Ein Muster gesundheitlicher Baukunst

Textdaten
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Autor: Johann Heinrich Bettziech
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Titel: Ein Muster gesundheitlicher Baukunst
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aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 435–437
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ein Muster gesundheitlicher Baukunst.

Das neue Universitätsgebäude zu Glasgow.

Die modischen Miethscasernen mit Hintergebäuden, welche Luft und Licht ausschließen, und die Villa’s, wie sie sich jetzt um Berlin und andere Großstädte herum in unschöner Zerstreuung nach allen Seiten kokettirend einfinden, entsprechen nur sehr selten den Anforderungen der Schönheit, noch weniger denjenigen innerer Bequemlichkeit und Gesundheit. Von Ventilationseinrichtungen bemerkt man selten etwas; dagegen scheinen die Gifttrichter, welche die Wohnungen aus Senkgruben oder aus unterirdischen Spülcanälen fortwährend tückisch mit Typhusluft und sonstigen Krankheits- und Todesgiften versorgen, diese Waterclosets zu den unerläßlichen Erfordernissen sogenannter herrschaftlicher Häuser und Wohnungen zu gehören. In England sind wenigstens kluge und belehrungsfähige Leute durch Schaden klug geworden und lassen nicht nur neue Häuser ohne diese Gifttrichter bauen, sondern diese auch aus alten herausreißen. Und in England können diese Hausdrachenrachen wenigstens nicht so viel Schaden thun wie bei uns, weil es hier noch fast durchweg an guten Ventilationseinrichtungen fehlt, die der Engländer für unerläßlich hält und ohnehin auch mittelbar in den stets luftreinigenden Kaminfeuern besitzt.

Ja, in der Baukunst und in häuslichen Einrichtungen können wir viel von den Engländern lernen. Dort giebt’s noch keinen Casernenstil, und Ventilationseinrichtungen, an welche bei uns Baumeister und Bauherren kaum denken, gelten dort für ebenso nothwendig wie Thüren und Fenster. Da nun nach Rittershaus das neue deutsche Reich „der Freiheit Tempelhalle und nicht eine Reichscaserne“ werden soll, empfiehlt sich das militär- und miethscasernenarme England mit seiner Ventilationspraxis der deutschen Cultur und Baukunst um so mehr zum Vorbilde, als es wirklich höchste Zeit geworden ist, in diesem Reiche der Casernen und der Wohnungsnoth ausreichend bequem, gesund und schön bauen zu lernen. Deshalb wird zunächst ein Musterbau, der, so weit wir es verstehen, allen praktischen und ästhetischen Forderungen der architektonischen Kunst genügt, wie er hier in Wort und Bild zur Anschauung kommt, nicht unwillkommen, wenigstens nützlich sein. Das Reich und die Reichen haben ja ohnehin die höhere Verpflichtung, für Läuterung des Geschmacks und Förderung der Cultur nicht sowohl prächtig, als schön und zweckentsprechend zu bauen. Dafür sind viele englische monumentale Bauwerke, wenn nicht unbedingt Muster, so doch im höchsten Grade anregend.

Zu den gelungensten und großartigsten Kunstwerken dieser Art gehört jedenfalls das von Professor G. G. Scott entworfene [436] und von dem deutschen Ingenieur W. Conradi, einem Schüler des genialen Semper, ausgeführte neue Universitätsgebäude zu Glasgow. Diese musterhafte Tempelhalle der Wissenschaft wirkt wohl auch insofern schon wohlthätig auf Berlin, als der jetzt in Berlin wohnende Conradi von zwei Männern der Wissenschaft ersucht worden ist, ihnen Auditorien und Laboratorien dieser Art im Kleinen zu entwerfen und auszuführen.

