Ein Vorkämpfer der humanen Rechtswissenschaft

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Titel: Ein Vorkämpfer der humanen Rechtswissenschaft
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aus: Die Gartenlaube, Heft 32, S. 537–539
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ein Vorkämpfer der humanen Rechtswissenschaft.


Das Volk soll bei Zeiten Diejenigen kennen lernen, welche vorzugsweise für sein Wohl und Wehe bestrebt sind. Unter die nicht gar zu große Zahl solcher Männer gehört Franz von Holtzendorff, und deshalb wollen wir versuchen, hier, in dem Blatte, dessen Mitarbeiter er ist, eine Skizze seiner Thätigkeit zu entwerfen.

In Deutschland vorzugsweise hat man die schmerzliche Erfahrung machen müssen, daß nur Diejenigen sowohl von den gelehrten Genossenschaften wie von den maßgebenden Regierungsbehörden als „wahre“ Gelehrte erachtet worden sind, welche aus der Stille der isolirten Studirstube heraus nur auf das Katheder der Hochschulen und von diesem alsbald wieder zurück in die

Franz von Holtzendorff.

Studirstube getreten sind und nur den einen Zweck im Auge hatten, die „Wissenschaft“ für den Kreis ihrer Jünger und für die wissenschaftlichen Mitarbeiter zu entwickeln und zu fördern. Endlich – und wir sagen wohlerwogen: gottlob! – ist denn doch auch in Deutschland eine andere Zeit angebrochen. Endlich haben auch unsere Gelehrten sich herausgearbeitet aus der engen und engherzigen Beschränkung und damit der Entfremdung der Wissenschaft vom öffentlichen Leben und Verkehre ein Ende bereitet.

Am längsten hat die Zurückhaltung der „Männer vom Fache“ vorgehalten bei der Rechtswissenschaft. Es hatte dies freilich einen tief in der historischen Entwickelungsgeschichte unserer deutschen Rechtszustände liegenden Grund. Ist es doch eine zwar unbestrittene, aber im Einzelnen noch keineswegs klar gelegte historische Thatsache, daß Deutschland das Geschick hatte, daß das gelehrte römische Recht nicht nur auf dem Gebiete des Privatrechts, nein, mehr oder weniger auf allen Rechtsgebieten, dem Staatsrechte wie dem Strafrechte, dem materiellen Rechte wie dem Proceßrechte, eindrang in die Gerichtshöfe, eindrang in die Gesetzgebung, ja in die ganze maßgebende Anschauung, von dem Kaiser und den Landesherren bis herab in die Ausläufe des Beamtenthums. Es erwies sich dies besonders für die staatsrechtliche Weiterentwickelung des deutschen Staatswesens seit dem vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderte als ein nationales Unglück, ein Unglück, von welchem sich England so gut wie vollständig, Frankreich wenigstens zum großen Theile frei zu halten wußte.

Auf anderen Gebieten war das Eis längst mit staunenswerthem Glücke gebrochen worden. Ein Liebig steht dort im Vordergrunde. Er zeigte sofort in mustergültiger Form und mit dem bestmöglichen Gehalte seiner Schriften, daß echte Wissenschaftlichkeit in der Forschung sehr wohl vereinbar ist mit gemeinverständlicher Mittheilung der Forschungsresultate. Ein Virchow ist dem glänzenden Beispiele glänzend nachgefolgt. Vor Allem aber wäre es an sich und besonders hier undankbar, nicht unseres trefflichen Bock zu gedenken. Ihnen schloß sich eine täglich wachsende Reihe von Nacheiferern würdig an. Gerade die höchsten Fragen der Menschheit, die Entstehungsgeschichte des Weltalls, die Abstammung und Entwickelung des Menschengeschlechts wurden in trefflichen Volksschriften verarbeitet und Bescheidenheit und Humanität indirect in hohem Maße gefördert.

Unbegreiflich wäre es gewesen, wenn die Rechtswissenschaft auch jetzt noch sich der gleichen Aufgabe entzogen hätte. Und wenn auch auf diesem zuletzt übriggebliebenen Gebiete Diejenigen noch immer das große Wort führten, welche das Leben als Gegensatz von „akademisch“ auffassen, – auch das Recht weist in der That heutzutage schon eine stattliche Reihe von Vorkämpfern für die freie Forschung und Lehre auf. Ein Häusser hat den Reigen eröffnet; ein Sybel ist ihm gefolgt, und direct „vom Fache“ sind in die gleiche Bahn eingetreten Gneist, Bluntschli und – unser Holtzendorff, Alle unbekümmert um das Achselzucken der noch heute die Mehrzahl bildenden Vertreter der vornehmen Gelehrsamkeit, welche noch in der neuesten Periode Deutschlands ihre Wissenschaft von jeder Berührung mit dem Volksleben ängstlich fern zu halten nach wie vor bestrebt sind.

