Ein Gang auf den Neuen Friedhof zu Leipzig
Auf dem Gefilde der großen Völkerschlacht, nahe der Stelle, von welcher aus Napoleon seine Heeresmassen leitete, liegt der Neue Leipziger Friedhof. Es ist eine durch des Menschen Lust am Leben sehr erklärliche Erscheinung, daß man sich von den Grabstätten der Todten, die uns zu gewaltig an die eigene Hinfälligkeit mahnen, lieber fern hält. Wenn uns auch der mittelalterliche Aberglaube, welcher die Kirchhöfe als geisterhafte Spuk- und Schauerplätze bezeichnete, nicht mehr anhängt, zumal die moderne Gesundheitspolizei solche Orte dem belebten Tagesverkehre ferner gerückt hat, so fühlt doch Mancher, mag er es eingestehen oder nicht, ein unheimliches Schauern beim Anblicke des Gottesackers und wendet seine Blicke und Schritte lieber schneller von dannen. Wir geben gern zu, daß ein überschwänglicher Hang zur Romantik dazu gehört, den Gottesacker vorzugsweise zum Spaziergang zu erwählen, indessen der zeitweilige Besuch eines denkwürdigen Friedhofs hat immerhin Nutzen für unsere sittliche und ästhetische Bildung. Nur ein völlig rohes und verstocktes Herz kann sich der innern Sammlung des Gemüths, welche die Erinnerung an die Todten erzeugt, völlig verschließen. Diese Erinnerung aber bildet einen wohlthätigen und reinigenden Gegensatz zu dem gewöhnlichen Treiben des Tages. Wir empfanden dies beim Anblicke der freundlichen Gärten, welche den Neuen Friedhof bilden. Der alte sogenannte Johanniskirchhof, welcher in der Dresdner Vorstadt liegt und zahlreichere Denkwürdigkeiten enthält, wird seit 1850 abgetragen, weil bei der fortschreitenden Ausdehnung der Vorstädte seine jetzige, den Wohnungen zu nahe gerückte Lage die Gesundheit der Anwohner benachtheiligt. Der neue, etwa eine halbe Stunde von der innern Stadt am Thonberge gelegene Begräbnißplatz faßt einen Flächenraum von fast 150,000 Quadrat-Ellen und besteht aus drei großen Abtheilungen, von denen die letzte erst neu angelegt und noch unbesetzt ist. Grüne, mit Blumen geschmückte Rasenhügel, einfache Kreuze und reiche Denksteine bezeichnen die Grabstätten.
Ein einfacher Würfel von bläulichem schlesischen Marmor, umgeben von einem Eisengitter, in der rechten Mitte der ersten Abtheilung deckt das Grab des Kaufmann Schletter, eines eifrigen und über Leipzigs Marken hinaus wohlbekannten Kunstmäcens, welcher 1853 starb und der Stadt Leipzig seine werthvolle, namentlich an Gemälden der neueren französischen Schule reichhaltige Kunstsammlung unter der Bedingung vermachte, daß die Stadt binnen fünf Jahren ein zur Aufnahme dieser Kunstschätze bestimmtes Museum erbauen sollte. Dieses stattliche Gebäude, nach einer Zeichnung des Prof. Lange in München auf dem Augustusplatze der Universität gegenüber ausgeführt, ist bereits seit 1858 eröffnet.
Dem Schletter’schen Würfel gegenüber, in der Mitte der linken Hälfte derselben Abtheilung, befindet sich die Ruhestätte eines andern Leipziger Patriciers, des Rathsherrn Stieglitz, vorzugsweise bekannt als Erbauer eines am Marktplatze gelegenen Hauses, Stieglitzens Hof.
