Ein Gang durch die Berliner Stadtvogtei

Textdaten
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Autor: Adolf Rutenberg
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Titel: Ein Gang durch die Berliner Stadtvogtei
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 46–49
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[46]
Ein Gang durch die Berliner Stadtvogtei.
Von Adolf Rutenberg.


Durch die Verhandlungen des Processes Arnim hat die Berliner Stadtvogtei ein weit über die Mauern der deutschen Reichshauptstadt hinausgehendes Interesse gewonnen, so daß einige Mittheilungen über diese Zwingburg des Verbrechens wohl zeitgemäß erscheinen dürften.

Im Herzen des alten Berlin, fast genau an jener Stelle, wo, den Ermittelungen unserer unermüdlichen Alterthumsforscher zufolge, die ersten Baracken des altwendischen Fischerdorfes gestanden haben, erhebt sich auf einem Terrain, dessen Flächeninhalt ungefähr dem des neuen Rathhauses gleichkommt, ein [47] Complex von Gebäuden, deren solide Bauart und verwitterte graue Tünche zwar den unauslöschlichen Stempel hohen Alters zur Schau tragen, die aber im Uebrigen durch ihr architektonisch unscheinbares Aeußeres und Inneres wenig von der Bedeutung verrathen, welche sie für die Geschichte Berlins und eines Theils seiner Bevölkerung gehabt haben und noch haben. Es sind die Gebäude Molkenmarkt Nr. 1, 2 und 3. Die Vorderfront derselben bildet einen stumpfen Winkel, dessen Spitze jener historischen Ecke der Poststraße, an welcher das älteste Städtewahrzeichen der deutschen Reichshauptstadt, die gewaltige Riesenrippe, befestigt ist, gerade gegenüberliegt. Nach der Bauart zu urtheilen, ist das Haus Nr. 1, das Polizeipräsidium, das älteste.

Das Criminalgericht wohnt in den Häusern Nr. 2 und 3. Man denke sich ein möglichst schlecht casernirtes Armenhospital einer mittleren norddeutschen Stadt, und man hat eine ungefähre Vorstellung von Nr. 2. Ein Eingang, über dessen Thür das „Lasset die Hoffnungen draußen!“ mit Recht stehen könnte, ein dunkler Flur, ein Hof, gerade groß genug, um eine Klafter Holz darauf klein zu machen, und eine schmale halsbrecherische Treppe aus Steinstufen – das ist der Empfang. Im Parterre befinden sich die Localitäten für das Polizeigericht. Es ist die Richtstätte der „Elenden“, der Parias unserer Gesellschaft, der Bettler und Landstreicher, die hier massenweise abgeurtheilt und sofort zur Verbüßung der Strafe nach dem Arbeitshause dirigirt werden. Es giebt wohl in deutschen Landen keinen Beamten, der von dem pessimistischen Hauche des Jahrhunderts in crasserer Weise berührt würde, als der Berliner Polizeirichter. So viel Anhäufung von Verkommenheit, thierischer Stumpfheit und Verleugnung aller Menschenwürde findet sich an keinem andern Orte.

In den obern Etagen des Gebäudes weht eine etwas reinlichere Luft. Hier sind die Bureaus und Canzleien der Gerichtsdepuationen. Die Zimmer des obersten Stockwerks – aus früheren Bodenräumlichkeiten entstanden – werden als Verhörsstube benutzt. Es sind niedrige kleine, in der dürftigsten Weise möblirte Räume, welche mehr den Eindruck von Gefängnißzellen, als von Amtslocalen machen. Beim Betreten derselben fragt man sich unwillkürlich: was haben die Richter, welche hier ihre Termine abhalten, verbrochen, um in einer solchen Luft athmen zu müssen? Die Einrichtung ist so, daß auf manchen Fluren während des ganzen Sommers Gas gebrannt werden muß, daß man im Winter, wenn man nicht ersticken will, genöthigt ist, bei offenen Fenstern zu arbeiten.

