Ein Frühlingsgang nach Sesenheim
Das anmuthigste aller Liebesverhältnisse Goethe’s ist unstreitig jenes, das aus der jugendlichen Neigung des Dichters zur schönen Pfarrerstochter von Sesenheim im Elsaß entsprang. Wenn auch die Liebe zu Charlotte Buff am meisten bekannt geworden ist, indem sie zu dem Evangelium aller unglücklich Liebenden, zu Werther’s Leiden, Anlaß gab, so ist es doch eben diese Berühmtheit, diese Übertragung in einen Roman, die dem wirklichen Verhältnisse Eintrag gethan und einigermaßen den Blumenstaub von der Blüthe gewischt hat. Lili ferner war gewiß ein reizendes Mädchen, aber eine Puppe voll koketter Launen. Frau von Stein – war eben Frau von Stein; die Unnatürlichkeit dieses Verhältnisses und der Streit gegen die Gesetze der Gesellschaft, der darin gegeben war, verurtheilen es. Christiane Vulpius, später Goethe’s Gattin, war gut und anhänglich, allein ein besonderer Zauber geht von ihrem Bilde nicht aus. Endlich, was soll man zu jener Marienbader Leidenschaft des vierundsiebzigjährigen Greises sagen? Giebt sie auch von dem jung gebliebenen Herzen des Dichters und von seiner lange wohlerhaltenen Kraft das beste Zeugniß, so fordert sie doch unwillkürlich zu dem Rückschlusse auf, wie so ganz anders ein Mann in voller Jugendkraft geliebt haben muß, der noch am Abend seines Lebens so feurig zu fühlen vermochte!
Eine solche Jugendliebe, naturwüchsig und echt, ist die zu Friederike Brion, und sie gewinnt an Reiz durch den Kranz frischer Feldblumen, der sich gleichsam um sie flicht. Wenn Lili, die Frankfurter Banquierstochter, ihren Freund oft „beim Spieltisch unerträglichen Gesichtern gegenüberstellte“ – ziehen dagegen dort die beiden Liebenden durch die weiten Fluren, und Friederike singt ihm ihre lustigen Liedchen:
„Vom Wald bin ich ’kommen, wo’s stockfinster is,
Und ich lieb Dich von Herzen, das glaub mir gewiß;
Und da lacht er, da lacht er, der schelmische Dieb,
Als ob er nicht wüßte, daß ich ihn lieb’.“
Friederike war eben durch und durch Natur: ein tiefes, reiches Gemüth, gebildet genug, um für alles Schöne und Gute empfänglich zu sein und das Rechte überall fein zu fühlen; von Sentimentalität freilich wußte sie nichts.
Dieses edle Mädchen nun lernte Goethe kennen, als er im Jahre 1770, während er in Straßburg die Rechte studirte, von seinem Studienfreunde Weyland zu einem Ausfluge nach Sesenheim aufgefordert und im Pfarrhause daselbst eingeführt wurde. Es war einer der ersten schönen Octobertage, als die Beiden zu Pferde in Sesenheim anlangten, Goethe, seiner Freude an Verkleidungen folgend, incognito, als ärmlicher Student der Theologie. Er hatte eigens hierzu alte Kleider geborgt und sich sein Haar so wunderlich gekämmt, daß Weyland unterwegs sich des Lachens nicht erwehren konnte, besonders wenn es seinem wohlgelaunten Freunde einfiel, dergleichen Figuren, die man „lateinische Reiter“ nennt, nachzuahmen. Im Pfarrhofe trafen sie Herrn Brion ganz allein zu Hause und wurden von dem gutmüthigen Manne freundlich empfangen. Nach und nach stellte sich auch die ganze Familie ein, außer der zweiten Tochter Friederike, nach der Alle fragten und die Alle mit Unruhe vermißten, wodurch Goethe auf ihre Erscheinung vorbereitet wurde.