Unbekümmert um diese vornehmen Herren, giebt von Holtzendorff seit langen Jahren im Vereine mit jenem Virchow die „Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge“, mit dem gesinnungsverwandten Oncken die „Deutschen Zeit- und Streitfragen“ heraus. Gemeinsam ist beiden Unternehmungen das Streben der Volkserziehung und gewissermaßen auch der Versöhnung des Volks in seinen einzelnen Schichten unter einander, besonders der Arbeiter. Auch durch Anregung des Juristenvereins, gegründet 1860, und selbst durch seine Thätigkeit an der Universität gab Holtzendorff gewissermaßen unter den gleichen Widerwärtigkeiten demselben Zuge unerschrockenen und consequenten Ausdruck, indem er sogenannte „Publica“, das heißt Vorlesungen hielt, zu welchen nicht blos jeder akademische Bürger, sondern auch mit Erlaubniß des Rectors jeder Bürger überhaupt Zutritt hat, und er erlebte die Freude, daß sich zeitweise allabendlich ein großer Kreis bildungsbestrebter Männer in einem großen Hörsale der Berliner Universität einfand, um dem Gedankengange des Lehrers gespannt zu folgen und wenigstens fruchtverheißende Anregungen mit nach Hause zu nehmen. Holtzendorff setzte das Gleiche auch in München fort.

In diesen öffentlichen Vorlesungen war das eine Thema die Todesstrafe. Wie überhaupt die Humanität und ihre Förderung, besonders auf dem ganzen Gebiete des Rechts, des Staatsrechts, des Völkerrechts, vorzugsweise des Kriegs- und Friedensrechts, die eine Grundrichtung des Geistesstrebens Holtzendorff’s ist, so gehört er vor Allen zu denjenigen Vorkämpfern der Gegenwart, welche bei dem großen Gewichte der Gegenansicht beinahe ihr persönliches Renommée in die Schanze schlagen, um der Humanität besonders in dem hundertjährigen Streitpunkte der Todesstrafe endlich Bahn zu brechen.

Was ein Beccaria begonnen, ein Mittermaier in seiner reiferen Lebenshälfte mit Freimuth und Wärme vertreten, das nahm Holtzendorff auf. Er war es, welcher nicht etwa nur in

[538] jenen Vorlesungen die fernere Beibehaltung der Todesstrafe bekämpfte, sondern auch an die Spitze der praktischen Bewegung gegen dieselbe trat. Als es sich um die Beschlußfassung des Norddeutschen Reichstages über das neue deutsche Strafgesetzbuch handelte, da reichte er eine von den namhaftesten Juristen und Schriftstellern unterzeichnete Adresse gegen die Todesstrafe ein.

Der Norddeutsche Reichstag sprach sich damals bekanntlich in seinem ersten Beschlusse für die Beseitigung der Todesstrafe aus. Allein da trat Graf Bismarck für die gegentheilige Rechtsanschauung nicht nur mit seinem persönlichen Riesengewichte ein, sondern erklärte, es würde durch Abschaffung der Todesstrafe das Zustandekommen des Norddeutschen Reichsstrafgesetzbuchs gefährdet sein. Die Todesstrafe wurde daher vom Norddeutschen Reichstage, um des Zustandekommens des Strafgesetzbuchs willen, in einem zweiten Beschlusse unter die Strafmittel wirklich aufgenommen, jedoch auf eine überaus kleine Zahl von Fällen beschränkt. Allein Holtzendorff ist noch nicht ermüdet, wie das denn überhaupt seine Sache nicht ist; er hat sein Agitationsfeld im Gegentheile nur noch erweitert. Abgesehen davon, daß er nun auch in einem süddeutschen Hörsaale durch sein zündendes Wort wirkt, hat er jetzt eine Schrift – die einläßlichste seit der Schrift Mittermaier’s – nach allen Richtungen der Windrose in die civilisirte Welt hinausgehen lassen und durch sie zugleich einen neuen Appell an die Humanität erlassen. Mittlerweile hatte sich beinahe überall, selbst in England und Nordamerika, die Todesstrafe in einen letzten Winkel zurückgezogen, indem sie im Ganzen und Großen nur noch für die Fälle des Mordes beibehalten erscheint. In diesen Winkel ist er ihr nachgefolgt und hat seine neue Schrift daher gefaßt: „Das Verbrechen des Mordes und die Todesstrafe“. Gewidmet hat er sie „den parlamentarischen Vorkämpfern gegen die Todesstrafe, Eduard Lasker in Berlin und P. St. Mancini in Rom“. Wir können den Inhalt des Werkes hier auch nicht einmal skizziren. Erlauben möchten wir uns aber aus mehr als einem Grunde, die Schlußstelle wörtlich wieder zu geben. Sie lautet:

„Deutschlands Kaiser, König Wilhelm, schon im Beginne der preußischen Regentschaft zur Milde geneigt, hat seit dem Jahre 1870 kein Todesurtheil mehr bestätigt: eine Thatsache, deren Grund sich sowohl der Erläuterung wie auch den Vermuthungen gegenwärtig noch entzieht. Aber es muß darauf hingewiesen werden, daß der Monarch, der die blutigsten Schlachten der neueren Zeit siegreich schlug und in den Kriegslazarethen das Leben der edelsten Männer gleichsam selbst blutenden Herzens massenhaft untergehen sah, den Werth des menschlichen Lebens nicht geringer, sondern im Gegentheil nur um so höher veranschlagt. Wenn die Schrecken der letzten deutschen Kriege außer den unvergänglichen Lorbeeren, die unsere Krieger einsammelten, und außer der kostbarsten Frucht deutscher Einheit, auch noch Einiges dazu beigetragen haben, die Herzen der Menschen mit göttlicher Milde zu erfüllen und der endlichen Abschaffung der Todesstrafe vorzuarbeiten, so werden spätere Geschlechter auch aus diesem Grunde mehr und mehr erkennen, daß Deutschlands Kampf zu den heiligen Befreiungskriegen der Menschheit gezählt werden muß.“ –

In noch ausgedehnterem Maße und mit schneller erreichtem Erfolge als gegen die Todesstrafe hat Holtzendorff gegen die in Deutschland bestandenen ausschließlichen Gefängnißsysteme, nämlich einerseits das der Gemeinschaftshaft, andererseits das der strengen Zellenhaft, gekämpft, wie es denn überhaupt ein Grundzug Holtzendorff’s ist, sich nicht ausschließlichen Systemen und aprioristischen Theorien gefangen zu geben. Man hatte sich aber in Deutschland, da man die Gemeinschaftshaft als unzulänglich befunden hatte, nun der Zellenhaft in die Arme geworfen. Allein der bei längerer Haftdauer auf die Gesundheit der Sträflinge geäußerte ungünstige Einfluß ließ diese Haftart unter Umständen grausam erscheinen. Die Humanität verlangte vielmehr eine verständige Vereinigung beider Strafarten und die Verbesserung einer jeden, der Gemeinschaftshaft durch größere Strenge, der Zellenhaft durch Milderungen. Mittlerweile war nun aber in Irland ein neues System aufgetaucht. Nach demselben ist es dem Sträflinge selbst in die Hand gegeben, durch gutes Betragen seine Strafzeit abzukürzen. Dieses „Irische System“ (auch Progressiv-, bedingtes Freilassungssystem genannt) hatte bereits die günstigsten Erfolge aufzuweisen. Holtzendorff ergriff daher den neuen Humanitätsgedanken mit gewohnter Lebhaftigkeit und Ausdauer und machte behufs genauesten Studiums eigens eine Reise nach Irland. Seine 1858 und 1861 herausgegebenen Schriften wurden nicht nur in die hauptsächlichsten europäischen Sprachen übersetzt, sondern hatten so durchschlagenden Erfolg, daß man sie geradezu als epochemachend in der europäischen Gefängnißliteratur erachten kann. Sachsen war der erste deutsche Staat, in welchem durch den König Johann die Reform zuerst eingeführt wurde (1863, wenn wir nicht irren), worauf sie ihren Weg auch in das Norddeutsche und Deutsche Strafgesetzbuch gefunden hat.