Die Universität Glasgow steht nicht allein auf dem solidesten Bau-, sondern auch auf dem ehrwürdigsten Geschichtsgrunde. Im Jahre 1450 entstanden, gehört sie zu einem der ältesten Freitempel der Wissenschaft, durch ihre Entwickelung und Lehrer zu einem der wirksamsten. Sie erwuchs aus eigener Kraft und durch die in England auch noch heutzutage blühende und Früchte tragende „Poesie des Reichthums“ und des Wohlthätigkeitssinnes, durch welchen in London allein die meisten der siebenhundert Anstalten der Barmherzigkeit erhalten werden. Die Zahl der Studenten stieg bald über tausend und schwankt jetzt zwischen zwölf- und fünfzehnhundert. Einige Professoren derselben haben europäischen Ruf erworben, den wirksamsten jedenfalls Adam Smith durch sein Werk „The Wealth of Nations“. Aus seinen Lehren und diesem Buche entsprangen die großartigsten Umwälzungen in der Staats- und Volkswirthschaft, in Handel und Wandel. Er ist der Urvater der allmächtigen Freihandelsbewegung und der Manchesterschule, nach welcher alles Wohl und Wehe der Völker und einzelnen Menschen dem eigenen Ermessen, der Freiheit in „Angebot“ und „Nachfrage“ überlassen bleiben soll. Sie hat nun ihre weltgeschichtliche Mission erfüllt und muß einer höheren, sittlicheren Auffassung und Behandlung der Menschen und Dinge weichen, da alle Freiheit nach der jetzigen höheren und tieferen Erkenntniß auf Pflichten gegen uns und Andere beruht und nicht auf Rechten, für unseren Privatvortheil Andere zu schädigen.

Die große und wachsende Anzahl von Professoren und Studenten machte öftere Erweiterungen nothwendig, und schon vor dreißig Jahren wurden Versuche gemacht, einen ganz neuen, großen, einheitlichen Wissenschaftstempel zu erbauen. Sie gelangen erst vor acht Jahren. Man kaufte zunächst einen prachtvollen, umfangreichen Baugrund für siebenhunderttausend Thaler, und nachdem der Plan des Professor Scott genehmigt worden war, gingen er und der Schüler Semper’s an die heroische Arbeit der Ausführung, welche nun in allen Theilen bis in’s Kleinste als siegreich abgeschlossen betrachtet werden kann. Der Wissenschaftstempel erhebt sich auf freundlichst umgrünter und parkartiger Höhe als rechtwinkeliges, sechshundert Fuß langes und dreihundert Fuß breites Viereck, dessen Inneres durch einen prachtvollen Mittelbau in zwei Würfel von je hundertachtzig Geviertfuß getheilt ist. Um diese beiden großen inneren Würfel gruppiren sich alle die unzähligen Säle, Auditorien, Laboratorien, Wirthschafts- und Gesundheitseinrichtungen. Letztere gelten als das Vollkommenste, was überhaupt bis jetzt je irgendwo erstrebt und mit bestem Erfolge durchgeführt ward. Luft und Licht, diese Sinnbilder des Geistes und Wissens, können von innen und außen stets frei einwirken, und durch den Ventilationsthurm wird fortwährend die reinste Luft aus der Höhe durch alle Räume so mächtig hineingetrieben, daß schädliche Gase und Ausdünstungen sich nie ansammeln können.

Das ganze Gebäude zerfällt in vier Hauptabtheilungen. Die südliche Front mit dem westlichen Eckturme ist den Naturwissenschaften in den prächtigsten Auditorien und Laboratorien gewidmet, der östliche Theil der Arzneikunde mit Bibliothek, Museum und allen nur erdenklichen Hülfsmitteln; die nördliche Front enthält einen Versammlungssaal für die Studenten, eine Lesehalle mit prachtvoller Bibliothek und das berühmte Hunter-Museum, vielleicht die vollständigste Sammlung von Münzen, außerdem die über hunderttausend Bände umfassende allgemeine Universitätsbibliothek. Daran schließen sich über ein Dutzend Privathäuser, jedes mit besonderen bequemen und heiteren Professorenwohnungen, ein fünf Morgen großer Spielplatz für die Studenten, am Ende noch das neue Universitätshospital.

Zuerst fällt natürlich der große Centralthurm mit den Haupteingängen unten in die Augen. Er ist nicht, wie andere Thürme, für Glocken bestimmt, sondern wesentlich für den praktischen Zweck der Ventilation. In einer Höhe von zweihundert Fuß zieht hier gleichsam die Lunge des ganzen Gebäudes jede Stunde seine Million Cubikfuß der reinsten Luft ein und hinunter in alle Poren des Gebäudes, durch welche gleichzeitig alle verbrauchte Luft immerwährend ausgetrieben wird. Noch mehr. Diese frische Luft wird je nach Jahreszeit und Temperatur entweder entsprechend gewärmt oder gekühlt, ehe sie den Lungen geboten wird. Darüber hernach noch ein Wort. An den Hauptthurm schließen sich der große Saal für öffentliche Prüfungen und der Versammlungssaal für den Senat an. Die medicinischen und naturwissenschaftlichen Auditorien sind halbcircelförmig, amphitheatralisch so gebaut, daß der Lehrer mit seinen Experimenten in der Mitte des Halbkreises unten von jeder Stelle aus gut gehört und gesehen werden kann.