Endlich trat sie in die Thür, und „da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern auf“. Der Dichter, der vierzig Jahre später eine plastische Schilderung jener Tage in „Wahrheit und Dichtung“ dem Secretair Kräuter dictirte, wobei er, wie dieser versichert tief ergriffen war, oft im Dictiren inne hielt, seufzte und in leiserem Tone wieder fortfuhr – er beschreibt uns die Erscheinung des sechszehnjährigen Mädchens also: „Ein kurzes, weißes, rundes Röckchen mit einer Falbel, nicht länger, als daß die nettesten Füßchen bis an die Knöchel sichtbar blieben; ein knappes weißes Mieder und eine Taffetschürze – so stand sie auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin. Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heitern, blauen Augen blickte sie deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben könnte; der Strohhut hing ihr am Arme, und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmuth und Lieblichkeit zu sehen und zu erkennen.“
Es ist nicht möglich, nun ausführlich hier zu erzählen, wie Goethe sofort an Friederike das größte Interesse nahm, sich mit ihr fast ausschließlich unterhielt und, indem er immer mehr über sie erstaunte, zugleich immer mehr sich seiner Verkleidung zu schämen anfing; wie er noch am gleichen Abend bei einem Spaziergange mit ihr wandelte, „mehr den Himmel über sich zum Gegenstande habend, als die Erde, die sich neben ihnen befand“; wie er hierauf, als er Nachts mit Weyland allein war, diesen ängstlich ausforschte, ob wohl Friederike schon von Jemand geliebt werde, und sich über die Verneinung dieser Frage freute; wie er dann am andern Morgen über den verwünschten grauen Rock mit den kurzen Aermeln in Erbitterung gerieth, zuerst nach Straßburg zurückreiten wollte, dann aber auf den glücklichen Gedanken kam, sich die ländliche Kleidung eines Wirthssohnes in Drusenheim zu borgen und als Georg der Frau Pastorin einen Kuchen zu überbringen, über welche neue Verkleidung viel lustige Verwirrungen und Scherze entstanden. Es genügt zu sagen, daß die Leidenschaft der beiden jungen Leute von Stunde zu Stunde wuchs und daß Goethe nach zwei Tagen, als er wegritt, sein Herz in Sesenheim zurückließ. Zugleich hatte er den Vater sehr für sich eingenommen, indem er ihm einen Plan zu einem neuen Pfarrhause zu zeichnen versprach, da das alte, worin die Familie lebte, sehr baufällig war.
Von Straßburg aus schrieb Goethe an Friederike viele Briefe; der einzige, der von denselben noch erhalten ist, datirt vom 15. October. In diesem Briefe nennt er sie seine „liebe neue Freundin“ und sagt ihr, nie sei ihm Straßburg so leer vorgekommen, wie jetzt. Drum hielt es ihn auch nicht lange dort; im November, an einem Samstag Abend, langte er plötzlich in der Schenke zu Sesenheim an. Merkwürdiger Weise war man im Pfarrhause nicht überrascht, als er eintrat. Friederike’s liebendes Herz hatte seine Ankunft geahnt und vorausgesagt. Der folgende Tag, ein heller, freundlicher Novembersonntag, wurde von den Liebenden mit einem Morgenspaziergang begonnen, auf dem sie sich von den bevorstehenden Vergnügungen des Nachmittags und von neuen geselligen Spielen unterhielten, auch beschlossen, wo möglich in ungetrennter Gemeinschaft dem Allen sich hinzugeben. Die Glocke rief sie vom Spaziergang zur Kirche; der gute Pfarrer Brion hat gewiß nie einen geistreichern und doch zugleich unaufmerksamern Zuhörer gehabt, als an diesem Tage! Der Nachmittag verfloß fröhlich bei Tanz und gesellschaftlichem Spiel, wobei die Liebenden Hauptpersonen und Anordner des Ganzen waren. Und da, in der Erregung des Tanzes und der Lust, fand sich endlich das reizende Paar im „langen, langen Kuß der Lieb’ und Schönheit“.
Diesmal verließ Goethe Sesenheim als erklärter Liebhaber. Eine Verlobung hatte vermuthlich deshalb nicht statt, weil er noch so jung war und die Einwilligung des Vaters hätte eingeholt werden müssen. Gedichte aus jener Zeit und an Friederike gerichtet finden sich mehrere unter den gesammelten Liedern Goethe’s: Willkommen und Abschied: „Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde“. – Mit einem gemalten Band: „Kleine Blumen, kleine Blätter“. – An die Erwählte: „Hand in Hand und Lipp’ auf Lippe“. – Mailied: „Wie herrlich leuchtet mir die Natur“. Ferner: „Erwache, Friederike“ und „Ein grauer, trüber Morgen“.
