Ein Besuch in Drake’s Atelier
Im Berliner Thiergarten, rechts von der breiten Allee, die nach Schloß Bellevue führt, liegt unter schattigen Bäumen das Atelier des berühmten Bildhauers Friedrich Drake. Wer hat nicht gehobenen Herzens vor seinen vielen öffentlichen Werken gestanden, namentlich seinen Portraitbüsten und ganz besonders vor seiner Kolossalstatue Friedrich Wilhelm’s des Dritten mit dem Reliefschmucke des Fußgestells von bezaubernder Composition? Die Berliner Bildhauerschule ist stolz auf diesen Meister. Ein großer, roher Marmorblock neben der Thür weist uns den Eingang zu seinem vielbesuchten Atelier. Es war im Frühlinge 1872, als wir den Künstler dort besuchten. Der Faulbaum blühte; goldene Sonnenlichter spielten im jungen Grüne, Alles war in Duft und Glanz getaucht, frisch und kühl, Vogelsang und Finkenschlag rings umher – die stimmungsvollste Umgebung, die man einer Künstlerwerkstatt wünschen kann.
Drake trat uns in bequemer, rother Flanelljacke, ein faltiges Barett aus braunem Sammet auf silbernem Lockenhaare, entgegen und führte uns zuerst zur Büste unseres großen Physiologen Helmholtz, die die Universität Leyden seinem ebenbürtigen holländischen Collegen, dem berühmten Professor Donders in Utrecht, als Festgabe zu dessen Jubiläum bestimmt hatte. Die Arbeit – wohl eine der vorzüglichsten, die Drake im Portraitfache geleistet hat – war eben im Thonmodell vollendet und gab, bei frappanter Aehnlichkeit und meisterhafter Ausführung, die ganze geistige Größe und Bedeutung des Helmholtz’schen Kopfes wieder, der allerdings selbst ein Muster von Plastik ist. Ich äußerte Drake meine Freude an seiner Arbeit.
„Ja,“ meinte er, „sie ist mir auch schwer genug geworden! Tüchtig habe ich mich dabei plagen müssen und hätte wohl manches Mal zu meinem Doctor Helmholtz sagen können, wie Mephisto zum Faust: ‚Ihr habt mich weidlich schwitzen machen.‘“
Drake macht überhaupt kein Geheimniß daraus, daß er oft mit Anstrengung arbeitet. Seine Frau versicherte mich sogar: einmal zum Mindesten pflege er an jeder seiner Schöpfungen zu verzweifeln; doch wären es unter diesen nicht die schlechtsten, bei denen jene Krisis sich am heftigsten einstelle. Auch sprach er es an jenem Morgen selber aus, wie unverständlich ihm die Sicherheit sei, mit der er viele Künstler ihre Aufgabe ergreifen und ausführen sehe. Zaghaftigkeit der Natur und den Anforderungen gegenüber, die der Gewissenhafte an ihre künstlerische Wiedergabe mache müsse, habe ihn bei seinen Arbeiten noch nie verlassen. Das hindere ihn freilich nicht, unvernünftigen Wünschen, wie Unkenntniß und Unverstand sie oft an die Plastik stellten, entschieden abweisend zu begegnen. „Und da kommt man denn in den Ruf der Anmaßung und Unbeugsamkeit, wo man doch demüthig und bescheiden, eben nur der Kunst selber wegen, nicht anders entscheiden kann,“ fügte er launig klagend hinzu.
Wir standen noch vor dem Helmholtz’schen Modell. „Meine nächste Arbeit,“ sagte Drake, „wird sich in weniger großen Formen bewegen. Eben war Graf Moltke bei mir, mich die Maße zu seiner Büste nehmen zu lassen. Das sind lauter kleine, feine, kniffliche Züge, bis auf die Ohren – die haben mich überrascht! Es ist beinahe unglaublich, ich habe solches Ohrenmaß wirklich noch nie verzeichnet.“ Und dabei durchblätterte er ein großes Buch, das die Maße seiner Portraitköpfe enthielt.
„Es erschien mir beim Niederschreiben so unmöglich,“ fuhr er fort, „daß ich glaubte, mich geirrt zu haben. Aber der Graf, der mein Zögern bemerkte, sagte gleich: ‚nein, es ist richtig so, ich habe merkwürdig große Ohren.‘ Darauf erzählte er mir, wie vor Jahren bei militärischen Uebungen in der Provinz, als er noch eine weniger hervorragende Stellung eingenommen, Jemand dringend gewünscht habe, ihn vor der Front herauszufinden, um ihm eine wichtige Meldung zu machen. Der Suchende sei deshalb vorher zu seiner damals noch lebenden Gemahlin gekommen und habe rathlos gefragt. ‚Aber woran erkenne ich denn Herrn von Moltke?‘
‚Er reitet einen Schimmel,‘ habe die Dame erwidert, ‚und hat die größten Ohren, die Sie sich denken können. Sehen Sie nur nach den Ohren, dann ist kein Irrthum möglich.‘ Und wirklich, das Zeichen trügte nicht. Der Schimmel gab es mehrere im Regimente, aber die Ohren waren einzig. Die Meldung kam an den Rechten.“
Drake erfreute die kleine Geschichte, besonders weil sie unmittelbar an der Quelle geschöpft war. – Er zeigte uns ein Gypsrelief in Medaillonform mit dem Profil des Architekten Klenze. Ein ungewöhnlich häßlicher Kopf. Kleine, nur halb geöffnete blinzelnde Augen, ein faltenumlagerter Mund, wirr aufsteigende Haare. Am Rande war neben dem Datum „sechsundfünfzig Minuten“ verzeichnet.
