Textdaten
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Autor: Gottlieb Ritter
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Titel: Ein Besuch bei George Sand
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aus: Die Gartenlaube, Heft 31, 32, S. 520–522, 536–537
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[520]
Ein Besuch bei George Sand.
Von Gottlieb Ritter.


„George Sand ist todt.“ Wie ein Lauffeuer ging diese traurige Botschaft am 8. Juni durch das große Paris. Ich sehe und höre es noch, wie die melancholischen vier Worte in den volksbelebten Straßen und überall, wo die Menschen zusammen kommen, von Mund zu Mund liefen und manches Augen trübten und manches Lächeln verscheuchten. Es ist ein eigenes, ganz einziges Weh, das man bei einem solchen Verluste empfindet; es giebt lebhaftere Schmerzen, die dem Herzen näher gehen, aber keine tieferen. Man fühlt mit einem Male eine Kälte und Verfinsterung, wie wenn ein Licht da oben verlöschte; es ist die Schwermuth und das Unbehagen eines Tages der Sonnenfinsterniß.

Um wie viel größer und stärker ist unser Leid, wenn wir die Todte gesehen gekannt, geliebt haben! George Sand – auch die Fernerstehenden kennen sie, denn ihre Werke, ihr eigenstes Ich, sind ihnen erschlossen; sie haben die Genugthuung, zu wissen, daß sie zur nämlichen Zeit gelebt hat; man kennt ihren Ideenkreis, ihr Gemüth, ihr Herz aus ihren Werken, und so kommt es, daß sie jenen, die sie kennen, ohne sie gesehen zu haben, oft vertrauter ist, als eine nächste Verwandte. Daher diese allgemeine herzliche Trauer um George Sand.

Ich habe sie gekannt. Wenige Tage, bevor der Tod sie auf das Sterbelager streckte, führte mich mein Weg zu ihr; ich bin vielleicht der letzte Gast im Schlosse zu Nohant, dessen Eingang die geniale Castellanin gesegnet hat, und den sie mit rührender Ahnungslosigkeit einlud, sie recht bald wieder zu besuchen. Kaum kann ich es glauben, daß sie schon jetzt nicht mehr unter den Lebenden weilt, daß ihre großen Augen, die wie glühende Kohlen aussahen, gebrochen und erloschen sind. Aber Petrarca hat Recht, wenn er selbst die lebensprühendsten Augen sterbliche Sterne nennt. George Sand ist wirklich todt. Mein mir unvergeßlicher Besuch bei ihr wurde mir dadurch eine um so theuerere Erinnerung, weil es die einzige und die letzte an die große Todte ist. Ich will versuchen, das Bild zu fixiren[WS 1], bevor die Zeit darüber hinweggeht und die Farben erblassen macht, die ich von jenen schönen Stunden zu Nohant im Herzen trage.

Als ich zum Besuche der berühmten Frau von Paris nach La Châtre fuhr, der Eisenbahnstation des unfernen Nohant, da schuf ich mir im Geiste das Conterfei der Dichterin, wie es sich etwa aus dem Mosaik ihrer Werke und Thaten zusammensetzen ließ, und nahm mir vor, alsdann dieses Ideal mit der Wirklichkeit zu vergleichen, die mir ja bald gegenübertreten sollte. Man kennt George Sand’s Marotte, im Buche wie im Leben als Mann gelten zu wollen. Im Beginne ihrer literarischen Laufbahn ging sie am liebsten in Männerkleidung und Stiefeln spazieren, und bis zu ihrem Tode rauchte sie mit Leidenschaft – allerdings sehr unschuldige – Cigarretten. Selbst in ihren zahlreichen Liebesverhältnissen, wie in ihrer naturgemäß unglücklichen Ehe, war sie immer bestrebt, ein souveränes Uebergewicht beizubehalten. Sie war nach einander Emancipirte, Socialist und Republikaner; sie warf mit einem männlichen Muthe erst der Gesellschaft, dann der Tyrannei den Handschuh hin; sie fraternisirte mit Barrikadenhelden, war Journalist und Zeitungsredacteur und schrieb glühende Pamphlete und Manifeste für die Provisorische Regierung und die „Commune de Paris“. Etwas Vulcanisches, Revolutionäres steckte in ihr, die zuerst die Marseillaise des Weibes anstimmte und der gute Camerad der Demokraten war. Was Wunder, daß diese außerordentliche Frau oft an ihrem eigenen Geschlechte irre wurde und ihren Stolz darein setzte, als Mann zu gelten. Aber schaut man etwas näher zu, so verwandelt sich dieser halbe Mann in ein ganzes Weib, dem alle Vorzüge und viele Schwächen des Geschlechts anhaften und dessen Größe nicht zum geringsten Theile gerade in der Gebundenheit dieses Geschlechts liegt. Ihr Wesen äußert sich immer in echt weiblicher Subjectivität; Alles löst sich ihr in Stimmung auf. Sie denkt mit dem Herzen, und all ihr Philosophiren, oder wie man es sonst nennen will, entströmt ihrem überaus zart besaiteten Gemüthe, das specifisch weiblich ist. In dieser Weiblichkeit fußt ferner jenes charakteristische sich Hingeben und Anlehnen an fremde, das heißt männliche Individualitäten, mögen ihr diese noch so unterlegen sein. Mit ihren Geliebten und Cameraden änderte sie ihre religiösen und philosophischen Meinungen. Freie Liebe predigte sie in den Armen von Jules Sandeau und Alfred de Musset, und christliche Ergebung mit Lamennais, jenem glühenden Priester, der sich bei seiner Kurzsichtigkeit einmal irrte und statt des rothen Cardinalshutes die rothe Jacobinermütze auf die Tonsur setzte.