Bekanntlich hielt sich Goethe in Straßburg auf, um dem Studium der Rechte, das er in Leipzig begonnen, ferner obzuliegen und das Doktorexamen zu bestehen. In dieser Zeit fand er nicht Muße zu Besuchen in Sesenheim. Dagegen kam damals Frau Pfarrer Brion mit ihren beiden Töchtern zu Bekannten in die Stadt. Dieser Besuch war es, der zuerst das Verhältniß mit Friederike lockerte. Goethe selbst nennt ihn „eine sonderbare Prüfung“.
Die Mädchen erschienen in Nationaltracht; in den Städten des Elsaß war dieselbe längst durch die französische Kleidung verdrängt worden. Daher geriethen die beiden Pfarrerstöchter in einen Gegensatz zu ihren städtischen Verwandten, der auf dem Lande jedenfalls zu Gunsten der erstern ausgeschlagen hätte, hier aber, in der Stadt, nach und nach für sie peinlich ward. Wenn auch Friederike sich in die ungewohnte Umgebung leichter als ihre Schwester zu finden wußte, so stand doch auch sie in nicht ganz zu verwischendem [331] Widerspruche zu derselben, und die verschiedenen Lebensverhältnisse der beiden Liebenden traten damals zuerst zu Tage. Er, der Sohn eines vornehmen Frankfurter Bürgers, sie eine arme Landpastorstochter! Darüber hatte freilich die Liebe sich nicht besonnen; die ländliche Ruhe hatte dergleichen Bedenken, selbst wenn sie aufgestiegen waren, bald wieder eingeschläfert. Aber jetzt! – Goethe mochte nicht immer die besten Urtheile über die Erscheinung seiner Geliebten in städtischen Cirkeln zu hören bekommen; das machte ihn empfindlich und zerstörte manche Illusion. „Friederike,“ sagt Schäfer, „war in den Gehölzen von Sesenheim eine Nymphe des Waldes; im Straßburger Salon wurde die Nymphe zur Bäuerin.“ Wenn auch dieser letzte Ausdruck etwas zu stark ist, so ist doch gewiß und von Goethe selbst ausdrücklich erwähnt, daß es ihm bei ihrer Abreise wie ein Stein vom Herzen fiel. Sie ihrerseits fühlte beim Scheiden, daß der Liebesroman zu Ende ging. Er stürzte sich wieder in den heitern Kreis der Genossen, um die quälenden Gedanken los zu werden. Als bald darauf die Zeit kam, wo er Straßburg auf immer verlassen sollte, ritt er noch einmal nach Sesenheim, ihr Lebewohl zu sagen.
„Es waren peinliche Tage,“ schreibt er, „deren Erinnerung mir nicht geblieben ist. Als ich ihr die Hand vom Pferde reichte, standen Thränen in ihren Augen und mir war sehr übel zu Muthe. Nun ritt ich auf dem Fußpfade gegen Drusenheim, und da überfiel mich eine der sonderbarsten Ahnungen. Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst denselben Weg zu Pferde wieder entgegenkommen, und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen, es war Hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traume ausschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg. Sonderbar ist es jedoch, daß ich nach acht Jahren in dem Kleide, das mir geträumt hatte und das ich nicht aus Wahl, sondern aus Zufall gerade trug, mich auf demselben Wege befand, um Friederiken noch einmal zu besuchen.“
Im August 1771 verließ Goethe Straßburg, im Juni vorher schrieb er aus dem Sesenheimer Pfarrhause zwei merkwürdige Briefe an Actuar Salzmann in Straßburg, die jetzt auf der dortigen Stadtbibkothck in derselben Schachtel mit den Briefen des unglücklichen Dichters Lenz zusammen liegen, der sich später in Friederike Brion verliebte, ohne aber bei ihr Gehör finden zu können. Denn „wer von einem Goethe geliebt worden ist, kann keinem andern Mann angehören,“ pflegte sie zu sagen.