„Ich habe diese Skizze noch in Rauch’s Atelier gearbeitet,“ erzählte Drake. „Klenze kam zum Besuche, hastig, ruhelos wie immer.
‚Ich möchte Ihren Kopf skizzirt haben,‘ sagte Rauch.
‚Ich habe keine Zeit,‘ versicherte der Eilende, der nur zu einer bestimmten Besprechung gekommen war.
‚Nun, so lange wir eben sprechen,‘ erwiderte Rauch. – Darauf nahm ich, ohne mich zu besinnen, Thon und Meißel, sah nach der Uhr, und in sechsundfünfzig Minuten war dies Portrait entstanden.“ Drake wies auf die natürlich flüchtige, aber keck charaktervolle Behandlung des Haares. „So etwas,“ sagte er, „bringt man oft mit allem Studiren, aller Mühe nicht heraus. Es ist das Geschenk des Augenblicks.“
Auf den Brettern, Staffeln und Consolen, die regellos hier und da in Drake’s Werkstatt angebracht sind, standen [652] Gypsabgüsse aller Art. Dazwischen mehr als eine bekannte Persönlichkeit: Lepsius, Ranke, ein paar schöne Frauenköpfe, ein rundes Kindergesicht. Allerliebst erschien mir eine genreartige Composition: „Friede, Friede!“ hatte Drake sie bezeichnet. Es ist ein kleines, sehr niedliches Kind, das zwanglos im bloßen Hemdchen am Boden sitzt, die eben eingetroffene Friedensdepesche mit ausgestrecktem Aermchen hoch über dem Kopfe schwingend.
Mag sein, daß die strahlende Genugthuung auf diesem Gesichtchen mehr dem Knattern des Papieres, als dem noch unverstandenen guten Inhalt desselben gilt. Immerhin trifft hier ein rein natürliches Moment sehr glücklich mit einer höheren Empfindung zusammen, und nicht unmittelbarer, nicht reizender kann der Jubel über eine endlich gnädige Wendung der Geschicke sich ausdrücken, als auf diesem seligen Kindergesichte. Das Motiv zu der Darstellung meint Drake bei einem Besuche in einer ihm befreundeten Familie erfaßt zu haben; auch will er nur die Natur, wie sie sich im Momente gestaltete, ohne viel eignes Hinzuthun wiedergegeben haben.
Neben diesem bereits in Marmor sehr frisch und zierlich ausgeführten Figürchen stand eine andere Composition ganz verschiedenen Inhaltes. Sie bringt uns die Stelle der römischen Elegie Goethe’s zur Anschauung:
„Oftmals habe ich schon in ihren Armen gedichtet
Und des Hexameters Maß leise mit fingernder Hand
Ihr auf dem Rücken gezählt –“
und zeigt uns den Dichter in idealer Gewandung, halb aufgerichtet, auf antikem Ruhebette, an seiner Seite das Mädchen, deren weichgerundete Schulter sein Arm umschlingt. Nichts Schöneres als diesen in aller Wonne des Genusses rein durchgeisteten, jugendlichen Goethe-Kopf. In den blühenden Formen der weiblichen Gestalt aber welche Anmuth und Unschuld, in ihrem hingesunkenen Köpfchen welche Hingabe voll Reinheit!