Das Gebäude Nr. 3 mit seiner zwar etwas düsteren, aber nicht abstoßenden Vorderseite mit dem officiellen Balcone zum Nichtgebrauche bildet den eigentlichen Mittelpunkt der Criminalrechtspflege. Es ist nicht ohne Geschmack, sogar mit einigem Luxus angelegt. Im Parterre ist die Residenz des Staatsanwalts; große, hohe Zimmer, aber lange nicht geräumig genug, um allen Anforderungen zu entsprechen. Die Ruhe und Ungestörtheit, welche die schwierige Arbeit des Staatsanwalts vor allen Dingen zu erfordern scheint, sucht man hier vergebens. Dazu gehörte, daß jedem Beamten ein eigenes Zimmer zugewiesen wäre, während der jetzige Zustand, wo vier bis fünf auf denselben Raum angewiesen sind, geradezu unerträglich ist.

Der große Audienzsaal, der einzige seiner Art, ist in der ersten Etage gelegen. Hier finden wir an Tagen, wo Verhandlungen von allgemeinem Interesse stattfinden, außer dem gewöhnlichen Stammpublicum, auch die Herren Vertreter der Berliner Presse. Man hat es sich in der letzten Zeit angelegen sein lassen, den geplagten Reportern die Erfüllung ihres in mancher Beziehung wohl dornenvollen Berufs durch einige Bequemlichkeit zu erleichtern. Sie brauchen nicht mehr im Stehen auf dem Rücken ihres Vordermannes zu schreiben; sie sind auch nicht mehr genöthigt, wegen Sicherung eines Platzes mit den „Criminalstudenten“ an der Thür des Zuhörerraumes Queue zu machen. Sie haben ihren eigenen Journalistentisch und können gehen und kommen, wenn sie wollen, ohne befürchten zu müssen, „wegen Mangels an Raum“ nicht mehr zugelassen zu werden.

Wenn wir nun die breite Treppe zum zweiten Stockwerke des Hauses Nr. 3 hinaufsteigen, so gelangen wir zu dem Bureau und dem Terminszimmer des Untersuchungsrichters. Es fehlt auch hier an aller und jeder Bequemlichkeit. Jeder Schmuck und jede Zierde ist mit einer übertriebenen Aengstlichkeit vermieden. Der Zusammenhang dieser Gerichtslocalitäten mit den Gefängnißräumen wird hergestellt mittelst eines Verbindungsganges, der eine hinreichende Garantie dafür gewährt, daß der verhaftete Angeschuldigte dem Untersuchungsrichter vorgeführt werden kann, ohne mit der Außenwelt in irgend welche die Führung der Untersuchung gefährdende Berührung zu kommen. Er führt nämlich direct in die Räume des Stadtvogtei-Gefängnisses. Der Verhaftete hat also bei seinem Gange aus der Gefängnißzelle in das Gerichtszimmer nur eine Postenkette von Aufsehern und Gerichtsdienern zu passiren, welche alle seine Bewegungen controliren und jeden Versuch, etwa einem gleichzeitig vorgeführten Mitgefangenen oder einer anderen Person, die sich zufälliger Weise auf dem Verbindungsgang aufhalten könnte, etwas zuzustecken oder auch nur zuzuflüstern, sofort vereiteln oder zur Anzeige bringen können. Wenn trotzdem sehr viele Gefangene von Allem, was außerhalb der Gefängnißmauern im Bereiche ihrer Interessen geschieht, oft genauer unterrichtet sind, als der die Untersuchung führende Richter, wenn die schönsten Ergebnisse der complicirtesten Beweisaufnahme an den Gegenwirkungen eines erkauften oder erschwindelten Alibibeweises oder an sonstigen sträflichen Umtrieben der eng zusammenhaltenden Gaunergesellschaft scheitern, so liegt dies einmal an der draußen und drinnen mangelnden Zuverlässigkeit des Aufsichtspersonals, die nur durch energische Gehaltsaufbesserung annähernd erreicht werden könnte, und zweitens an der Lage des Gefängnisses.

