Spanischen Erbfolgekrieg, um sich auch Altbreisachs auf’s Neue und zwar durch einen Handstreich zu bemächtigen. Die Grafen Arco und Marsigli, die Befehlshaber des reich verproviantirten und stark besetzten Platzes, übergaben aus Feigheit und Schurkerei ihn ohne jeden Vertheidigungsversuch. Ein Kriegsgericht unter dem alten Feldmarschall Hans von Thüngen gab zwar beiden ihren Lohn: Graf Arco ward in Bregenz enthauptet und dem öffentlich geschändeten Marsigli zerbrach der Henker den Degen; aber Breisach blieb wieder französisch, bis abermals ein Friede, der Rastadter von 1714, es an das Haus Oesterreich zurückbrachte.

Auch der „Oesterreichische Erbfolgekrieg“ wurde durch den Reichshofkriegsrath der Kaiserin Maria Theresia so unglücklich geführt, daß Breisach abermals in die Gewalt der Franzosen kam. Weil aber diese geringe Aussicht hatten, die Festung für Frankreich zu erhalten, so trieben sie hier ihr Zerstörungswerk mit ebenso viel Vergnügen als Gründlichkeit, selbst den alten Schloßthurm des Herzogs Berthold verschonte diesmal die Verwüstungswuth nicht; er wurde durch Pulver zerrissen; die Trümmer benutzten die Breisacher selbst später als eine Art Steinbruch und machten sie dem Boden gleich.

Durch den Aachener Frieden (1748) wiederum den Oesterreichern zurückgegeben, lag es nun da, die Häusertrümmer der unteren Stadt zwischen den Mauertrümmern der oberen, ein Bild der vollendetsten Wehrlosigkeit. Langsam erstanden neue Wohnungen zwischen den öden Brandmauern. Frisches Grün brach zwischen den Trümmern hervor, und auch das umliegende Land, wo alles Baumwerk verpachtet war, schmückte sich wieder mit Anpflanzungen. – Da brauste die neue französische Freiheit mit der Marseillaise heran; aber selbst der Segen der großen französischen Revolution verwandelte sich, als der wilde Geist von 1793 losbrach, für das deutsche Grenzland in den Fluch neuer Verwüstungen.

Was damals, am fünfzehnten September jenes Jahres, von den Franzosen gegen Breisach verbrochen wurde, verdient eine ewige Schandsäule. Das Fort Mortier beging seine einzige Kriegsthat: von einer Reihe von Batterien unterstützt, verwandelte es die kaum aus den Trümmern entstandene, offene, wehrlose und unbesetzte Stadt, und zwar den unteren wie den oberen Theil derselben durch eine furchtbare Kanonade in einen Aschenhaufen. Drei Jahre später kamen die Franzosen wieder und besetzten den Platz, auf dem zwischen den Brandstätten, den Zeugen ihrer ruchlosen That, wieder einzelne Häuserreihen gebaut waren. Die Franzosen beeilten sich, die schon so oft zerstörten Befestigungen nothdürftig wieder herzustellen, und ebenso wurde das umliegende Land wieder bepflanzt und bebaut. Aber länger als drei Jahre duldete das Schicksal auch dieses stille Glück nicht: diesmal waren es die Oesterreicher, welche Breisach im Winter von 1799 auf 1800 einer Blokade unterwarfen und während derselben wirklich das Unglaubliche leisteten, in der weiten Umgegend alles kaum dem Boden neu Entsprossene völlig wieder zu vernichten. Das armselige Häuser- und Ruinengewirre, das damals den Namen „Breisach“ forterhielt, kann nach noch mehrfachem Besitzerwechsel endlich im Preßburger Frieden an Baden, dessen Schicksale es seitdem getheilt hat. Daß im großen deutschen Jahre 1870 von Altbreisach aus das Fort Mortier vom zweiten bis sechsten November beschossen, zerstört und zur Capitulation gezwungen worden ist, wollen wir nicht als eine Vergeltung für 1793 bezeichnen: ist doch der Rhein nicht mehr die Feindesgrenze, sondern das Band, welches gewaltsam getrennte Volksgenossen nun für immer verbindet.

Aber nicht blos die Vergangenheit, auch die Gegenwart zieht uns zu Breisach hin: es ist die Stätte der Ehre für ein Werk und einen Mann, welche Beide im übrigen Deutschland noch zu wenig bekannt und doch für jeden Reisenden am Oberrhein der Beachtung so werth sind. Blicken wir nämlich vom Rheinstrome aus zum malerischen Stadtbilde hinüber, so treten drei Denkmäler verschiedenster Zeiten, zwei alte, schon genannte, und ein neues, uns vor Augen: als ein Denkmal alter deutscher Festigkeit und Treue die Münsterkirche (der Hauptgegenstand unserer Abbildung mit dem Hintergrunde: Rhein und Vogesen), als Denkmal französischen Uebermuthes das Rheinthor, als jüngstes Denkmal aber der Tullathurm, auf dem Schloßberge von Breisach, und zwar aus dem Grunde jenes alten Herzog-Bertholds-Thurmes, „dem Bändiger des wilden Rheins“, wie die Inschrift verkündet, dem Obersten Tulla zu Ehren erhöht.