Edel, zart und poetisch hat die feinste Behandlung hier alles Verletzende des Stoffes entfernt. Dennoch hat Engherzigkeit und Vorurtheil Anstoß an der schönen Arbeit genommen. Drake wußte auch davon eine Geschichte zu erzählen:
„Ich hatte in früheren Jahren schon einmal, flüchtiger und unvollständiger als hier, diesen Stoff behandelt und die Skizze ausgestellt. Sie wurde im Allgemeinen wenig beachtet und war bald wieder vergessen. Später arbeitete ich eine kleine Madonna, die sich einer guten Aufnahme erfreute und so viel Reproduktionen erlebte, daß ich ihr durch ganz Deutschland, bis nach Italien hinein, auf den Brettern begegnete, die die Statuettenhändler damals noch schwankend auf dem Kopfe herum zu tragen pflegten. Ein katholischer Verein beabsichtigte in einer Kirche eine Madonna zu stiften und trug mir an, ob ich mein kleines Modell dazu vergrößern und ausführen wolle. – Der Auftrag wurde fest gegeben, ich ging bereits an die Arbeit. Da hört einer der Herren des Comités meinen Namen, der damals noch wenig bekannt war. ,Drake? Drake?’ besinnt er sich. ‚Welche Arbeit habe ich doch schon einmal von einem Drake gesehen?’ Und richtig, mein Goethe-Relief fällt ihm ein. ,Was?’ heißt es jetzt, ,der Verfertiger so unzüchtiger Darstellungen – eine Madonna für unsere Kirche? Nun und nimmermehr!’ – Ohne Weiteres wurde die Sache rückgängig gemacht, und meine Madonna blieb unausgeführt.“
Drake lachte noch heute über sein damaliges Mißgeschick. Nun wandert das prachtvoll ausgeführte Relief als Geschenk an die Akademie in Antwerpen, die den Künstler zum Ehrenmitglied ernannt hat.
Es hört sich Drake gut zu, wenn er seine kleinen humoristischen Geschichten erzählt, deren er in einer langen Künstlerlaufbahn gar manche erlebt hat. Aber es muß womöglich in seinem Atelier, in seiner eigensten Kunstatmosphäre zu diesen Mittheilungen kommen. Eine andere Umgebung, der glatte Boden der Geselligkeit besonders, erwirbt einem so anspruchslosen Auftreten, wie dem Drake’s, die Geltung nicht, die hier das Talent verdient. Im Salon mag er sich von gespreizter Unbedeutendheit, die sich breit zu machen versteht, leicht verdunkeln lassen. Unter seinen Marmorgestalten, seinen Gypsen und Thonmodellen wird Keiner im Zweifel bleiben, wem er in dieser schlichten, beinahe unscheinbaren Persönlichkeit gegenüber steht. Da sagen seine Werke selber aus, was sein Mund bescheiden verschweigt.
Die Schwester der Malerin Caroline Bardua erzählt in ihren tagebuchartigen Aufzeichnungen aus dem Jahre 1835, Rauch habe gegen sie geäußert: „Ein Talent wie das seines jungen Schülers Drake tauche nur von Jahrhundert zu Jahrhundert in der Kunstwelt auf.“
Was Drake ist, verdankt er einzig und allein sich selbst. Die Verhältnisse haben ihm nicht vorgearbeitet; er war armer Leute Kind. In seiner Wohnung fand ich zwei Bilder einander gegenüber aufgehängt. Das eine, eine flüchtige Zeichnung, stellt die dürftige Hütte dar, in der er geboren worden; das andere das Schloß, in dem seine Gemahlin als Fürstentochter das Licht der Welt erblickt hat. Ueber die breite Kluft, die dazwischen liegt, hat Talent und Charakter ihm die Brücke gebaut; aber welche Höhe er auch erreicht, er ist einfach, schlicht und bescheiden geblieben, und das ist ein Blatt mehr im Kranze seines Ruhmes.
Wir verweilten an jenem Morgen lange in seiner Werkstatt. Mit freundlicher Bereitwilligkeit wies er uns alle Schätze, die sie barg; führte uns auch in den auf der anderen Seite des Hauses liegenden Raum, in dem seine Gehülfen arbeiteten. Hier stand die geistvoll-feine Kolossalfigur des Melanchthon für Wittenberg, die Gruppe der sterbenden Soldaten für Aachen und Stücktheile der Victoria zum Berliner Siegesdenkmal. Er zeigte uns erklärend und erzählend Alles, ohne auf irgend Etwas darunter besondern Werth zu legen. Ja, schließlich nahm er beim Abschiede unsern Besuch fast wie eine Freundlichkeit hin, die wir ihm erwiesen und für die er zu danken sich verpflichtet fühlte.
Als ich bald darauf Helmholtz sah und ihm meine Freude über seine vortrefflich gelungene Büste aussprach, erwähnte ich auch, wie wohlthuend und angenehm mich das bescheidene Wesen des Meisters berührt habe, das sich der Kraft so wenig rühme, die ihm innewohne.
„Das darf uns nicht verwundern,“ sagte Helmholtz. „Nur die verdorbenen Genies haben die Prätension, ihre Künstlerschaft zur Schau zu tragen. Wer recht von der seinigen erfüllt ist, denkt an etwas ganz Anderes, als sich eine äußere Geltung zu verschaffen, die wenig genug bedeutet.“
Ja, es ist wahr! Für ein unverdrossenes Wandern auf oft mühevollen Wegen, für die ernsteste Arbeit, die gethan werden muß, legt immer das sicherste Zeugniß jene schlichte Einfachheit ab, in der jedes wahrhaft geistige Leben gipfelt.