Wir haben oben des Fürsten Bismarck gedacht. Wie sich Holtzendorff wohl von Niemand in der Liebe zum großen deutschen Vaterland übertreffen läßt, so wüßten wir auch nicht, wer mit größerer Begeisterung und mit tieferem Dankgefühle dem großen Staatsmanne – neben Stein dem größten, welchen der deutsche Boden je hervorgebracht, – zugethan wäre. Noch ehe unserm Bismarck der letzte große Schritt zur Vollendung der deutschen Einheit gelungen war, hat er ihm, wenn er auch keinen Namen nannte, ein redendes Denkmal in seinen „Principien der Politik“ 1869 gesetzt. Wer hätte schon damals nicht an den Namen Bismarck gedacht, wenn er Stellen las, wie die folgende, die Thätigkeit und die Schwierigkeiten jedes großen Staatsmannes schildernde:

„Er hat den Hafen hinter sich, den Hafen vor sich. Die Stärke und Richtung des Windes, die Strömungen des Meeres schreiben ihm die Stellung der Segel vor, und jede Stunde kann hier eine Veränderung fordern. Wer auf einer Seekarte die Curven betrachtet, welche berühmte Weltumsegler auf den Wassern des Oceans, in ihrer nach Punkten markirten Tagereise zahlreiche Windungen und Zickzackbewegungen durchlaufend, zurücklegen mußten, findet ein Gleichniß für die Bewegungen, welche zur Erreichung entfernter politischer Ziele innegehalten werden müssen.“

Am Schlusse des Buches aber sagte damals (1869) von Holtzendorff:

„An sich kann von der politischen Theorie weder eine conservative, noch eine liberale, noch eine radicale Politik jemals völlig verworfen werden. Die Politik des Freiherrn von Stein war in verschiedenen Perioden verschieden gestaltet: radical, reformatorisch und conservativ. Das Gleiche gilt vom Grafen Cavour und – von dem Staatsmanne, der durch eine nach außen radicale Politik dem deutschen Bundestage ein Ende machte.“

Das Wagniß Holtzendorff’s, die Vertheidigung des Grafen Arnim zu übernehmen, ist vielfach mißdeutet worden. Er sagt in einem Vorworte zu seiner in Berlin herausgegebenen Vertheidigungsrede etwa: „Ich kenne keine ‚Interessen‘, wie sie selbst meine Freunde als gefährdet erachteten, denn ich diene nicht auf Avancement. Wären aber solche wirklich vorhanden, so würde ich sie meiner Ueberzeugung getrost zum Opfer bringen. Wenn es sich darum handelt, eine falsche Anwendung des Strafgesetzes abzuwehren, und außerdem, wenn meine Vertheidigung ein Geringes dazu beigetragen hat, den zweifelhaften Sinn des Strafgesetzes klarer zu stellen, so würde ich glauben, daß der Dienst, den ich dem Grafen Arnim geleistet habe, geringer wäre als derjenige, den ich – Deutschland erwiesen.“

Die vollste Charakterunabhängigkeit, das Freisein von allen „Rücksichten“ in gewissem Sinne hat übrigens Holtzendorff nicht erst heute bewährt. Nachdem er, so lange der Pietismus in voller Blüthe stand, 1861 den Kampf mit dem Rauhen Hause aufgenommen hatte, half er 1865 den Protestanten-Verein mitbegründen; er ist es auch, welcher durch die neueste Herausgabe der von ihm angeregten Protestanten-Bibel neben Dr. Paul Schmid eine der durchschlagendsten „Thaten“ des Vereins zu Tage gefördert hat. – Unerschütterlich liberal hat er gleichwohl zu keiner Fahne ausschließlich geschworen. Soeben hält er an der Münchener Universität wieder eine öffentliche Vorlesung, als deren Thema er sich diesmal nicht einen strafrechtlichen Gegenstand, sondern einen dem Staatsrecht und der Politik angehörenden gewählt hat. (Holtzendorff ist an die Universität München als Lehrer des Straf-, Staats- und Völkerrechts berufen.) Es ist dies eine wissenschaftliche politische Betrachtung der politischen Parteien, und er scheut sich hierbei in keiner Weise, jeder der verschiedenen Parteien die Wahrheit zu sagen. – Einige bezeichnende [539] Vorgänge müssen wir zur Illustration jener Charakterunabhängigkeit aus neuester Zeit herbeiziehen.

Der Prophet gilt nichts im Vaterlande. Diesen Satz hat auch unser Freund, welchen unter seine Mitglieder zu zählen, eine Reihe ausländischer Akademien und gelehrter Gesellschaften sich zur Ehre rechnen, häufig an sich erprobt. Sein[WS 1] Name hat in Amerika und England, in dem wissenschaftlich hochaufstrebenden jungen Staate Italien einen allgemein gültigeren Klang, als man gemäß seiner officiellen Anerkennung in Deutschland irgend erwarten sollte. Auf dem Gefängnißcongreß in London erschien er ohne alle officielle staatliche Legitimation; dennoch wurde er zum Mitvorsitzenden erwählt. Kurz vor Beginn des Arnim’schen Processes tagte eine Versammlung des völkerrechtlichen Instituts in Genf. Nach deren Beendigung versammelte sich in derselben Stadt eine Gesellschaft amerikanischer und englischer Friedensfreunde, welche es sich nicht nehmen ließen, auch Holtzendorff zur Theilnahme und einer Rede einzuladen. Er folgte dieser Aufforderung, jedoch in einer anderen Weise als gehofft, und dennoch reichte das Ansehen seines Namens nicht nur hin, um ihm „freie Bahn“ zu eröffnen, sondern ihm auch einen lebhaften Beifall zu verschaffen.