Das große unregelmäßige Viereck, auf welchem die Stadtvogtei erbaut ist und dessen Vorderfront durch die geschilderten Gebäude, Molkenmarkt Nr. 1, 2 und 3, begrenzt wird, ist nach der Südseite zu, wo die Spree ihre schmutzigen Fluthen der Königlichen Mühle zuwälzt, offen. Die Gefangenen, welche in den nach dieser Seite hinaus belegenen Zellen untergebracht sind, können sich – allerdings nur mittelst Zeichen und Geberden – mit solchen Personen, welche auf dem jenseitigen unbebauten Spree-Ufer stehen oder auch mit einem Kahn an das diesseitige Ufer herankommen, ganz vortrefflich unterhalten und verständigen. Daß dies in ausgedehntestem Maße geschieht, braucht wohl kaum erwähnt zu werden. Auch die Ostfront der Stadtvogtei, nach dem sogenannten Krögel zu belegen, ist nicht gehörig abgeschlossen. Der Krögel ist eine schmale Gasse, deren eine Seite durch die Höfe, respective Gebäude des Criminalhauses und des unmittelbar daran grenzenden Gefängnisses gebildet und begrenzt wird. Auf der andern Seite ist eine Flucht von Gebäuden, die von einer Masse kleiner Leute bewohnt werden. Auch hier ist also gegen die Möglichkeit einer Verbindung mit der Außenwelt von den Fenstern der einzelnen Gefängnißzellen aus, welche meistentheils nach dem Krögel zu liegen, keine genügende Sicherung getroffen.

Als ein dritter Umstand ist endlich die innere Einrichtung des Stadtvogteigefängnisses zu erwähnen. Dasselbe dient zwar, nach Vollendung des Prachtbaues am Plötzensee und nachdem man für die weiblichen Gefangenen in dem in der Barnimstraße belegenen früheren Schuldgefängnisse Raum geschafft hat, vorwiegend nur noch als Arrestlocal der männlichen Untersuchungsgefangenen, deren Zahl sich durchschnittlich auf vierhundert bis sechshundert beläuft. Allein trotz der erheblichen Raumvermehrung ist die Unzulänglichkeit der vorhandenen Einrichtungen immer noch eine sehr fühlbare. Der Grund liegt darin, daß bei Erbauung des Gefängnisses die Einwohnerzahl Berlins kaum den zehnten Theil ihrer jetzigen Höhe erreicht hatte. Damals mochte der Bau, dessen Terrain ein so engbegrenztes ist, daß man ihn nur durch Aufsetzen von Etagen erweitern konnte, den Ansprüchen der Residenz wohl in mehr als ausreichendem Maße genügen. Jetzt, bei der vergrößerten Einwohnerzahl, liegt die Sache selbstverständlich anders.

Die Untersuchungshaft bezweckt in den meisten Fällen nur den vollständigen Abschluß von der Außenwelt; aber sie darf in keinem Falle eine willkürliche Erschwerung der Lebenslage des Gefangenen enthalten. Denn der Verhaftete kann unschuldig sein, und den Schaden, der ihm durch die Dauer der Haft an Ehre, Vermögen und Gesundheit zugefügt wird, ersetzt ihm ohnehin Niemand. Man erleichtere ihm also sein Loos nach Möglichkeit. Man sorge für eine angemessene Beschäftigung, für freie Körperbewegung in frischer Luft und gestatte selbst eine mäßige Geselligkeit. Der Tact des Gefängnißdirectors muß hier freilich das Beste thun. Einen unverbesserlichen Zuchthäusler mit Glacéhandschuhen anzufassen, verbietet sich von selbst. Wer [48] aber weiß, wie wenig dazu gehört, daß ein unbescholtener Mensch plötzlich in die Kategorie der „bestraften Subjecte“ übergehe, wer sich jemals einen Einblick verschafft hat in die Methode, welche von gewissenlosen Denuncianten angewendet wird, um ihre vermeintlichen Rechte vor dem Criminalrichter zu verfolgen, der wird mit mir in die Parole einstimmen: Aufbesserung der Lage der Untersuchungsgefangenen durch Verkürzung der Haft und Herstellung anständiger Arrestlocale.

Die Stadtvogtei läßt, wie gesagt, im Punkte der innern Einrichtung viel zu wünschen übrig. Die Zellen sind so schlecht gelegen, daß eine Ventilation bei den meisten in das Bereich der Unmöglichkeit gehört. Und nun oft zwölf bis fünfzehn Personen in einem Zimmer! Berührt man diese Frage, so ist sofort die Antwort in Bereitschaft: Die Leute sind es nicht besser gewöhnt. Die meisten sind froh, daß sie eine Schlafstelle und ihr auskömmliches Essen haben. Mehr verlangen sie nicht. Das ist einfach sophistisch. Man frage der Reihe nach bei den Gefangenen herum, und man wird von der weitaus größten Mehrzahl den Wunsch hören, „die Untersuchung von draußen abzumachen“. Ein ganz kleiner Bruchtheil verkommener, altersschwacher oder kränklicher Subjecte stiehlt, um wenigstens im Winter ein warmes Zimmer zu haben. Den Anderen ist der Genuß der Freiheit mehr werth, als alle scheinbaren Comforts der Gefängnißzellen.