Am Eingange in die zweite Abtheilung zeichnen sich durch architektonische Schönheit zwei von Sandstein aufgeführte Wandstellen vortheilhaft aus: rechts im byzantinischen Styl die der Familie Sellier, links die von Troost-Simons. Ueberhaupt ist dieser Friedhof reich an plastischen Kunstwerken, welche von der Pietät gegen Verstorbene, wie besonders von dem Kunstsinne und künstlerischer Tüchtigkeit ein gleich rührendes Zeugniß ablegen.
Besonders bemerkenswerth in dieser Hinsicht ist die in der
[245]zweiten Abtheilung befindliche, unmittelbar hinter der Sellier’schen Grabstelle gelegene Ruhestätte der Familie Haugk, deren noch lebender Gründer hier eine der bedeutendsten Hutfabriken besitzt. Unter einem von vier römischen Säulen getragenen Architrav, verziert durch eine Vase, steht eine aus Sandstein gemeißelte Christusstatue, das Kreuz haltend. Die Figur ist ein Werk des hier lebenden Bildhauers Knaur, desselben, der die Leibnitz-Statue in der Aula der Universität Leipzig und die italienische Malergeschichte als Fries im Treppenhause des Dresdner Museums ausgeführt hat. Die Zeichnung der Haugk’schen Grabstelle ist vom Architekt Mothes in Leipzig, und die Steinmetzarbeit von dem Steinmetzmeister Einsiedel daselbst. Die vielfachen Arbeiten des Letzteren, eines würdigen Vertreters des Steinmetzgewerkes, verdienen besondere Aufmerksamkeit. Die vielen schönen, meist in Form gothischer Kapellenportale aufgeführten Familienbegräbnisse auf dem Neuen Friedhofe sind fast ohne Ausnahme aus der Einsiedel’schen Werkstatt hervorgegangen und legen ein sprechendes Zeugniß dafür ab, daß die künstlerische Ausbildung des Steinmetzgewerkes, eines alten Kunsthandwerkes, welches seit dem 16. Jahrhundert etwas in Verfall gerathen war, in der Neuzeit wieder den alten Aufschwung und die früher gerühmte Tüchtigkeit zu erlangen strebt, welche wir in den großen Werken der mittelalterlichen Baukunst zu bewundern pflegen. Die sauberen Sandsteinarbeiten an dem Museum auf dem Augustusplatze sind ebenfalls in der rührigen und bedeutenden Werkstatt des genannten Meisters ausgeführt worden.
Durch Schönheit der Zeichnung und Feinheit der Ausführung zeichnen sich noch die Grabstellen der Familie Teubner (auf der rechten Seite der zweiten Abtheilung, kenntlich durch die in Sandstein sehr zierlich ausgeführten Buchdrucker-Embleme), Dürr und Böhme (auf der linken Seite) vortheilhaft aus. Inmitten der Wandfläche derselben Abtheilung ist die Begräbnißstätte des verstorbenen Kramerconsulenten Dr. Mothes, eines bekannten Leipziger Sachwalters, dessen Brustbild en relief von dem erwähnten Bildhauer Knaur ausgeführt ist.
Ein einfaches weißes Marmorkreuz auf Sandsteinpostament am Ende der zweiten Abtheilung bezeichnet das Grab eines Mannes, der die hohe Achtung der Mitwelt in vollstem Maße verdiente und genoß, und den die Nachwelt zu den wackersten Rüstzeugen des evangelischen Glaubens zählen wird, des Superintendenten Dr. Großmann. Das Denkmal, welches der Gustav-Adolph-Verein seinem Gründer zu errichten beabsichtigte, hat die Großmann’sche Familie im Sinne des Verstorbenen, der jeden Prunk verschmähte, abgelehnt. Die Erinnerung an den wahrhaft großen Mann, dessen Gediegenheit des Charakters und des Wissens in seiner ehrwürdig schönen und kräftigen Gestalt uns wiederum lebendig vor die Seele trat, versöhnte wohlthuend mit den trauernden Anklängen, welche der Gedanke an manchen Freund, der früh hier zur Ruhe gebracht worden war, in uns erregt hatte.