Möge die Nachwelt, wenn sie Goethe’s Handlungsweise gegenüber Friederiken beurtheilt, die Verhältnisse berücksichtigen! Man bedenke, welche Schwierigkeiten seiner Verbindung mit der Sesenheimer Pfarrerstochter im Wege standen, wie ihm überhaupt eine frühe Verheirathung auf seiner Dichterlaufbahn ein Hemmschuh gewesen wäre, wie es kaum wahrscheinlich ist, daß Friederike in Weimar hätte existiren können, ja wie sehr wahrscheinlich der verheirathete Goethe selbst nie nach Weimar gekommen wäre, was man gewiß als ein Unglück ansehen müßte. Man erwäge, daß ein so gewaltige Kraft in sich fühlender Mann, dem die Welt damals zu enge schien, wohl eine kurze Zeit die Rose am Wege bewundern und lieben konnte, dann aber, zu sich kommend, seinem Stern folgen mußte, der ihm auf immer neuen Bahnen voranleuchtete. Ruhe im Schooß der Liebe konnte Schluß, aber nicht Anfang des Schaffens eines Titanen sein, der die zwölf Arbeiten noch ungethan vor sich sah. Wir wollen uns an das Wort Victor Hugo’s erinnern, wonach man auf Heroen nicht das Maß gewöhnlicher Menschen anwenden dürfe, und also lassen wir Goethe Verzeihung angedeihen; die Wehmuth aber, die uns unwillkürlich beschleicht, wenn wir Friederikens gedenken und das zerstörte Verhältniß uns vergegenwärtigen, sei eine dem tragischen Mitleid vergleichbare; sie trage die Versöhnung in sich selbst! –
Lewes, der bekannte Verfasser einer vortrefflichen englischen Darstellung von Goethe’s Leben, erzählt Friederikens spätere Schicksale nicht. Wir führen sie hier an, aus guter Quelle, zum Theil aus Mittheilungen von Personen schöpfend, die Friederiken persönlich gekannt. Wie oben schon angedeutet, kam der Dichter Reinhold Lenz ein Jahr nach Goethe’s Entfernung in die Nähe von Sesenheim, und Friederike flößte ihm heftige Leidenschaft ein, die aber zu keinem Ziele führen konnte, schon deshalb, weil Lenz gar nicht der Mann dazu war, irgendwie etwas Dauerndes zu gründen. Er war eine wirre, dämonische Natur, und sein Lebensschicksal, das wir hier nicht verfolgen können, ließ ihn keinen häuslichen Heerd bauen. Er starb in schwermüthigem Wahnsinn, am 24. Mai 1792. – In den Herbst 1779 fällt jener Besuch Goethe’s bei Friederike, den der Dichter, wie oben angeführt, geahnt und als Vision vorausgesehen haben will. Goethe begleitete damals seinen Herzog auf einer Schweizerreise; er fand seine Geliebte, wie er schreibt, „wenig verändert, noch so gut, liebevoll und zutraulich, wie sonst, gefaßt und selbstständig. Der größte Theil der Unterhaltung war über Lenz.“
Friederike lebte noch bis zum Jahr 1813; anfangs in Rothau im Steinthal, wo sie mit ihrer jüngsten Schwester Sophie mehrere Jahre eine Mädchenschule leitete und einen Kramladen hielt. Durch Familienverbindungen wurde sie später Gesellschafterin in einem befreundeten Straßburger Hause – Rosenstiel –. Als der Herr des Hauses zu Anfang der französischen Revolution in diplomatischen Geschäften verwendet wurde, begleitete ihn seine Familie und auch Friederike nach Paris und Versailles. Später war sie bei ihrer Schwester und deren Mann, dem Pfarrer Marx, zuweilen auf Besuch in Diersburg, dann ständig seit dem Jahre 1805 in Meißenheim, einem drei Stunden von Lahr in Baden entfernten Dorfe, bei ihrer Nichte und deren Gatten, Pfarrer Fischer. Noch ist daselbst ein Albumblatt vorhanden, welches sie ihrem Neffen, Pfarrer Fischer, schrieb und das also lautet:
Durchwandle froh die Bahn des Lebens,
Dein Loos sei stets Zufriedenheit,
Kein Wunsch von Dir sei je vergebens,
Und die Erfüllung sei nie weit.