Dann wieder erging sie sich an der Seite von Pierre Leroux im blauen Dunst der Mystik, folgte Michel de Bourges bis in die extremsten Theorien des Socialismus und schrieb für Ledru-Rollin revolutionäre Manifeste im Lager der radicalen Citoyens. Nur einem Einzigen ist sie ihr Lebenlang treu geblieben: Rousseau und seiner Weltanschauung. Hier bestätigt sich wieder so recht die tiefe Wahrheit, die dem berühmten Worte Goethe’s zu Grunde liegt: daß Niemand wähnen möge, seine Jugendeindrücke verwinden zu können. Der Genfer Philosoph war der Evangelist ihres elterlichen Hauses; ihre Großmutter wußte den „Emile“ und die „Neue Heloise“ fast auswendig; Rousseaus Schriften bildeten die erste Lectüre des heranwachsenden Mädchens und blieben die steten Begleiter der Frau, der Greisin. Ihr ganzes Denken, Fühlen und Schaffen wurde schon von Grund aus so sehr durch Rousseau bestimmt, daß sich dessen Ideenkreis mit dem ihrigen identificirte und ihrem Gemüthe ein unauslöschliches Gepräge gab. Bis auf die Form erstreckte sich diese durchaus weibliche Anlehnung an Jean Jacques, der ja von jeher einen weit größeren Einfluß auf das schöne, als auf das starke Geschlecht ausgeübt hat, und wenn sie später versuchte, ihren Styl zu wechseln, um dem Vorwurfe der Nachäfferei zu entgehen, so gelang ihr dieses Experiment nur sehr mangelhaft.

Wirkliche Männer vermochte George Sand niemals zu [521] zeichnen; alle ihre Romanhelden sind weich, verschwommen, weibisch, mehr Nerv als Muskel. Auch dies ist in der Natur ihres Geschlechtes ebenso tief begründet, wie in ihrer Begeisterung für den Autor des „Emile“. Sondert man ihre Helden genauer, so findet man in ihnen nichts weiter, als dichterische Reproductionen ihres einzigen Ideals: sie alle sind verkappte Rousseau’s, ebenso blasirt, weich und sentimental, wie schwach und feig, wo es gilt, mit der Convenienz zu brechen. Und dann ihre ebenfalls Rousseau’sche Naturschwärmerei und Gefühlsschwelgerei, worin sie sich, als echtes Weib, namentlich nach der melancholischen Seite hin, viel mehr vertiefte, als ihr Vorbild! War es eine plötzliche Erkenntniß ihres gewaltsam verleugneten inneren Wesens, daß sie nach der Juni-Revolution ernüchtert mit einem Male ihre social-politische Periode beschloß und jene berühmten Dorfnovellen schrieb, welche in ihrer rein künstlerischen Conception die geniale Frau, aber doch die Frau verriethen und ihren Namen verewigen werden, wenn längst alle jene weltstürmenden Werke, womit George Sand das meiste Aufsehen erregte, vergessen sein dürften?

Ich erwartete ein Weib, eine Hausfrau und Mutter zu sehen, zweiundsiebenzig Jahre zählte sie; ich mußte also eine Greisin finden, aber eine von jenen, die eine unverwüstliche Jugend im Herzen tragen und die nimmer rastende Feder mit der alten Energie zu führen verstehen. Für letzteres hatte ich zwei Zeugen: den Einladungsbrief, der ihre deutliche entschiedene Handschrift zeigte, und die im vergangenen Januar von ihr veröffentlichte reizende Novelle: „La Tour de Percemont“.

Ich täuschte mich nicht.

Im Aeußern der George Sand verrieth nichts die Emancipirte von einst, die Heldin der Feder, kurz den Blaustrumpf. Im Gegentheil nahm ich an ihr das ausgesprochene Bestreben wahr, so schlicht und – ich möchte fast sagen – so unbedeutend wie möglich zu scheinen. Nichts Einfacheres, Unmittelbareres und Natürlicheres. Das überraschte mich um so mehr, als ich wohl weiß, daß selbst der Schlichteste, wenn er vor seinem Biographen steht, sich unwillkürlich mehr oder weniger drapirt, aufputzt, den innern und äußern Menschen im Feiertagskittel zeigt. Von alledem fand sich bei der berühmten Schriftstellerin nicht die Spur. In einfachem, dunklem Hauskleide kam sie mir nicht als Schriftstellerin, sondern wie das Ideal einer Familienmutter vor. Gemessen, doch voller Grazie in ihren Bewegungen, ein freundliches Lächeln um den Mund, streckte sie mir ohne Umstände die Hand entgegen und lud mich zum Sitzen ein.