Für Equipagen sind mehrere Portale so eingerichtet, daß diese ohne Verwirrung bequem ein- und ausfahren können, und für größere Bücher und sonstige Lasten im Museum, der Bibliothek etc. verschiedene Flaschenzüge mit Dampfbetrieb angebracht. Als nachahmungswerthe Einrichtung verdient noch erwähnt zu werden, daß unmittelbar an jedem Auditorium sich noch ein kleines Privatzimmer mit besonderem Eingange für die Docenten und Professoren befindet.

Um alle Einzelnheiten der vortrefflichen praktischen Einrichtungen anschaulich zu machen, müßte man nicht nur einen Grundplan, sondern auch architektonische Zeichnungen der verschiedenen Etagen zu Hülfe nehmen. Da es uns hier aber nur auf eine Generalansicht und Veranschaulichung der Ventilationseinrichtungen ankommt, weisen wir auf die photographisch aufgenommene Abbildung hin und beschränken uns auf eine Skizze dieses großartigen Ein- und Ausathmungssystems mit den Dampflungenkräften der Ein- und Ausathmung, durch welche der ganze riesige Bau gleichsam zu einem lebendig athmenden Wesens wird.

Die Einathmungswerkzeuge bestehen in vier weiten Luftröhren des Thurmes, durch welche dampfgetriebene Fächer die Luft mit großer Gewalt hinunterschrauben und in die verschiedenen Luftbehälter treiben, wo sie im Winter erst gewärmt und durchfeuchtet und im Sommer gekühlt und dann von derselben Gewalt in unzählige, durch die Wände vertheilte Röhren und von da in alle Räume gepreßt wird. Ueberall sind Klappen angebracht, um den etwaigen zu großen Zustrom zu mildern oder ganz abzuschließen. Vielleicht würde es auch manchmal zu viel werden, da das freie Spiel dieser Luftzufuhr in jeder Stunde jedem Auditorium 1050 Cubikfuß der reinsten Luft zuführt.

Wo kommt aber die schlechte Luft hin? Das ist vielleicht die Hauptsache. Bei uns denken noch häufig selbst gebildete Leute, daß sie den Gesundheitsanforderungen die größten Opfer bringen, wenn sie etwa im Winter täglich einmal auf so und so viel Minuten die Fenster öffnen, obgleich dies keine andere wesentliche Wirkung hat, als Abkühlung der im Zimmer verharrenden Luft und Erkältung. Wenn frische Luft eindringen soll, muß es der schlechten leicht gemacht oder sie muß, noch besser, gezwungen werden, sich an die Luft zu setzen. Unter den Sitzen der Auditorien der Glasgow-Universität sind überall solche Oeffnungen angebracht, daß die verbrauchte Luft, durch die frisch eindringende gepreßt, entweichen kann, ohne Zug zu verursachen. Um dieser nun auch den etwaigen heimlichen Aufenthalt in den Abzugsröhren unmöglich zu machen, sind immerwährend dampfgetriebene schraubenartige Fächer mit je vier Propellers und sechs Pferdekraft damit beschäftigt, ebenso stark für Austreibung, wie ihre dampfgetriebenen Collegen für Eintreibung, zu sorgen. Das ist die Hauptsache bei aller Ventilation: Verbindung einer Einathmungs- und Ausathmungskraft. Von Natur ist die Luft trotz ihrer Lockerheit faul und läßt sich nur durch äußere Gewalt, so zu sagen, auf die Beine bringen.