Für die Bevölkerung der „Riesenburg“ (das ist der Spitzname des Hauptgebäudes der Stadtvogtei) sorgt selbstverständlich am meisten das eigentliche Gaunerhandwerk, die Berliner Spitzbubenzunft. Das Verbot der „rechtswidrigen Zueignung fremder beweglicher Sachen“ ist zu allen Zeiten und bei allen Völkern am häufigsten übertreten worden, und die modernen Großstädte, wie sie in allen das Wohl der Menschheit betreffenden Hauptfragen vorangehen, bieten auch die bereitesten Mittel und Wege dar, den Krieg gegen das Eigenthum bis zum Aeußersten zu führen und manches schätzbare Material für die Lösung der socialen Frage zu gewinnen. Von zehn verhafteten Personen stehen gewiß sieben unter der Anschuldigung des Diebstahls, und von diesen sieben gehören sicherlich vier zur Classe der sogenannten Hausdiebe. Es ist erstaunlich, in welch rapider Art und Weise dieses sociale Ungeziefer unserer Hauptstadt sich vermehrt hat. Man wird mich der Schwarzseherei und der Uebertreibung beschuldigen, wenn ich sage, daß ein ehrlicher Dienstbote und ein getreuer Commis im engern Weichbilde Berlins fast ebenso selten sind, wie vor zwei Jahren ein Hausbesitzer, der wenigstens nicht vorübergehend die Absicht gehabt hätte, sein Haus zu verkaufen. Wer aber die Verhandlungen des Criminalgerichts, über welche die „Gerichtszeitung“ und die „Tribüne“ referiren, fleißig liest, wird mir Recht geben. Und doch kommt vielleicht nur die Hälfte der Hausdiebstähle zur Anklage und gerichtlichen Entscheidung; in ebenso vielen Fällen wird der Strafantrag vor Erhebung der Anklage zurückgenommen.

Ich kann aber die Ansicht Derer nicht theilen, welche behaupten, das Ueberhandnehmen der Hausdiebstähle habe in der mangelhaften Besoldung unserer Dienstboten seinen Grund. Eher könnte die zu humane Behandlung und die zu große Selbstständigkeit, welche unsere „dienstbaren Geister“ sich angemaßt haben, einen Theil der Schuld daran tragen. In der Hauptsache scheint mir hier die Theorie von der „Epidemie“ Platz zu greifen. Der Dienstbotenübermuth grassirt gegenwärtig, wie vor etwa einem Jahre das „Messern“ grassirte. Dank den verschärften Maßregeln, welche von der neuen Aera unserer Criminalrechtspflege ausgegangen sind, ist der Messerheld bis auf einen kleinen Rest Unheilbarer ausgerottet oder doch so eingeschüchtert, daß er in Erwartung besserer Zeiten vorläufig die Waffe ruhig in der Hosentasche läßt. Schwieriger dürfte der Kampf gegen den Hausdieb sein. Das einzige sichere Mittel, ihm die Absatzquellen für das gestohlene Gut zu verstopfen, würde einen neuen Paragraphen des Strafgesetzbuchs erfordern. Denn der alte criminalrechtliche Begriff, wonach „wer Sachen kauft, von denen er weiß, daß sie aus einem Diebstahle herrühren“, sich der Hehlerei schuldig macht, enthält eine so feine Unterscheidung zwischen erlaubtem und unerlaubtem Handel, daß ein Geschworenengericht nur in äußerst seltenen Fällen einen nicht geständigen Hehler verurtheilen wird.

Es ist mir aber in meiner Praxis noch nicht vorgekommen, daß eine der Hehlerei beschuldigte Person zugegeben hätte, von dem unredlichen Erwerbe eines in ihren Besitz gelangten Gegenstandes Kenntniß gehabt zu haben. Die sogenannten Productenhändler, kleine Handelsleute, die Alles kaufen, was nur die entfernteste Aussicht hat, in gewinnbringender Weise weiterverkauft zu werden, würden gar nicht bestehen können, wenn sie jeden ihnen zum Verkauf offerirten Gegenstand einer so mikroskopischen Prüfung unterziehen wollten, wie das Gesetz sie zu erfordern scheint. Es hieße also dem kleinen Manne eine, wenn auch etwas trübe, so doch ziemlich nahrhaft fließende Lebensquelle verstopfen, wollte man ein strenges Gesetz gegen die Hehlerei in ihrer untergeordnetsten Bedeutung erlassen. Etwas Anderes dagegen ist es mit jenen gewerbsmäßigen Diebeshehlern („Schärfern“), welche in der Regel mit ziemlich bedeutenden Capitalien arbeiten und die im Besitze einer die Leistungen unserer Theater-Maschinisten tief in Schatten stellenden Verschwindungsmechanik sind.