Es war um die Frühstücksstunde, ungefähr elf Uhr Vormittags. Um den Tisch saß die ganze Familie: ihr Sohn Maurice, der den Namen Sand angenommen hat, den seine Mutter berühmt gemacht, und seine Schwester Solange Clesinger, Beide mit ihren Ehehälften und Kindern. Auch einige Gäste saßen da, von denen ich nur den alten Hausfreund und Hausarzt Dr. Favre nennen will, der mir schon von Paris her wohl bekannt war. Er ist zugleich der Intimus von Alexander Dumas Vater, der durch ihn in das Gebiet der Physiologie eingeführt und zum Danke dafür in Dumas’ neuestem Stück „L’Etrangère“ als geistvoller Doctor Remonin auf die Bühne gebracht wurde.

Das Dejeuner war bereits vorüber, ohne daß Madame Sand, die kurz vorher aus ihrem Studirzimmer getreten, daran Theil genommen hätte. Ihr Couvert lag noch unbenützt am bestimmten Platze. Da sie bis tief in die Nacht hinein zu arbeiten pflegte, so stand sie gewöhnlich des Morgens ziemlich spät auf und traf erst gegen das Ende des Frühstücks im Speisesaal ein.

„Guten Tag, meine Kinder!“ sagte sie, nachdem sie mich willkommen geheißen. Dann reichte sie Allen die Hand und ließ sich von ihren Enkelinnen umarmen, indem sie für jedes ein herzliches Wort hatte. Während dieser Familienscene stand ich abseits und hatte reichliche Gelegenheit, die Erscheinung der berühmten Frau zu betrachten. Man sieht einen Menschen dann am besten, wenn er uns nicht sieht.

George Sand war von untersetzter Statur und vom Alter in ihren natürlichen Formen etwas beeinträchtigt, doch merkte man ihrer Haltung nicht die geringste Erschlaffung an. Man hat die wenig gewählte Bemerkung des unverbesserlichen Spötters Heine, der zeitweilig dieser Frau ziemlich nahe gestanden und eine aufrichtige Bewunderung für sie hegte, vor Jahren in Paris sehr übel aufgenommen, wonach George Sand’s Kopf einige Aehnlichkeit mit dem – Haupte eines Hammels haben sollte. So geschmacklos oder doch respectwidrig dieser echt Heine’sche Vergleich auch ist, eine gewisse Wahrheit kann ihm nicht abgesprochen werden. Daran ist vor Allem die Haarfrisur der Dichterin schuld, die ihrem Kopfe, von vorn gesehen, etwas Dreieckiges giebt. Sie trug ihr reiches Haar ein wenig nach griechischer Art: zwei leicht gewellte Strähne umrahmten die niedrige Stirn fast bis zu den Enden der Augenbrauen und verdeckten unter einem hohen, staffelförmigen Wulst die Ohren beinahe ganz. Allgemein nahm man an, daß die Dichterin, seitdem sie vom Typhus befallen war, der Natur mit falschen Haaren zur Hülfe kam. Erst der Tod bestätigte die Unrichtigkeit dieser Meinung: bei der letzten Toilette fand man den wundervollsten, mit wenigen Silberfäden gemischten natürlichen Haarschmuck und konnte nicht begreifen, welch eigenthümlicher Coquetterie halber die geniale Greisin ihn mit so vieler Sorgfalt verheimlichte. Wahrscheinlich trug auch die kräftige Nase und die unendliche Oberlippe das Ihrige zu der von Heine verkündeten Aehnlichkeit bei. Was mir am meisten in diesem Antlitz imponirte, das war die schwungvolle Zeichnung der Linien des Gesichts. Die Züge waren groß, beinahe zu männlich. Und dann diese Augen! Von der nämlichen Schwärze wie ihr Haar, hatten sie noch viel von dem inneren Feuer beibehalten, doch erschien dies in der Ruhe unendlich gemildert und verlieh dem ganzen Antlitz etwas Sinnendes, Melancholisches. Man könnte sich in ihren großen unergründlichen Augen baden, meinte einmal Théophile Gautier. Mund und Kinn waren schon vom Alter entstellt; letzteres schien klein und energielos, und der Mund mit den unfeinen Lippen mag niemals schön gewesen sein. Auf ihrem einst weißen Teint lag es jetzt wie die helle Bitumenkruste gewisser vlämischer Portraits, womit der weiße Hals und die aristokratischen Hände gewaltig im Widerspruch standen. Das Ganze athmete Ruhe, Wohlwollen, Geist.