Meißenheim, den 14. October 1807.
Dies aus dem Herzen Ihrer Sie liebenden Tante,
Friederike Brion.
So fand Friederike in sich und in ihrer regen, opferfreudigen Theilnahme an dem Glücke Anderer einen schönen Frieden und ein nützliches Leben, welches keineswegs als ein Verlornes, sondern im Hinblick auf seine höhere Bestimmung vielmehr als ein erfülltes zu betrachten ist. Die Geliebte des glücklichsten und des unglücklichsten Dichters deutscher Nation starb am 3. April 1813, Nachmittags 5 Uhr, im Alter von ungefähr 58 Jahren, wie aus dem Kirchenbuch zu Meißenheim hervorgeht. Ihr Grab wird vergebens gesucht. Kein Stein, kein Kreuz bezeichnet es. – Es sind nun drei Menschenalter vorübergegangen seit jenen Tagen, wo Goethe mit seiner Geliebten durch Sesenheim’s Gefilde wallte; aber noch entsinnen sich die einfachen Bewohner des Dorfes gar wohl des Herrn Goethe und haben ihre eigene Tradition über jene Zeit bewahrt. Der Verfasser vorstehender Zeilen ist im Stande hierüber Näheres mitzutheilen, indem er im Frühling des verflossenen Jahres, am 13. April, Sesenheim besuchte.
Das anmuthige Dörfchen liegt sieben Stunden von Straßburg entfernt. Der Besucher, dem es nicht möglich ist, wie Goethe, zu Pferd zu dem Orte zu gelangen, thut am besten, wenn er mit der Eisenbahn bis Bischweiler fährt; von da befördert ihn ein Botenwagen nach Sesenheim. So machte ich’s; den Rest des Weges jedoch ging ich zu Fuß, um allein und in würdiger Sammlung in das liebe Dorf einzuziehen.
Die Sonne war schon untergegangen, aber die Luft war lind, wie an einem Maiabend. Am westlichen Himmel glänzte noch da, wo dunkle Wolken auf den fernen Vogesen aufzuliegen schienen, ein heller Streif, wie flüssiges Gold; vor mir – Sesenheim liegt gegen den Rhein, nordöstlich – war es schon Nacht. Vom Dorfe konnte ich daher nichts sehen, bis ich ganz nahe war. Der Weg führt rechts an einem großen Weiher vorüber, Erlen und Pappeln ziehen sich längs der Straße hin. Auf einmal klang durch die Luft ein Ton, der mich wundersam rührte, die Abendglocke von Sesenheim! Zugleich sah ich auch die ersten Häuser des Dorfes, zwischen blühenden Bäumen versteckt, und ein Rauch war über dem Dorf und hoch vom Himmel blinkten die Sterne herab. Das Glück führte mich in die Herberge zum Anker. Der Wirth derselben heißt Michael Heintz und seine Großmutter mütterlicher Seite, Anna Maria Vix, war die Pathin Friederikens. Dies Alles erfuhr ich natürlich erst später; zunächst erkundigte ich mich nach einem Nachtlager, dann setzte ich mich unter die Bauern und aß zu Nacht. Der Wirth leistete mir Gesellschaft und äußerte seine Verwunderung über meinen Besuch in Sesenheim, setzte aber sogleich hinzu: „Am Ende kommen Sie wohl wegen dem Herrn Goethe.“ Als ich dies bejahte, stellte mir der Wirth einen bejahrten Bauer, – [332] Wolf – der in der Ecke saß, als den Sohn desjenigen Burschen vor, der Goethe gewöhnlich bei Spaziergängen begleitet, ihm auch Botendienste geleistet hatte. Von diesem erfuhr ich mehrere Anekdoten über Goethe, und sämmtliche Bauern nahmen, während er erzählte, großen Antheil, ergriffen wohl manchmal bestätigend das Wort, nie aber äußerten sie sich anders über das Verhältniß der Liebenden als mit größter Ehrerbietung für Beide. Die Aussage Aller war: „Er sei ein schöner und gar freigebiger Mann gewesen, und das Pfarrersfräulein habe er so lieb gehabt – man könne gar nicht glauben wie!“