Es wird hier nicht nach Minuten, sondern nach Secunden gerechnet. Apparate zur Einschmelzung von Gold- und Silbersachen, bei denen der Hauptwerth nicht in der Form liegt, stehen zu jeder Zeit bereit, ebenso Fuhrwerk, vermöge dessen Gegenstände, die am Platze nicht unterzubringen sind, sofort die Reise in das Ausland antreten. Andere Absatzquellen bieten die Werkstätten der kleinen Handwerker, von denen die „Schärfer“ immer eine beliebige Anzahl an der Hand haben. Genug, der Schmuggelhandel blüht dicht unter den Fenstern der hohen Obrigkeit.

Um von der Technik, mit welcher sich diese Leute in die Hände arbeiten, nur einen kleinen Begriff zu geben, will ich einen Fall erzählen, der vor etwa zwei Jahren in den betheiligten Kreisen nicht unbedeutendes Aufsehen erregte.

Eine Dame von nicht ganz tadellosem Ruf, die sich aber in ihrem bewegten Leben eine große Fertigkeit in der Kunst, das Vertrauen anderer Menschen zu gewinnen, erworben hat, macht die Runde bei unseren Pianoforte-Fabrikanten, stellt sich denselben – versteht sich, in jedem Falle unter anderem Namen – als eine strebsame Clavierlehrerin vor und bittet, ihr gegen Unterschrift und Miethscontract, ein Pianino oder Clavier in die von ihr angegebene Wohnung zu verabfolgen. Bei etwa einem Dutzend unserer renommirtesten Instrumentenmacher gelingt ihr dies. Sie weiß die Leute derart für sich einzunehmen, daß auch nicht einer nur den geringsten Zweifel in die Reellität ihrer Absichten setzt. Sie bezahlt die erste Miethsrate im Betrage von einigen Thalern und unterschreibt die ihr vorgelegten Contractsformulare. Inzwischen hat sie sich zwölf verschiedene Quartiere gemiethet und in jedes dieser Quartiere wird eines der gemietheten Pianinos dirigirt. Dort bleibt es vielleicht einen halben oder ganzen Tag stehen und verschwindet dann auf Nimmerwiedersehen. Mit ihm die strebsame Musiklehrerin. Wenn nach einigen Wochen die Herren Verleiher kommen, um sich nach dem Befinden ihrer Instrumente zu erkundigen, schwimmen diese bereits auf dem atlantischen Ocean oder werden in einer musikliebenden Stadt Schwedens oder Norwegens bearbeitet, wohin stets ein lebhafter[1] Handel mit Instrumenten aller Art stattfindet.

Dieser Betrugsfall hat an und für sich nichts Außergewöhnliches; denn es ist die Regel, daß das Verleihen von Instrumenten ohne Caution stattfindet. Der Verleiher begnügt sich damit, das Quartier zu recognosciren, wohin das Instrument geschafft wird. Und unsere Dame hatte in dieser Beziehung dafür gesorgt, daß selbst strengere Ansprüche befriedigt wurden. Das Ungewöhnliche des Falles liegt in gewissen Nebenumständen. Die musikalische Spitzbübin war eine im letzten Stadium der Schwindsucht stehende Person; sie starb bald nach ihrer Einlieferung in das Gefängniß. Sie mußte sich also bei Ausführung ihrer Manipulationen, deren Schnelligkeit und Zweckmäßigkeit in die Augen springt, eines zahlreichen Hülfspersonals bedienen, ohne diese doch in ihren eigentlichen Plan einzuweihen. Und dann ist zu berücksichtigen, daß sie die Zeit eigentlich schlecht gewählt hatte – es herrschte damals gerade die größte Wohnungsnoth in Berlin, und es war die Blüthe der Wintersaison, wo bekanntlich die Pianoforte-Verleiher sich ihre Leute doppelt genau ansehen.