Ich wußte von gemeinschaftlichen Freunden, daß George Sand gegen Fremde bei einer ersten Begegnung viel Schüchternheit, ja oft gänzliche Unbeholfenheit zeigte, überhaupt zu keinen Zeiten in ihrer Unterhaltung durch Witz und Geist glänzte. Bestätigt doch selbst Musset, der ihr wahrlich kein Fremder war, daß ihr Geist langsam arbeite und daß sie träge im Sprechen sei. Ich erinnerte mich jener Unterhaltung, die vor vierunddreißig Jahren Karl Gutzkow mit ihr führen wollte und in der sie ihm mehr zu errathen, als zu hören gab. Freilich war sie damals in der harten Schule des Lebens, in einer verbissenen, mißtrauischen Stimmung, während jetzt jene bewegten Stürme längst über sie hinweg gegangen und ein stiller, friedlicher Lebensabend der vielgeprüften Frau zu Theil geworden war. Gleichwohl bedauerte ich einen Augenblick beinahe, nicht dem Beispiele des vortrefflichen Beaumarchais-Biographen de Loménie gefolgt zu sein, der auf den originellen Einfall kam, sich als Schornsteinfeger bei der schüchternen Frau einzuführen, um sie weniger genirt und weniger genirend studiren zu können.

Ein alter Diener brachte auf einem Teller mehrere soeben angekommene Briefe und Zeitungen. Ein Jedes nahm seinen Theil, und das Eßzimmer wurde zum Lesecabinet. Man las und plauderte, schritt auf und ab, bildete Gruppen oder ging in den Garten.

„Entschuldigen Sie!“ sagte die Dichterin zu mir, „erst lese ich meinen Courier, sonst lege ich die Briefe beiseite und vergesse sie ganz. Ich lese alle Briefe, die mir zukommen, es sei denn, daß sie unleserlich geschrieben sind. Freunden antworte ich umgehend und Unbekannten je nach Stimmung.“

Ihr Organ klang sehr angenehm, obgleich ein wenig verschleiert. Nun sah ich, wie die weißen, fleischigen Händchen in nervöser Hast die Briefumschläge aufrissen und die träumerischen Blicke sich belebten. Sie überflog den Inhalt; ihre Art, dies zu thun, zeigte nichts von der sonst dem Alter oft eigenen Pedanterie. Bald erhob sie sich von ihrem Sitze. Wir machten plaudernd einen Gang durch den Garten und das angrenzende Dorf.

„Sie ist eine feine Horcherin,“ hat Heine einmal von ihr gesagt. Mit Recht. Während unseres Spaziergangs, wobei sie mir die Herrlichkeiten ihres Daheims zeigte, sprach sie sehr wenig, war aber ganz Ohr und beobachtete mich heimlich auf’s Schärfste. Oft sah ich, wie ihre Augen forschend minutenlang auf mir ruhten und sich selbst das gleichgültigste Wort nicht entgehen ließen; trafen sich dann zufällig unsere Blicke, so schlug [522] sie eingeschüchtert die Augen nieder, und das Alles mit einem mädchenhaften Ausdruck, der die ehrwürdige Greisin ungemein reizvoll kleidete. Wir führten unsere Unterhaltung theils französisch, theils italienisch. Fehlte mir dann, wie es oft sogar in der eigenen Muttersprache zu gehen pflegt, ein Wort, ein Ausdruck, so kann sie mir sogleich zu Hülfe, was mir ein Beweis schien, wie aufmerksam sie meinem Geplauder zuhörte. Bei dieser Aushülfe zeigte sie eine seltene Schlagfertigkeit; man erkannte leicht, daß sie in der schweren Kunst, sich in die Denk- und Sprechweise Anderer hineinzuversetzen, eine große Virtuosität erlangt hatte. Um so angenehmer war es, ihr sein Herz zu öffnen, weil man sich eben verstanden wußte.

Wir suchten die schönsten Punkte des Gartens auf, der das Schloß, in dem die Dichterin geboren wurde und zwei Drittheile ihres Daseins verlebte, auf allen Seiten umgiebt und an die Dorfkirche von Nohant mit ihrem großen Schindeldach und kleinen viereckiger Thurm stößt. Tannen, Pappeln und Fruchtbäume beschatten den Park und verstecken fast ganz das herrschaftliche Haus, dessen hohes Dach und olivengrüne Fensterläden ihm ein patriarchalisches Aussehen geben. Ein anderes Gebäude, das den Namen Le Pavillon führt und ein thurmähnlicher, epheuumrankter Luginsland ist, gewährt einen reizenden Ausblick auf das umliegende „Schwarzthal“, wo ein großer Theil von George Sand’s Romanen spielt, ein Stück vom wald- und weidereichen, ebenen Berry.

