Ein Gedicht
[291] Ein Gedicht. (Zu dem Bilde S. 269.) Abschiednehmen im Frühling, wo rings die Hoffnung in Blüten steht, ist schwer; doppelt schwer, wenn einer ein verschwiegenes Herzenssehnen mit fort nehmen muß, weil er nicht weiß, ob es verstanden und erwidert wird. Die schönen sanften Augen haben nichts verraten, bald hoffte, bald zweifelte er, und nun ist die Abschiedsstunde da! Aber Liebe macht erfinderisch: nach der Sitte der Zeit hatte ihm die Holde ihr Stammbuch zur Einzeichnung gegeben und er erwartete sie hier an dem stillen Gartenende, um es in ihre Hand zurückzulegen. Lebhaft griff sie danach, sah beim Aufschlagen zwei Seiten frisch geschriebener Verse, ohne Autornamen – und trat errötend ein paar Schritte vor, um den Blicken des stillen Beobachters beim Lesen auszuweichen. Aber diese haften trotzdem fest an ihrer lieblichen Gestalt, und es dürfte ihr schwer werden, ihnen unbefangen zu begegnen, sobald sie das Buch sinken läßt. Im Gefühl davon hält sie es fest und zögert, obwohl das Gedicht längst gelesen ist. Was wird der nächste Augenblick bringen? . . Ringsum duftet und blüht der Frühling, das Plätzchen im grünen Laubschatten ist verschwiegen, und die Nachtigallen und Amseln werden sich nicht wundern, wenn jetzt ein erlebtes Gedicht dem geschriebenen auf dem Fuße folgt! Bn.