Dergleichen Hindernisse von einer Person bewältigt zu sehen, welche bei jedem Schritt, den sie macht, von einem convulsivischen Husten durch und durch geschüttelt ward, hätte unter anderen Umständen einen erhabenen Eindruck machen können. In unserm [49] Falle erhielt man einen Einblick in das Getreibe einer Gaunergenossenschaft, von denen nur der Hauptvertreter zur Anklage gezogen wurde, aber wegen Mangels eines Beweises freigesprochen werden mußte. In diese Wespennester mit gewaffneter Hand einzugreifen, nützt in der Regel Nichts; an der einen Stelle zerstört man sie, an einer andern versteckteren kommen sie wieder zum Vorschein. Aber ein wesentliches Organ fehlt unserer Criminalpolizei, das Organ der Vigilanz, oder mit anderen Worten: es fehlt an solchen Beamten, welche ein Gewerbe daraus machen, verdächtigen Personen auf Schritt und Tritt zu folgen und wenn nicht die Ausführung eines Verbrechens zu verhindern – was keineswegs immer im Interesse der öffentlichen Sicherheit liegt – so doch den Verbrecher auf der That zu ertappen und den Braten „noch warm“ an die Criminalbehörde abzuliefern.

Ich sagte oben: es bestände eine Theorie von der Epidemie bestimmter Verbrechen. Leider hat diese Theorie eine sehr praktische Seite. In einer großen Stadt, wie Berlin, wo die moralische Ansteckung mindestens ebenso große Verheerungen in den Gemüthern anrichtet, wie die physische in den Körpern, wo außerdem Mangel und Noth, in unmittelbarer Berührung mit Ausschweifung und Luxus, in Tausenden von menschlichen Gehirnen jene phosphorescirende Intelligenz erzeugen, welche nur nach den Grundsätzen des Egoismus und der Habsucht verfährt, ist es unausbleiblich, daß eine gewisse Kategorie halb verbrecherischer, halb ehrlicher Nahrungszweige jene problematischen Existenzen an sich zieht, die, von einer unwiderstehlichen Sucht, schnell reich zu werden, getrieben, mit einem weiten Gewissen einige Schlauheit und sehr viel pöbelhafte Frechheit verbinden. Zu dieser Sorte „eleganter Verbrecher“ gehörte vor Zeiten der Erfinder des „Kümmelblättchens“, auch Bauernfänger genannt, obgleich er weniger unter unsern braven Landsleuten, als unter Russen und Brasilianern seine ersprießlichsten Bekehrungsversuche bethätigte. Gegenwärtig ist die Glanzperiode des Kümmelblättchens und seiner Anhänger wohl vorüber. Die Helden der drei Räthselkarten sind entweder unter die kleinen Gründer gegangen oder haben ein anderes Gewerbe ergriffen, das seinen Mann nährt.

Als ein solches hatte vor Jahr und Tag der sogenannte Stellenvermittelungsschwindel ein gewisses Renommée erlangt. Es gehören zwei oder drei gute Freunde zu dieser bekannten Industrie-Branche,[2] welche viel Aehnlichkeit mit dem Bauernfang hat, vor diesem aber durch geringere Gefährlichkeit und größere Ergiebigkeit den Vorzug verdient. Es miethet Jemand in einer möglichst frequenten Stadtgegend ein trauliches Hinterstübchen, welches er mit einem Stehpult aus Fichtenholz und einigen birkenen Stühlen möblirt und das er „Bureau für Stellenvermittelungen“ oder auch „bureau de placement“ benennt. Der Betreffende ist selbstverständlich im Besitze einer ordentlichen polizeilichen Concession und überhaupt ein Mann, dessen äußere Erscheinung eine entschieden Vertrauen erweckende Wirkung hervorbringt. Eine künstliche Körperrundung, eine große Stahl- oder Hornbrille, eine nicht übertrieben altväterische Kleidung und eine schwere, wenn auch nicht immer echte Uhrkette vervollständigen sein solides Aeußere.

