Textdaten
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Autor: Hermann Löns
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Titel: Ein Schreckenstag
Untertitel:
aus: Der zweckmäßige Meyer. Ein schnurriges Buch, S. 52–57
Herausgeber:
Auflage: 1.–4. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1911
Verlag: Sponholtz
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Erscheinungsort: Hannover
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Google-USA* = Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: [1]
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Bearbeitungsstand
fertig
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[52] Ein Schreckenstag.

Freude herrschte in Müllers Hallen, als am Sonntag-Morgen die Sonne aus einem beinahe mehr als himmelblauen Himmel herabschien.

Der Jubel der Kinder war unbeschreiblich. Den letzten Sonntag war der geplante Ausflug verregnet; dieses Mal aber wurde etwas damit. Frau Müller säbelte im Schweiße ihres Angesichts Butterbröte; ein ganzes Fünfgroschenbrot ging dabei darauf. Herr Müller füllte zwei Zigarrentaschen und mehrere Feldflaschen, letztere mit starken und schwachen Getränken; die Kinder holten Botanisiertrommeln, Schmetterlingsnetze und allerlei Pillenschachteln herbei, denn sie gedachten seltene Beute zu machen.

Die Familie Müller hat viel Sinn für die Natur, was sie dadurch beweist, daß sie vier ganz große Goldfische in einem ganz kleinen Glase hielt, so daß die unglücklichen Tiere sich allmählich alle Schuppen aneinander abgerieben und sich Maulatmung angewöhnt haben; ferner besitzt man einen Kanarienvogel, der zwar nicht singt, aber dafür ab und zu ein taubes Ei zur Welt bringt. Früher hatte man auch weiße Mäuse gezüchtet; aber als sie einmal ausbrachen und Zweigniederlassungen in den anderen Stockwerken gründeten, hatte der Hauswirt, ein Mann ohne jedes Verständnis für zoologische Bestrebungen, mit der Kündigung gedroht, falls die weiße Mäusezucht fortgesetzt würde.

So begnügt man sich mit den vier Goldfischen, der kanarischen Legehenne und dem Getier, das man bei Ausflügen [53] erwischte, füttert heute eine junge Singdrossel mit eingewässertem Schwarzbrot ins Jenseits, setzt morgen einen Wasserfrosch in das Goldfischglas und wundert sich Stein und Bein, als er am anderen Morgen ertrunken war, und erfreut sich übermorgen an dem Gezappel einer Eidechse, die Hans in der Schule gegen einen Haufen Briefmarken als junges Nilkrokodil eingetauscht hatte, und war maßlos erschüttert, als sie übermorgen als Wasserleiche auf dem Grunde der Glaskrause lag und trotz aller Wiederbelebungsversuche nicht mehr auferstand.

Trotz aller dieser Mißerfolge blieb man aber unentwegt der zoologischen Liebhaberei treu, und so konnte man es kaum erwarten, daß der Zug hielt, und warf sich sofort an den grünen Busen der Natur. Kaum war man im Walde angelangt, so hielt Vater Müller den Zeigefinger hoch und rief: „Horcht! Die Nachtigall!“ Ehrfurchtsvoll sahen alle nach dem Baume, auf dem eine Schwarzdrossel sich mit Singen beschäftigte. Fritz meinte zwar, der Lehrer habe die Meinung geäußert, die Nachtigallen sängen bloß nachts, der Vater aber wußte es besser, und so war diese Amsel eine Nachtigall und blieb es.

„Seht, Kinder,“ sprach er dann und zeigte auf einen Baum, „das ist eine Erle.“ Es war aber eine Lärche, und deswegen setzte die Mutter, um zu zeigen, daß ihre naturwissenschaftlichen Kenntnisse ebenfalls bedeutend seien, hinzu: „Aber nicht der Vogel, wo so schön singt.“ Hans sah sie dumm an und meinte dann: „Denn meinst du wohl ’ne Lerche?“

Seine Erzeuger hüllten sich teils in Schweigen, teils in Schamröte; der Vater steckte sich eine Zigarre an, die Mutter machte einige unwirsche Bemerkungen über die Mücken und trat dann mit viel überflüssigem Kraftaufwand einen prachtvollen Raubkäfer tot, der gerade einer Raupe den Garaus machte. „Denn das sind alles schädliche Tiere,“ erklärte sie, als das herrliche Geschöpf unter ihrer Sohle zerkrachte.