Er sagte nämlich – gar sehr am rechten Platze und zur rechten Zeit –: er müßte mit Entschiedenheit hervorheben, daß die allgemeinen Declamationen gegen die stehenden Heere, was Deutschland anbelange, aus den gröbsten Mißverständnissen hervorgegangen seien; nicht an die Armee, nicht an deren Heerführer sei die erste Mahnung zum Frieden zu richten, sondern – an die „streitende Kirche“. So lange der Jesuitismus noch sein Unwesen in der Welt treibe, so lange könne von „Frieden“ in der Menschheit die Rede nicht sein. Das Christenthum, die Religion des Friedens, sei durch das jesuitische Kirchenwesen zu einer fortwährenden Bedrohung des Friedens, der inneren Ruhe in den Nationen geworden, die Religion der Liebe sei umgestaltet in ein Bekenntniß des Bürgerkriegs. Mit heuchlerischen Worten, in heuchlerischen Processionen werde unter Thränen und Klagen der eine stille Wunsch verborgen, das deutsche Reich wieder in Trümmer zu zerschlagen.

Bei seinem jüngsten Aufenthalte in Italien endlich wurde Holtzendorff, obgleich er in einem allbekannt gewordenen Toaste bei einem Festbankette in Rom seiner von der Ansicht der italienischen Regierung und Parlamentsmajorität durchaus abweichenden Anschauung von einer richtigen Politik dem Papste und der katholischen Kirche gegenüber einen sehr unzweideutigen Ausdruck gab, in allen größeren Städten von Rom herauf bis nach Venedig mit Huldigungen überhäuft, wie solche daselbst noch keinem deutschen Rechtsgelehrten, selbst Mittermaier nicht, im gleichen Maße zu Theil geworden sind.

Freilich ganz vergessen waren Holtzendorff’s Bemühungen auch im Inlande, wenigstens seitens des Volkes, nicht. Als er von Berlin nach München übersiedelte (Herbst 1873), ward ihm aus Volkskreisen und aus dem Schooße von Vereinen zum Wohle des Volks heraus noch eine Anerkennung in die neue Heimath nachgesendet, nachdem er seine Mitgliedschaft und zumeist Vorstandschaft im Gefängnißverein, den Vereinen für Förderung der Erwerbsfähigkeit der Frauen, für Einrichtung von Volksküchen, und den zahlreichen Vereinen für Volksbildung, z. B. dem Handwerkerverein in Berlin, hatte niederlegen müssen.

Holtzendorff’s Vater gehörte zu den Bestverleumdeten und Heftigstverfolgten seiner Zeit. Weil er in einer strafrechtlichen, mit einem Jagdfrevel zusammenhängenden Untersuchung nach dem alten Inquisitionsproceß „nur vorläufig freigesprochen“ worden war, entzog man dem muthig für den Liberalismus Eintretenden von Regierungswegen seine kreisständischen Rechte, und zwar dann, als er auf einem Kreistage es gewagt hatte, den König Friedrich Wilhelm den Vierten an die Erfüllung der Zusage von 1815 und an den Erlaß einer Constitution zu mahnen. Die Verfolgung gegen den älteren Holtzendorff ging so weit, daß der Geistliche unter seinem Patronate angewiesen wurde, ihn aus dem üblichen Kirchengebete der Pfarrgemeinde auszuschließen. Erst das Jahr 1848 brachte dem maßlos Verfolgten die Erfüllung Dessen, was er erstrebt, und damit endlich zugleich die Wiederherstellung sämmtlicher ständischer Ehrenrechte. Zu seinem Andenken stiftete der Sohn das erste Stipendium der neugegründeten Straßburger Universität unter dem Titel „Holtzendorff-Vietmannsdorff[1]-Stipendium“ – ein Vorspiel für die von ihm gleichzeitig angeregte Bismarck-Stiftung.


  1. Vietmannsdorf in der Mark ist der Stammsitz dieses Holtzendorff’schen Familienzweiges.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Seine