Dieser Mann besucht zu einer bestimmten Tageszeit, meistens kurz nach dem Erscheinen der Abendzeitungen, irgend ein seinem Bureau benachbartes Bierlocal oder eine nahe Conditorei, wo er sich auf das Angelegentlichste mit dem Studium der „Tante Voß“ und des „Intelligenzblattes“ beschäftigt. Als Resultat dieser Beschäftigung bringt er einen Zettel mit nach Hause, auf den er die in den beiden Blättern annoncirten Stellenvacanzen notirt hat. Den Zettel übergiebt er einem schäbig gekleideten Schreiber, der an dem fichtenen Stehpulte des Vormittags über Federn zugeschnitten hat und der sich jetzt mit Lust und Eifer darüber hermacht, die „Aufträge“ seines Principals in ein ungeheuer großes Buch mit kalligraphischer Ausführlichkeit zu übertragen.

Durch verführerische, aber vorsichtig abgefaßte Annoncen angelockt, erscheint nun das Heer der stellensuchenden Provinzialen, welche nach Berlin gekommen sind, um dort ihr Glück zu machen. Diese Leute sind meistens von einer wahrhaft polizeiwidrigen Unkenntniß der Dinge. Hätten sie nur eine entfernte Ahnung von den Schwierigkeiten, welche gegenwärtig mit der Erlangung einer auskömmlichen Stellung in der deutschen Metropole verbunden sind, so würden sie die Idee, daß Jemand ihnen für zwei Thaler „Einschreibegebühren“ eine vortreffliche Versorgung zu verschaffen im Stande sein soll, von vornherein auf den Kehrichthaufen der Illusionen werfen. Aber von Illusionen lebt ja bekanntlich der Mensch und der Stellenvermittler erst recht. Er schickt den heißhungrigen Provinzialen überall dorthin, wo vor zwei oder drei Tagen ein Hausdiener oder „ein zuverlässiger Mann, der zweihundert Thaler Caution bestellen kann“ oder ein dito Lagerverwalter gesucht wurde. Besonders die letztgedachte, vielbedeutende Stellung gehört zu den beliebtesten Lockspeisen. Die Vacanzen sind nun entweder inzwischen schon besetzt, oder Demjenigen, der die Stelle zu vergeben hat, paßt der neue Ankömmling schon aus dem einfachen Grunde nicht, weil der Unglückliche als einzige Reverenz den Namen des übelberüchtigten Stellenvermittlers nennt. Ist der „Freier“ genug abgehetzt und fängt er an, ungeduldig zu werden, so wird ihm nunmehr die eigentliche Tarnkappe des Allewerdens über die Ohren gezogen.

Der Principal hat nämlich einen oder zwei gute Freunde, Besitzer sehr einträglicher Geschäfte in den besten Stadttheilen, welche zu jeder Zeit Jemand gebrauchen können, der als Einlage in das Geschäft einige hundert Thaler bezahlt und dafür die ausschweifendsten Rechte eines stillen Compagnons erlangt. Es wird also ein anderer Contract entworfen, in welchem einer der guten Freunde als der eine und der Sohn der Provinz als der andere Contrahent fungirt. Jeder der Contrahenten erhält ein Exemplar dieses Schriftstücks; die Baarschaft des rotwangigen Kindes der Unschuld wandert in die Taschen der beiden Biedermänner, welche natürlich auf gemeinsame Rechnung arbeiten, und, wenn die „Illusion“ auch vielleicht noch einige Tage anhält, die Wahrheit ist in der Regel so nüchtern und grob, daß sie sich auch dem unverbesserlichsten „Illusionär“ fühlbar macht. Im besten Falle ist zwar in einer Winkelgasse der City ein kleiner schmutziger Laden gemiethet, in welchem von dem Biedermann Nr. 2 ein kümmerlicher Kleinhandel mit Cigarren und Tabak betrieben wird. Aber selbst die mit vergoldender Tinctur reich begabte Phantasie unseres Neu-Engagirten vermag die betrübende Thatsache, daß sämmtliche Vorgänger seines Principals in dem Laden Bankerott gemacht haben, und daß die Leitung des Geschäfts wesentlich im Aufrauchen des geringen Cigarrenvorraths besteht, in keinem andern Lichte zu erblicken als dem der absolutesten Hoffnungslosigkeit. Da der Principal nie zu Hause ist – er hat vorläufig genug zu thun, um die Einlage seines jungen Mannes mit guten Freunden zu verjubeln – so tritt eines schönen Tages die Furie der Rache in das verlassene Local und treibt den betrogenen Jüngling auf das nächste Polizeibureau.

Anmerkungen (Wikisource)


  1. Vorlage: "lehafter"
  2. Vorlage: „Industie-Branche“