[54] Ein gellendes Geschrei erweckte ihre Kluckeninstinkte. Sie stürzte dahin, wo Hans und Fritz und Grete und Hete standen und mit starren Augen alle nach demselben Fleck stierten. Da kroch eine lange, schwarze, weißgestreifte, splitterfasernackte Schnecke harmlos über den Weg. Hans hatte gerufen: „O, fein, eine Blindschleiche!“ Als er aber danach greifen wollte, rissen ihn Hete und Grete unter gellendem Gezeter zurück und schrien: „Bloß nicht! Es ist eine Kreuzotter, die kann springen und saugt dir das Blut aus, und wo sie sticht, gibt es sieben Löcher. Vier Stacheln hat sie schon heraus!“

Hans behauptete zwar steif und fest, es wäre eine Blindschleiche, es könnte auch eine Ringelnatter sein. Der Vater aber sagte: „Schlange ist Schlange“ und führte einen furchtbaren Hieb nach dem Tiere, traf es aber nicht, sondern nur die Erde, auf der es kroch, so daß es der Mutter gegen den Rock flog, worauf die so schrecklich schrie, als ginge es ihr an das Leben.

Im großen Bogen gingen nun alle sechs um die Schnecke, die sich vor Angst perspektivisch verkürzt hatte, herum, froh, noch einmal mit dem Leben davon gekommen zu sein, und da ihnen der Schreck noch sehr in den Gliedern lag, so gingen sie leise und verhielten sich still. So kamen sie an eine Lichtung, auf der ein Rehbock stand, sie einen Augenblick anäugte und dann laut schreckend in der Dichtung verschwand. Mutter Müller wurde erst weiß, dann rot, dann blau und jappte: „Was habe ich mich verschrocken! Kommt der Hirsch auch nicht wieder?“ Ihr Ältester meinte zwar: „Das war ein Reh!“ aber er wurde ausgelacht: „So? haben Rehe Hörner?“ hieß es. „Hörner haben sie bloß, wenn sie groß sind und Hirsche geworden sind, und dann hat er ja auch gebrüllt, und das tun bloß die Alten. Der Lehrer hat uns das erst gestern, als wir Natur hatten, erzählt.“

[55] Man sah sich nun vor, „denn Hirsche sind unter Umständen gefährlich,“ meinte der Vater und trug fortan seinen Stock so, wie ein Massai den Speer. Und das war auch gut, denn als man so dahinschlich, furchtsam nach allen Seiten spähend, quiekte Hete plötzlich schrecklich auf, schlotterte und schnatterte, mit dem Zeigefinger auf den Weg deutend: „Schon wieder ’ne Schlange!“ Es war eine Blindschleiche, die sich sonnte. Nun war guter Rat teuer. Rechts und links war dichtes Unterholz, in dem wer weiß welche Ungeheuer wohnten, und zurück wollte man nicht gehen. Da sprang Hans als Ritter Georg vor. Mit einem Schlage seines Stockes zerschmetterte er dem Tiere den Rücken, und er hielt erst ein, bis nur noch Fetzen davon übrig waren. Aber das zuckende Schwänzchen übte noch einen so dämonischen Einfluß auf die Gemüter aus, daß der Vater jedem einen Kognak spendieren mußte, was ihm die Stimmung ersichtlich verdarb.

Kaum war man eine Viertelstunde weiter gegangen, so schreckte im Gebüsch wieder ein Reh. Nun schlotterten alle Mitglieder der Familie Müller, und als dazu noch ein Häher in dem Gebüsch über das Gequieke der Mädchen sich lustig machte und zudem eine prachtvolle, schwarz und gelb gefärbte Hummel um Mama Müllers Blumenhut herumsummte, sträubte sich bei allen das Haar, und jeder versah sich schleunigst mit einer Gänsehaut.

„Nein,“ seufzte Frau Müller und atmete beschwerlich, „Vater, das sage ich dir aber: keine zehn Pferde kriegen mich wieder in diese lebensgefährliche Gegend!“ Vorwurfsvoll sah sie ihren Gatten an. „Hu!“ schrie sie dann wieder auf, denn hinten im Walde ließ der Schwarzspecht seine silberne Glocke erklingen und darauf sein klirrendes Gelächter erschallen. „Was ist denn das wieder für ein Ungetüm?“ jammerte die gute Frau, „Kinder und Leute, ich will Gott danken, wenn wir hier erst gesund heraus sind! Aber das sage ich Euch: einmal und nicht wieder! Ich habe von heute [56] mehr als genug, und es soll mich nicht wundern, wenn es nicht noch schlimmer kommt. Am Ende gibt es hier noch Wölfe!“