Von dieser Freigebigkeit Goethe’s cursirt namentlich in Sesenheim eine etwas groteske Geschichte, aber eben deshalb wie dazu gemacht, im Andenken der Bauern zu bleiben: Die Bursche des Dorfes machten, wie jedes Jahr, hinter der Kirche zuweilen im November ein Feuer und belustigten sich, mit Stangen drüber zu springen. Der „Herr Goethe“ war auch einmal bei einem solchen Anlaß zugegen und bemerkte unter den Zuschauenden sechs Weiber mit alten zerrissenen Strohhüten. Da sagte er dem Bauer Wolf, er solle die Strohhüte in’s Feuer werfen. Der that’s auch gleich, nur eine ließ sich den Strohhut unter keiner Bedingung nehmen. Als nun die fünf Strohhüte lichterloh brannten, zog der Herr Goethe seinen Geldbeutel hervor und gab jedem der fünf Weiber, die ziemlich verdutzt dastanden, zwei Thaler; jetzt verkehrten sich die sauern Mienen in frohen Jubel; die sechste aber bot nun freiwillig ihren Strohhut an; als ihr Goethe gar keine Aufmerksamkeit schenkte, warf sie voll Verdruß ihren Hut selbst in’s Feuer, erntete aber auch für diese heroische Aeußerung ihrer Unzufriedenheit nichts als den Spott des ganzen Dorfes. Als Moral dieser Geschichte setzte der Bauer Wolf, der mir dieselbe erzählte, hinzu: „Einem so vornehmen Herrn muß man eben Zutrauen schenken.“
Oft habe auch Goethe die Buben angefeuert, gymnastische Spiele aufzuführen, ihnen dergleichen sogar gezeigt. Den Sieger habe er dann jedesmal reichlich beschenkt. Um seine Freigebigkeit, wie man sieht, dreht sich die Sesenheimer Tradition; denn bei gar vielen Leuten hat nichts so guten Klang, wie klingende Münze. Man ersieht hieraus, daß alle Tradition etwas Subjectives ist.
Am folgenden Tage besuchte ich in der Frühe jenen Hügel, den Goethe in „Wahrheit und Dichtung“ erwähnt, wo er schon am zweiten Tage der jungen Bekanntschaft dem reizenden Mädchen seine Liebe erklärt hatte. Die Stelle verdient nicht den Namen eines Hügels; im Dorf heißt sie der Buckel; es ist eine Erderhöhung von kaum sechs Fuß Höhe. Zu Goethe’s Zeit war sie mit Wald und Hecken gekrönt und es waren daselbst Bänke aufgeschlagen, „von deren jeder man eine hübsche Aussicht gewann“. Hier war jenes Bret mit der Inschrift: „Friederikens Ruhe“, worunter sich Goethe einst froh und ahnungslos gesetzt hatte, ganz dem aufkeimenden Gefühl hingegeben und nicht denkend, daß er gekommen sei, diese Ruhe vielleicht für immer zu stören.
Die Bänke stehen längst nicht mehr, der Wald ist ausgerottet, man hat den Pflug über das traute Plätzchen geführt. Aber es war doch noch die gleiche Erde, und gerade so, wie heute auf mich, schaute damals auf die Liebenden, der helle, blaue Himmel hernieder, und darum bückte ich mich und pflückte – man lache über meine Sentimentalität – ein vom Morgenthau feuchtes Veilchen, meine erste Reliquie von Sesenheim.
Nachdem ich wieder in’s Dorf zurückgekehrt war, begann ich auf dem Kirchhofe nach dem Grabmal des Pfarrer Brion zu suchen. Eine Bäuerin, die ich um Auskunft befragte, sagte mir, sie wisse, das Grab sei nicht hier, sondern bei der Kirche, aber genauer konnte sie mir die Stelle nicht bezeichnen. Endlich fand ich es; ein liegender, schwärzlicher Stein deckt die Ruhestätte des guten Mannes. Die Inschrift lautet:
der
Hochwürdige und hochgelahrte Herr
Johann Jacob Brion.