„Im Winter ist es hier kalt und unfreundlich,“ sagte die Dichterin, „und da können wir uns weniger mit der eingeschlafenen Natur, sondern müssen uns mehr mit uns selbst beschäftigen. Dann ist ein reges Leben in unserem Hause. Wir haben viele Gäste, Eingeladene und Ungebetene. Da sollten Sie sehen, wie Diejenige, welche von der Welt für das Urbild der düstern Frau in Muffet’s „Octobernacht“ gehalten wird, mit einem Male lustig sein und ihre Gäste fröhlich machen kann! Ganz hinten im Garten ist unser kleines Privattheater, das siebenzig numerirte Plätze, eine ziemlich große Bühne und Decorations- und Costümir-Räumlichkeiten enthält.“

Dieses Haus war vor Jahren, als George Sand noch für das Theater schrieb, die Experimentalbühne der Dichterin, wo sie oft eben vollendete Scenen und Acte aufführen ließ, um die Wirkung zu prüfen. Nur hier sind jene Fragmente und Dramolets zur Aufführung gekommen, die später unter dem Titel „Theâtre de Nohant“ gesammelt erschienen sind und unter denen sich auch die Dramatisirung einer Novelle unseres Callot-Hoffman befindet, den George Sand so sehr bewunderte. Jetzt wurden hier blos noch Stegreifkomödien oder Marionettenstücke aufgeführt.


[536] „Mit den dramatischen Charaden begannen wir unsere langen Winterabende zu tödten,“ fuhr George Sand in ihrer Erzählung fort. „Dann kamen die Pantomimen, die Chopin bei uns einführte. Er improvisirte am Piano, während unsere jungen Leute auf der Bühne seine Inspirationen in Mimik umsetzten und komische Ballete dazu tanzten. Jetzt agiren unsere Marionetten, die mein Sohn zeichnet, malt und spielen läßt, während ich und meine Tochter für die Costüms sorgen.“

Maurice Sand ist ein talentvoller Maler, der sich auch als Schriftsteller einen guten Namen gemacht hat. Er schrieb mehrere Romane, einige naturwissenschaftliche Werke und ein sehr dankenswerthes Buch über die Commedia dell’ arte, das er selbst reizend illustrirte. Sein Atelier befindet sich im Schlosse neben demjenigen seines Schwagers Clesinger, der ein geschätzter Bildhauer ist.

„Mein Maurice,“ sagte mir George Sand, „gleicht ganz seiner Mutter. Er hat ein heftiges und empfindliches Herz, das immer in Flammen stehen muß, wenn es nicht zu Grunde gehen soll. Er theilt auch meine Theaterliebhaberei. In Paris besaß ich noch vor Kurzem ein Absteigequartier, wo ich oft wochenlang blieb. Jeden Abend besuchten wir irgend eine Schaustellung, doch zog ich immer die naivsten Stücke, die Pantomimen, die Feerien dem gediegensten Drama vor. Nicht selten besuchte ich die Folies-Bergère.“

Ich machte ein erstauntes Gesicht bei Nennung dieser zweideutigen Singspielhalle; sie bemerkte es, aber fuhr unbekümmert fort:

„In einer Loge wohl versteckt und hinter einem Vorhange, der mich den Blicken der Zuschauer ganz entzog, unterhielt ich mich köstlich an jenen Tänzen und Spielen, wo volksthümliche Komik herrscht und Maulschellen und Fußtritte für den Knalleffect sorgen. Gott hat mir eben die Wohlthat kindlicher Freude gelassen: ich bewundere, lache, wundere mich und lebe das Leben Anderer mit, wie die Kinder es zu thun pflegen. Das Wort Langeweile existirt nicht für mich.“

Uebrigens mangelte der berühmten Frau, trotz dieser ausgesprochenen Vorliebe, jedes intensivere Talent für das Theater, obschon sie eine große Anzahl von Stücken geschrieben und mit zwei oder drei davon nachhaltige Erfolge errungen hat. Ihr Talent war für die Novelle so viel, für das Drama so wenig wie möglich geeignet. Getreu ihrem Vorbilde Rousseau, diesem Apostel des Gefühls, glänzte sie durch ihr beschreibendes Kunstvermögen, aber das Theater verlangt Handlung und Charakter und weiß mit der bloßen Inscenesetzung von Gefühlen blutwenig auszurichten. Dazu kommt noch, daß die Mehrzahl ihrer Schauspiele dramatisirte oder besser gesagt: dialogisirte Romane oder Novellen sind und ihren Ursprung nur zu sehr verrathen.

„Weil ich mein Lebtag herzlich wenig von der Dramenmache begriffen habe,“ gestand sie mir, „so verband ich mich bei der Theatralisirung meiner Schriften nicht ungern mit einem Mitarbeiter. Paul Maurice z. B. hat einige Stücke mit mir unterzeichnet. Weniger bekannt dürfte sein, daß Alexander Dumas Fils mir bei meinem erfolgreichsten Stück, dem ‚Marquis de Villemar‘, geholfen hat. Ohne seine Mitarbeiterschaft wäre mir der Wurf wohl schwerlich gelungen. Energie im Führen der Handlung und Schlagfertigkeit im Dialag, die sich in diesem Stücke finden, sind nicht meine Tugenden.“

Welche übergewaltige Anziehungskraft muß das Theater auf den modernen Schriftsteller ausüben, wenn sogar ein solches Talent, das sich über seine Grenzen keiner Täuschung hingiebt und auf anderem Gebiete die größten literarischen Erfolge der Neuzeit errungen hat, sich doch immer und immer wieder der verlockenden Bretterwelt zuwendet! George Sand machte mir das Geständniß, daß sie zur Zeit außer an angefangenen Romanen an zwei großen Dramen arbeite. Dies Alles ist unvollendet geblieben, weil ihr der Tod die Feder aus der Hand nahm.