Diese Ein- und Ausathmungsorgane bestehen aus Röhren, die in gerader Linie fünf englische oder mehr als eine deutsche Meile lang sein würden. Ueber das Baumaterial und die Construction wäre für Sachverständige noch viel zu sagen; wir machen’s mit noch einigen Hauptthatsachen ab. Der Hauptthurm, vierundzwanzig Fuß unter der Oberfläche auf einem soliden Steinblocke von sechsunddreißig Quadratfuß ruhend, steigt erst in zwölf Fuß dicken Mauern von hundertcentnerigen Steinböcken empor. Diese Dicke verringert sich allmählich auf sieben und endlich auf fünf Fuß, so daß der ganze Thurm blos in seinem Rohmaterial hundertsechszigtausend Centner wiegt. Das vortreffliche Baumaterial von Fels und Gestein war meist in nächster Nähe zu haben und wurde an Ort und Stelle [437] und durch riesige Dampfhebelkräfte für die gestaltende Hand des Meisters und seiner Gesellen immer an die geeigneten Stellen gehoben. So konnten etwa zwei und eine halbe Million Cubikfuß oder drei Millionen Centner riesige Steinquadern zu diesem Muster der Baukunst mit mehr als hundert einzelnen Abtheilungen, d. h. Sälen, Auditorien und Zimmern geschichtet und gedichtet werden. Und was für Auditorien und Säle! Man denke nur, daß sie von neunzehn bis zu fünfunddreißig Fuß Höhe und entsprechender Breite und Tiefe zu haben sind. Für sonstige musterhafte Solidität sorgen dreihundertsechszigtausend Centner Guß- und Schmiedeeisen, welche theils als Säulen, theils als Röhren, Bogen und Bindebalken angebracht sind.

Eine ungefähre Vorstellung von den Haupträumlichkeiten geben die Bibliothek, von hundertneunundzwanzig Fuß Länge und sechszig Fuß Breite, und die Centralhalle, welche ziemlich ebenso lang, dafür aber zehn Fuß breiter ist. Selbst die kleinsten Auditorien haben noch eine Länge von dreißig und eine Breite von mehr als zwanzig Fuß. Diese Angaben machen auf uns wenigstens den richtigen Eindruck von Herz und Sinn erweiternder Geräumigkeit, und wenn wir uns noch hinzudenken, daß durch ungefähr fünfzigtausend Geviertfuß von Fenstern das reichlichste Licht und durch den Ventilationsathmungsproceß ununterbrochen so viel reinste Luft aus der Höhe eindringt, daß Niemand die von einem Andern ausgeathmete Luft wieder für seine Lunge einzuziehen braucht, so werden wir zugeben, daß wir es hier mit einem Muster- und Meisterwerk für gemeinsame Cultur- und Wissenschaftszwecke zu thun haben. Solche Muster sollten für uns um so anregender sein, als es unseren öffentlichen Gebäuden und Versammlungstempeln aller Art noch fast durchweg an nur erträglichen Ventilationseinrichtungen fehlt, so daß die Leute aus Concerten, Theatern, Speise-, Trink- und Vergnügungslocalen immer schon deshalb mindestens mit Verstimmung und Kopfschmerz heimkehren, weil sie sich durch Athmung vergifteten. Vielleicht ist die Scharrath’sche Porenventilation, welche der Erfinder nach jahrelangen Opfern und Aergernissen wenigstens an einigen öffentlichen und Staatsgebäuden anbringen durfte, noch bestimmt und berufen, eine neue Aera in gesundheitlicher Baukunst zu begründen; für ganz große öffentliche Institute und monumentale Bauten ist aber dieses in der Glasgower Universität unter der Leitung des deutschen Ingenieurs W. Conradi zum ersten Male so großartig und segensreich durchgeführte System wegen der Sicherheit und Beständigkeit immerwährend zugfreier und frischer Zufuhr von erwärmter Luft im Winter und kühler im Sommer ebenfalls auf das Angelegentlichste zu empfehlen. Wie schon erwähnt, wollen zwei berühmte Professoren Berlins für ihre Auditorien und Laboratorien dieses System in Anwendung bringen lassen und traten zu diesem Zwecke mit W. Conradi in Verbindung. Hoffentlich ist inzwischen etwas daraus geworden, so daß wir annehmen dürfen, die gesundheitliche Baukunst werde auch in Deutschland durch erprobte Ventilationseinrichtungen endlich Eingang finden und Fortschritte machen. Freilich, leicht ist’s immer noch nicht, weil dazu höhere wissenschaftliche Baumeister und zugleich anständige, gebildete Bauspeculanten gehören.
H. Beta.