Treueifriger Lehrer hiesigen Kirchspiels.
Seines Alters 70 Jahre 6 Monate.
Den Vers darunter konnte ich nur mit Mühe lesen und zwar erst, nachdem ich den Grabstein gewaschen und in die Umrisse der Schrift, damit dieselben mehr hervortreten möchten, Kalk von der Kirchhofsmauer eingerieben hatte. Der Vers heißt:
„Sei still und weine,
Christ und Menschenfreund;
Hier ruhen die Gebeine
Eines Mannes, der vereint
Tugend pries und Tugend übte,
Gott in seinem Leben liebte.“
Während ich diese Worte schrieb, fielen auf einmal drei oder vier Schüsse hinter der Kirchhofmauer, und als ich erstaunt aufschaute, gewahrte ich eben einen Brautzug, der sich in die Kirche bewegte. Natürlich schloß ich mich an und wohnte der Feierlichkeit bei. Das war also die Kirche, wo einst Goethe an der Seite der Pfarrerstochter „eine etwas trockene Predigt des Vaters nicht zu lang fand“ und wo er sich die Vorzüge seiner Geliebten, „ihre besonnene Heiterkeit, Naivetät mit Bewußtsein, Frohsinn mit Voraussehen,“ wiederholte und auch darüber nachdachte, wie er es wohl vermeiden könnte, beim Pfänderspiel seine Geliebte zu küssen; denn seine Lippen waren ja von jener leidenschaftlichen Straßburger Schönen, deren Neigung er nicht erwiderte, verwünscht worden. Am gleichen Nachmittage lösten sich indessen alle Bedenken, wie wir oben gesehen haben. Als die Einsegnung des Paares vorüber war, begab ich mich nach dem Pfarrhause, welches der Kirche gegenüber liegt. Es ist von einem Gartenzaun eingeschlossen, vor der Thür stehen niedrige Tannenbäume.
Der Pfarrer, Namens Lucius, ein gastfreier Herr, nahm mich sehr freundlich auf, als er den Zweck meines Kommens erfahren hatte, und führte mich überall umher. Vom alten Pfarrhofe ist nur noch eine Scheune übrig; er stand mehr links, als der neue. An der Stelle, wo sonst Goethe mit der Familie Brion zu wohnen pflegte, wachsen jetzt Bohnen und andere Küchenkräuter, und der kleine Sohn des Herrn Pfarrers war emsig beschäftigt, dieselben vom Unkraut zu säubern. Ganz hinten im Garten steht aber noch, an die erwähnte alte Scheune angelehnt, jene berühmte „Jasminlaube von Sesenheim“, in der Goethe das Märchen, das er später unter dem Titel „Die neue Melusine“ Wilhelm Weister’s Wanderjahren einverleibte, zum ersten Male erzählte. Daß ich auch hier Reliquien sammelte, versteht sich von selbst.
Hierauf zeigte mir der Pfarrer ein Autograph Friederike’s; sie bittet ihren Verwandten Heintz um ihr langes Halstuch (ein Pathengeschenk eben jener Anna Maria Vix), er möge es ihr nach Rothau schicken. Im Wohnzimmer hängt an der Wand beim Clavier ein Bild des greisen Goethe; nirgends ist mir dieses Bild so bedeutsam vorgekommen, wie hier; ich mußte mich unwillkürlich an Rückert’s Gedicht von Chidder, dem ewig jungen, erinnern.
Ich nahm nun Abschied von dem gastfreien Herrn Pfarrer und verließ das Haus. Am Ausgang des Dorfes, vor dem Schulhause, war die ganze liebe heranwachsende Jugend von Sesenheim versammelt. Die Mädchen tanzten eben einen Ringeltanz um ihre Lehrerin herum; ich schaute mir die Gesichter wohl an, aber es war keine Friederike unter ihnen!
Und so zog ich denn weiter gegen Fort Louis hin; ehe ich aber in den Wald kam, schaute ich noch einmal zurück nach dem lieben Dorf, und wie ich’s so vor mir liegen sah und des gestrigen Abends und der einstigen Zeiten gedachte, überkam mich eine Stimmung, in die sich Andacht und Wehmuth theilten.