Als wir unter solchen Gesprächen durch den Park gingen und den Küchengarten streiften, zeigte sie mir einem kleinen mit Tannen bewachsenen Hügel, deren Aeste bis über die Gartenmauer hinausreichen und ein Familiengrab beschatten. Es ist der Gemeindekirchhof, und die Eltern und zwei Enkelinnen der Dichterin ruhen dort.

„Dort drüben werde auch ich einmal schlafen,“ sagte sie mir. „Vielleicht bald; vielleicht läßt mich der Himmel noch ein wenig den Meinigen, denen ich nützlich sein kann. Auch möchte ich vorher noch so Vieles vollenden. Nicht daß ich so thöricht wäre, mich vor dem Tode zu fürchten, aber ich bin trotz meines hohen Alters frisch und rüstig genug, um noch ein Weilchen bei meiner Familie, meinen Dorfgenossen, meinen Blumen und meinen Vögeln zu bleiben.“

Arme George Sand!

Ja, die arbeitsame Frau, die erst im Tode ausruhen sollte, und doch Zeit und Stimmung fand, mit Blumen und Vögeln wie ein Kind zu spielen, schied ungern von dieser Welt, wo sie so viel Liebes zurückließ. Schon die Vögel! Durch ihre Mutter Enkelin eines Vogelhändlers, bestand ein geheimer Zauber zwischen ihr und der gefiederten Welt. Wie Goethe’s Lili oder die Heldin in ihrem „Teverino“, besaß sie die magische Kraft, die kleinen Sänger anzulocken und zu sich zu rufen; dann kamen sie von allen Seiten herbei und setzten sich vertraulich auf ihren Kopf, ihre Schultern oder ihre ausgestreckte Hand. Sie selbst hat es in der „Geschichte meines Lebens“ erzählt; man lese dort nur über Jonquille und Agathe, ihre angebeteten Hänflinge! –

Der Abend vereinigte die bleibenden und vorübergehenden Bewohner des Schlosses von Nohant, wie gewöhnlich, beim Diner. Eine Viertelstunde genügte der Poetin zur Toilette, welche einfach und dunkel, aber immer sorgfältig war. Dann begab sich die Gesellschaft in den Salon, der so echt bürgerlich aussieht. Einige Portraits großer Zeitgenossen zieren die Wände. Stühle, Tischchen und Fauleuils überall; ein Flügel und ein Pianino, worüber eine Pendüle aus der Rococo-Zeit; gegenüber das Kamin mit riesenhaftem Schirm davor und Lampen und Vasen auf dem Bord. Das sah Alles so gemüthlich, so heimlich aus. Nun gruppirte sich die Gesellschaft um den großen Tisch; George Sand und ihre Tochter und Schwiegertochter strickten, stickten und nähten, und während die Unterhaltung sich bald mit größerer, bald mit geringerer Lebhaftigkeit über alle möglichen Gegenstände verbreitete, nahmen die Damen des Hauses lebhaften Antheil an dem Salongeplauder. Sogar George Sand ergriff mehrmals das Wort, obwohl sie mehr zum Sprechen aufmunterte, als selber sprach. Ihre Einwürfe waren meist kurz, fast epigrammatisch klar und scharf und trafen immer den Kern der Sache; oft schlug sie auch eine helle Lache auf, wenn die Herren zu eifrig, zu heftig wurden. Ja, als – natürlich wegen der leidigen Politik – ihr Sohn und ein junger Pariser Journalist in Hitze geriethen und die Stimmen in aufregender Weise erhoben, da setzte sie sich unvermerkt an das Clavier und brachte mit dem kräftig angeschlagenen Tannhäuser-Marsch die streitenden Parteien zum Schweigen. O, süßer Zauber der Musik!

Wer die Stellen über die Tonkunst in der unter Chopin’s Einfluß geschriebenen „Consuelo“ kennt, weiß wohl, welch’ tiefes Verständniß George Sand in musikalischen Dingen besaß. So wenig Sympathie sie als echte Französin in ihren letzten sechs Lebensjahren für Deutschland und alles Deutsche empfand – wie sie denn auch in ihrem hyperpatriotischen Tagebuch aus der Kriegszeit von 1870/71 das Ihrige zur Verbreitung der Pendulenfabel beigetragen hat – so war sie doch immer so geschmackvoll, das neutrale Gebiet der Kunst von nationalen Voreingenommenheiten rein zu halten. Neben Chopin, mit dem sie einst innige Herzensbande verknüpft, waren es namentlich die Meister der deutschen Musik, für welche sie leidenschaftlich schwärmte. Am liebsten phantasirte sie über Mozart, Beethoven, Schumann, Mendelssohn, gönnte aber auch den Zukunftsmusikern das Wort.

