Ein alter Agitator
[64] Ein alter Agitator. Mit Portrait. In den Zeitungen taucht neuerdings wieder ein Name auf, der, fast verschollen, in den Bewegungsjahren überall genannt wurde, wo von Revolutionen und gewaltsamen Umstürzungen die Rede war. Michael Bakunin, heißt es, der fanatische Slavist, der Führer der Dresdener Revolution, soll in der letzten Zeit von Genf aus jene Proclamationen in das russische Reich geschleudert haben, über deren Inhalt und Bedeutung die Nachrichten zwar sehr verschieden lauten, die aber doch eine Anzahl Studenten in Petersburg und Moskau verführt und in Folge dessen in Untersuchungshaft gebracht haben. Selbstverständlich ist die Richtigkeit dieser Zeitungsmittheilungen noch abzuwarten, jedenfalls aber dürfte unseren Lesern das Portrait einen Mannes willkommen sein, der, wie man auch über ihn denken mag, stets eine fabelhafte Energie und Kühnheit entwickelt und nur neuerdings durch seine überspannten und rohen communistischen Ideen in den Augen seiner früheren Parteigenossen sehr an Bedeutung eingebüßt hat. Das Portrait, eine Photographie, ist kurz nach seiner Flucht aus Sibirien in Amerika aufgenommen und uns von einem Freunde verehrt worden.
Wenige seiner Gesinnungsgenossen, die im Jahre 1849 beim alten Werner im „Hahn“ zu Leipzig mit ihm zusammen den russischen „Kochenstaufen“ brauten, werden in der gebeugten müden Gestalt den hochgebauten aristokratischen Hünen von früher wieder erkennen. Damals war Bakunin eine durch seine Liebenswürdigkeit, wie durch seine überwältigende und hinreißende Beredtsamkeit mächtig wirkende Persönlichkeit – jetzt ist er fast ein gebrochener Greis, dessen matt gewordener Witz – wenn die Zeitungen wahr berichten – sich in wahnsinnigen Proclamationen und verwerflichen und lächerlichen Angriffen auf das Eigenthum gefällt. Daß in seinem Gemüth eine tiefe Verbitterung Platz gegriffen hat, dürfte freilich nach all’ den Leiden, die er in den letzten zwanzig Jahren durchgekämpft, kaum noch Verwunderung erregen, trotz alledem ist es bei dem scharfen Verstande des Mannes unbegreiflich, sein Streben auf Bahnen verirrt zu sehen, auf die ihm nur die Beschränktheit oder das Verbrechen zu folgen vermögen.
Bakunin war schon in vormärzlichen Zeiten wegen seiner Bestrebungen zur Flucht aus Rußland und Frankreich genöthigt. Er ging damals auf nichts Geringeres aus, als auf Entzündung eines Brandes aller europäischen Staaten, um dann aus deren Trümmern das slavische Weltreich hervorgehen zu lassen. Mit erstaunlicher Beweglichkeit war er damals überall, wo etwas los war, schrieb, sprach und kämpfte rastlos, Alles für seinen großen slavischen Plan, und entwickelte namentlich beim Kampf in Dresden die rücksichtsloseste Energie. Der Niederlage folgte die Flucht, dieser ein gesunder Schlaf und die Gefangennahme in Chemnitz. Man schaffte den vielbegehrten Mann – denn Rußland und Oesterreich verlangten seine Auslieferung – auf den Königstein.
In der Nacht des 13. Juni 1850 nahmen an der sächsischen Grenze österreichische Kürassiere den Gefangenen in Empfang und führten ihn erst nach Prag und dann nach Olmütz. Nachdem er auch hier, wie vorher in Sachsen, zum Tode verurtheilt und zu lebenslänglichem schweren Kerker begnadigt worden war, geschah seine Auslieferung an Rußland. Sein nächstes Ziel war Sibirien.
Wie Bakunin selbst dort seine Fesseln sprengte, wie treue Liebe ihm Schutz und Mittel zur Flucht gewährte, wie der Einsame durch die Einöden und Gebirge Sibiriens sich nach China durchschlug, die Küste des Stillen Oceans erreichte und über diesen nach Nordamerika, von da aber nach Europa fuhr – das gleicht einer Odyssee und verdient noch erzählt zu werden. – Nach längerem Aufenthalt in Dänemark zog Bakunin, nunmehr mit seiner Retterin aus Sibirien vermählt, sich nach Genf, seitdem seinem ständigen Aufenthalt, zurück. Von dort aus setzt er auch seine Agitationen fort.