Je weiter vom Rheine ostwärts „im Reiche“, desto weniger wußte man in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts von einer Rheinlands-Calamität, die den dortigen Wohlstand mit steigender Schädigung bedrohte. Die zahllosen sogenannten Kehlen, Giesen und Altrheine, welche die Strömung des Rheines mit endlosen Krümmungen aufhielten und die Fahrtstrecke um mehr als ein Viertheil des Weges verlängerten, versumpften zugleich das anliegende Gelände, und die stehenden Wasser und Sümpfe erzeugten eine Fieberluft, deren Einwirkung auf die Uferbewohner immer weiter um sich griff.

Hier mußte geholfen werden, und der rechte Helfer fand sich in Johann Gottfried Tulla. Ein Pfarrerssohn aus Nöttingen bei Pfalzheim, hatte Tulla sich zum Geometer und Ingenieur ausgebildet, und schon 1807, als dreiunddreißigjähriger Mann, mit dem Range eines Hauptmanns und Oberingenieurs die Leitung des Rhein- und inneren Flußbaues überkommen. Aber erst nachdem er bei den Corrections- und Austrockungsarbeiten an der Linth und am Wallenstädtersee ganz Außerordentliches, von der schweizerischen Tagsatzung öffentlich Anerkanntes geleistet hatte und in Baden zum Oberdirector des Wasser- und Straßenbauwesens mit Oberstenrang erhoben war, entwarf er den großen Plan zur Rectification des ganzen Oberrheins und begann in Gemeinschaft mit den staatlich dazu bestellten Technikern von Frankreich und Baiern die Ausführung desselben. Dies Alles ging nicht so glatt ab, wie wir es jetzt hier niederschreiben, denn, abgesehen von den verschiedenartigsten Gegnern des Unternehmens im In- und Auslande, waren vor fünfzig bis sechszig Jahren auch die Staatsmittel noch sehr dürftig zugemessen, so daß Tulla erst nach vielen Kämpfen und Anfechtungen das kühne Werk in’s Leben setzen konnte. Und wenn er selbst die Vollendung desselben nicht erlebte, – denn er starb schon am 27. März 1828, sieben Tage nach seinem achtundfünfzigsten Geburtstage, an den Folgen einer chirurgischen Operation in Paris –, so ist es doch das Werk seines Geistes, welches seit 1872 in seiner Vollendung vor uns steht und folgende Berechnungen ermöglicht. Die Kosten der Rhein-Rectification für Baden allein betrugen einundzwanzig Millionen Gulden. Dagegen ist schon der Werth des durch die Rectification des Rheinufers gewonnenen guten Landes auf jedem Ufer zu fast sechsthalb Millionen und der des nun vor Ueberschwemmung und Versumpfung und dadurch für bessere Cultivirung geretteten Bodens wiederum für beide Ufer auf je fünfzehn Millionen Gulden anzuschlagen. Daß aber dadurch, daß der Rhein den Weg von Basel bis Hessen, statt wie früher in achtzig, jetzt in sechszig Stunden zurücklegt und keine Altrheine und Sümpfe mehr bildet, die Fieberkrankheiten verschwunden sind und Gesundheit und Wohlstand zugleich sich in all den Rheingemeinden befestigen, wie viele Millionen ist dies werth?

Besteigen wir den Tullathurm, dem Manne zu Ehren. Von der fünfzig Fuß hohen Warte breitet ein herrliches Rundgemälde sich vor uns aus: eine große Strecke des regulirten Rheines auf- und abwärts, die prächtigen Auen des Breisgaues und des Elsaß, die schönen Thäler und Berge des Kaiserstuhles, des Schwarzwaldes und der Vogesen bis zu den Eisbergen der Schweizeralpen. – Bis auf die letztere – und das ist das lohnendste Hochgefühl auf dieser Ehrenwarte von Breisach – bis auf diese letztere ist jetzt Alles, was und so weit wir ringsum sehen, deutsches Land und Gebiet eines Reiches, das seine Schlüssel nimmermehr so arg verwahrlosen und so oft zerbrechen läßt, wie dies dem an Unglück und Ehren gleich reichen „Kissen und Schlüssel des heiligen römischen Reichs“, dem alten Breisach, widerfahren ist.

Möge ebenso der Liebreiz des Ortes selbst und seiner Umgebung wie die Theilnahme für das ungeheure Schicksal dieser deutschen Stadt ihr recht viele Gäste und Liebhaber zuführen, die endlich die Brandstätten der Kriege zudecken mit Wohnungen und Herden eines neuen hoffnungsreichen Lebens!

H. v. C.