„Ich liebe die unmittelbare Musik,“ sagt sie, „jene, die plötzlich wie ein uferloser Strom mit unbezwinglicher Naturgewalt aus der Seele quillt, die ganz Gefühl, Phantasie, Conception ist, die wilde Musik, wenn ich sie so nennen darf, weil sie keine Convention kennt und doch Harmonie und Wohllaut [537] ist. Während der Ausstellung von 1867 brachte ich fast alle Abende in einer kleinen Bierwirthschaft zu, wo sich eine Bande ungarischer Zigeuner producirte. Ach, der Csardas! Ja, jene Zigeuner, die wie die Vögel einer harmonischen Caprice folgen, spielten ganz nach meinem Sinn. Jene Tonfluthen, die jetzt in wildem Ungestüm aufjauchzen und dann wieder in seliger Wehmuth und Andacht hinschmelzen und hinsterben, schienen mir irdisches und himmlisches Glück und Leiden, alle Geheimnisse der zerstörenden und aufbauenden Naturgewalten zu offenbaren. Alles das und unendlich viel mehr hört man aus dieser Zigeunermusik. Ich bedaure, daß Liszt so gelehrt geworden ist.“

Sie sagte dies mit so viel innerer Erregung, daß die Schleier, welche ihre spröde Stimme gewöhnlich umhüllen, wie zerrissen schienen und die Worte voll, warm und klar hervordrangen, während ihre Hände mechanisch über die Tasten glitten und ein ungarisches Adagio von Miska Hauser vernehmen ließen. Dann erhob sie sich mit leise gerötheten Wangen und setzte sich still und fast verschämt wieder an den Tisch; nach einer Weile ergriff sie eine Cigarrette und zündete sie an.

Sie rauchte – das war das Einzige, das im Wesen der außerordentlichen Frau, die mit dem Alter ruhiger wurde, aber jung blieb bis zum letzten Augenblicke, von der Sturm- und Drangperiode übrig geblieben. Es war weniger ein Rauchen, als ein Spielen mit dem Feuer. Bald warf sie auch die erst zur Hälfte heruntergebrannte Cigarrette weg und ergriff, wieder ganz ein Weib, Stricknadel und Arbeitskörbchen; nun ergaben sich die drei Damen ihren Handarbeiten, ohne jedoch auf die Theilnahme an der lebhaften Conversation zu verzichten. Sie schneiderten Kleider und verfertigten Strümpfe und Schuhe für die bedürftigen Kranken und Champis (Findlinge) des Berry, denn alle Armen und Elenden des Departements pilgerten hülfesuchend nach dem Schlosse zu Nohant, wurden dort freundlich aufgenommen, beherbergt, gekleidet und verpflegt und mit Geld, Arbeit und Empfehlungen reichlich versehen. Sogar eine Apotheke befindet sich im Hause und der Dorfarzt mußte auf Kosten der Schloßfrau die kranken Landarmen unentgeltlich behandeln. Bei einer solchen Gastlichkeit und Freude am Wohlthun ist es nicht zu verwundern, daß die vierzigtausend Franken jährlicher Rente, die das ständige Einkommen George Sand’s bildeten, nicht ausreichen konnten und daß die greise Dichterin genöthigt war, mit der „Revue des deux Mondes“ einen Vertrag zu schließen, demzufolge sie gegen eine jährliche Rente zwei bis drei Novellen zu liefern hatte. Das kam ihr aber nicht schwer an – im Gegentheil! Die Arbeit war ihr von jeher eine Erholung gewesen, um so mehr, als sie sich bewußt war, für ihre Familie und für die Armuth zu arbeiten. Ich war Zeuge einer unendlich rührenden Scene, wo einige Dorfarme von der Poetin beschenkt wurden. Die armen Teufel hatten Thränen in den Augen und konnten vor Freude kein Wort über die Lippen bringen. Und George Sand? Ihr ging es nicht anders. Sie stand verlegen und mit nassen Augen da, denn nichts schüchterte sie mehr ein, als Danksagungen, sie, die sonst die Gewohnheit haben dürfte, solche zu empfangen. Man nannte sie nicht vergeblich zehn Meilen in der Runde: „La chère dame – die liebe Dame“.