Sie erholte sich erst, als sie in der Wirtschaft vier Tassen Kaffee und zwei Meter Butterkuchen vertilgt hatte; die fünfte Tasse wurde ihr aber etwas vergällt, denn gerade als sie Milch dazu tun wollte, plumpste ein Hirschkäfer hinein. „O Gott, ein Krebs, wie scheußlich!“ schrie sie und sah entrüstet den Wirt an, als der ihr sagte, es sei nur ein Hirschkäfer. „O fein!“ rief Hans und packte den Käfer, schrie aber wie besessen auf, schlenkerte den Käfer von sich und steckte den Zeigefinger in den Mund, denn der Schröter hatte ihn ziemlich derbe gekniffen. Frau Müller bekam Magendrücken vor Schreck. „Wenn das bloß keine Blutvergiftung gibt,“ stöhnte sie und warf dem Wirt einen furchtbaren Blick zu, stellte ihre Augen aber sofort wieder auf Todesangst und bleiche Furcht ein, denn der Hirschkäfer erhob seine Schwingen und schnurrte mit Getöse dicht an ihrer Nase vorbei. „Das ist ja schrecklich hier,“ meinte sie und saß fortan da, als erwarte sie jeden Augenblick einen Löwen oder eine Riesenschlange.

Allmählich bekam sie aber ihre gute Laune wieder; denn zwei junge Herren, die ihr als heiratsfähig bekannt waren, hatten sich an den Tisch herangeschlängelt und widmeten sich ihr und den Töchtern in verheißungsvollster Weise. Auf einmal schrie Hete schrill auf: „Eine Maus, eine Maus!“ und sprang mit so hoch gerafften Röcken auf die Bank, daß die beiden Jünglinge ganz verklärte Augen machten, weil Grete, teils der Maus, teils der Heiratskandidaten wegen, auch ein paar tadellose und wohlgefüllte Strümpfe in Augenschein brachte. Aber als die Mutter ihnen nachfolgte, zeigte es sich, daß, wenn zwei oder in diesem Falle drei, dasselbe tun, es nicht dasselbe ist, denn die zärtliche Rührung in den Augen der beiden Anbeter wich erst starrem Erstaunen und dann heimlicher Heiterkeit, die nicht ohne eine Beimischung von [57] Entsetzen war, denn Mama Müllers Waden erinnerten etwas zu sehr an die einer Jahrmarktsriesendame.

Zum Glück fing es an zu regnen, und so flüchtete alles in das Haus. Es dämmerte schon als der Regen aufhörte und man sich auf den Rückmarsch machte. Der war nicht ohne Gefahren. Überall krochen die furchtbaren Tiere, die man für Kreuzottern hielt. Die beiden Heiratskandidaten erklärten zwar, es seien Schnecken; aber da Schnecken, wenigstens anständige Schnecken, nach der Meinung der Familie Müller Häuser haben, so wurde man die Angst nicht los, und bei jedem Frosch, der über den Weg hüpfte, gab es ein beträchtliches Gequieke und Gejammer. Ganz elend aber wurde Frau Müller, als ein Salamander über den Fußpfad watschelte. „Schwarz und gelb!“ stöhnte sie; „wenn das nicht giftig ist, dann weiß ich es nicht!“

Auch die Fledermäuse erfüllten ihr Herz mit Grausen, und sie ruhte nicht eher, bis sich ihre Töchter die Röcke über den Kopf schlugen, was diese in Anbetracht der sonntagsgemäßen Tadellosigkeit ihrer Unterkleider mehr als gern taten. „Die Tiere fliegen einem ins Haar und man kriegt sie so leicht nicht wieder heraus,“ erklärte die Mutter und die beiden jungen Herren pflichteten ihr bei, obschon sie mit Rücksicht auf die vier niedlichen Waden geneigt waren, die Fledermäuse für äußerst nützliche und nette Tiere zu halten. Aber als dann der Waldkauz zu rufen begann, Frau Müller den Arm ihres Mannes und Hete und Grete die ihrer Anbeter umklammerten, fanden sie, daß auch Eulen zu den entschieden schätzenswerten Tieren gehörten.

Frau Müller lebte nur noch halb, als sie auf der Haltestelle anlangte, und wenn der Tag auch die angenehme Folge hatte, daß Hete und Grete Bräute und Frauen wurden, ihrer Mutter blieb er doch immer in der Erinnerung als ein Schreckenstag sondergleichen, und von der Natur hatte sie für immer genug.