Der echt weibliche Trieb der Wohlthätigkeit war die hervorragendste, stärkste Eigenschaft ihres Charakters; den Egoismus des Herzens, wie er sich unbewußt in der Liebe kundgiebt, kannte sie nicht. Sie war die fleischgewordene Selbstlosigkeit sogar in ihren zahlreichen Liebesverhältnissen. Diese Frau, welche die Geschichte ihres Lebens mit den Worten schließen durfte: „Ich prüfe mein Herz und finde es voll Unschuld und Barmherzigkeit, wie in den ersten Tagen meiner Kindheit,“ sie besaß nach ihrem eigenen Geständniß nicht jene verzehrende Sinnlichkeit, die man ihr so oft andichten wollte. Sie war doctrinär selbst an der Leidenschaft und stand immer über derselben, wie die Mehrzahl ihrer Romanheldinnen; wenigstens von ihrer persönlichen Seite lag all ihren Verhältnissen ein nichts weniger als selbstsüchtiger, sondern ein geradezu idealer Zweck zu Grunde. Immer war es dieser Wohlthätigkeitssinn, der sie jene Liebesbande schließen ließ, die ihr den Ruf der Immoralität, der Unbeständigkeit eintrugen. Nüchtern und kühl, nach reiflicher Ueberlegung, im Bewußtsein einer „Pflicht, die sie kalt erfüllte“, aber mit einem Herzen voll Mitleid, fast mütterlichen Gefühlen und ohne eigentliche Liebe, lebte sie in inniger Gemeinschaft mit Alfred de Musset und später mit Chopin. Sie bezeugt es selbst, und wir müssen es ihr glauben, daß sie den Ersten durch ihre Hingabe vor Selbstmord und gänzlichem Verkommen erretten wollte, und daß sie zu dem genialen Polen blos der Wunsch hintrieb, die Krankenpflegerin des unrettbar dem Tode verfallenen, weltverlassenen Schwindsüchtigen zu sein. Wenn diese platonischen Neigungen in der Folge naturgemäß ihre Unhaltbarkeit erwiesen, so ändert dies nichts an der Reinheit und Selbstlosigkeit ihrer Motive und steigert nur noch die Größe des Opfers, das man von ihrer Barmherzigkeit forderte.

Dieses Mitleid, dieses Gefühl rein menschlicher Liebe und samaritischen Wohlthuns liegt auch ihrer Parteinahme für die Emancipation des Weibes und des vierten Standes zu Grunde und findet ergiebigen Ausdruck in allen ihren Romanen, selbst in den Werken ihrer Jugend, wo die Moral oft schief und falsch, aber niemals niedrig ist. Die Sphäre von Einfachheit und Güte, worin sie lebte, war ihr Bedürfniß, und gern theite sie mit Anderen. Sie verstand es, echteste Cameradschaftlichkeit zu üben. Wie nachsichtig und aufmunternd war sie gegen Anfänger! Sie besaß weniger Feinheit des Urtheils – daher die moralischen und socialistischen Irrthümer ihres Lebens – als ein Uebermaß von Wohlwollen.

Es erschien in Frankreich nicht leicht das Werk eines Anfängers, ohne daß man sie um ihr Urtheil gebeten hätte. Ein solches Buch zeigte sie mir an jenem Abende, bevor sie sich in ihr Studirzimmer zurückzog, wo sie allnächtlich einige Stunden zu arbeiten pflegte.

„Das ist ein energisches, wahrheitsliebendes Buch. Es hat mir den Wunsch eingeflößt, besser zu werden und freigebiger gegen die Niedriggeborenen und Enterbten. Nachdem ich es gelesen, blieb ich zwei Tage ohne arbeiten zu können.“

Die edle Greisin wünschte also besser und barmherziger zu werden, noch mehr Gutes zu verrichten, als sie gethan hat. Ist das nicht rührend?

Noch sehe ich die „liebe Dame“, wie sie sich um Mitternacht von der Gesellschaft verabschiedete und, ein Lämpchen in der Hand, in’s Nebengemach ging, wo ihr unsterblicher „Marquis de Villemar“ geschaffen wurde. Ein kleines Bett aus Mahagoni mit großen Vorhängen und Medaillons, worauf die Geschichte des Telemach dargestellt ist, ein hölzernes Pult mit bequemem Lehnstuhle und an den Wänden die Portraits ihres Großvaters, des Marschalls Moritz von Sachsen, ihres Vaters, des Obersten Dupin, Adjutanten Murat’s, ihrer Mutter, ihres Sohnes und ihrer Enkelinnen – das ist ihr Studir- und Schlafzimmer.

In diesem Gemache und in jenem Lehnstuhle ist sie auch weniger als vierzehn Tage nach meinem Besuche gestorben und hat ihre Familie und Frankreich in Trauer und Bestürzung zurückgelassen. Ihr Leibarzt sagte mir, sie habe schon Monate vor ihren Tode unsäglich gelitten, ohne es ihrer Umgebung durch die leiseste Klage zu verrathen. Vielleicht verbarg das freundliche Lächeln, mit dem sie mich empfing und verabschiedete, den mit frischem Muthe bekämpften Ausdruck physischen Leidens. In ihrer achttägigen letzten Krankheit pflegte sie bei den heftigsten Qualen lautlos ihr Gesicht zu bedecken, wie die alten Römer es thaten, wenn sie ihr Ende nahe fühlten. Ohne Phrasen, wie sie gelebt, starb auch diese große Frau.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: fixirien