Dresdner Familienleben im Anfange des 19. Jahrhunderts

Zwei Schriften des Dresdner Liederdichters Kaspar Füger Dresdner Familienleben im Anfange des 19. Jahrhunderts (1895) von Paul Rachel
Erschienen in: Dresdner Geschichtsblätter Band 1 (1892 bis 1896)
Gottlob Friedrich Thormeyer
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
[223]
Dresdner Familienleben im Anfange des
19. Jahrhunderts.
(Nach Familienpapieren.)
Von Oberlehrer Dr. Paul Rachel.[WS 1]


Von einer Tochter eines meiner Urgroßväter ist ein sehr sorgfältig geführtes Tagebuch aus den Jahren 1808–1811, geheftet oder in losen Blättern, zum Theil erhalten. Es umfaßt auf etwa 204 eng beschriebenen Quartseiten folgende Zeitabschnitte: 6. Febr.–31. Dez. 1808; 1. Jan.–16. April, 8.–14. Mai, 14. Sept. bis 8. Okt., 23. Okt.–31. Dez. 1809; 1. Jan.–3. März, 30. März–19. Nov. 1810; aus dem Jahre 1811 ist nur ein kurzes Schlußwort vorhanden, das nach dem Johannistage eingetragen worden ist.

Aus dieser Uebersicht erhellt, daß gerade aus den für Dresden wichtigen Kriegsmonaten des Jahres 1809, da braunschweigische und österreichische Truppen die Stadt in lebhafteste Unruhe versetzten, keine Aufzeichnungen vorliegen. Ob solche gar nicht gemacht worden oder gerade ihres besonderen Interesses wegen in die Hände anderer gewandert und so verloren gegangen sind, ist nicht zu entscheiden. Fast scheint das letztere der Fall zu sein, da in den Stücken nach dem Krieg nie von einer Unterbrechung der Niederschriften die Rede ist.

[224] So einfach und oft unbedeutend die täglich gemachten Eintragungen auch sind, es läßt sich aus ihnen doch ein ganz hübsches Bild gewinnen von dem Leben einer guten Dresdner Familie jener Zeit im Hause, in der Stadt, sowie in deren näherer und fernerer Umgebung. Ja, dadurch, daß Sachsen damals ein vom französischen Kaiser sehr freundlich behandelter Bundesgenosse war und an den großen Entscheidungskämpfen mit theilnehmen mußte, läßt sich dann und wann auch der Wellenschlag jener bewegten Zeit in diesem Tagebuche verspüren.

Die Schreiberin ist die am 6. Februar 1790 geborene jüngere Tochter des Buchhalters und Hauptauswechselungskassirers Johann Gottl. Winkler. Sie lebte in dem jetzt noch auf der kleinen Schießgasse unter Nr. 1 stehenden Hause mit ihren Eltern, einer älteren Schwester und zeitweise auch mit einem Bruder, der gerade in jenen Jahren seine juristischen Studien auf der Universität Wittenberg abschloß und bald darauf in sein erstes Amt zu Hohenstein in der Sächsischen Schweiz, von wo aus er die Seinigen sehr oft besuchte, trat.

Die Familie bewohnte das dritte Stockwerk, dessen Vorderzimmer nach der Gasse, dessen Hinterzimmer auf den Wall und die Bastion Mars blickten.

Im unteren Geschoß, das die Beschießung im Jahre 1760 überdauert hat und noch heute alte Kreuzgewölbe zeigt, hatten die Königlich Sächsische Kassenbilletskommission, sowie die Hauptauswechselungskasse, deren Buchhalter der Vater war, ihren Sitz. Dadurch, daß das Bureau des Vaters in dem seiner Ehefrau gehörenden Hause war, verkehrten die jüngeren Amtsgenossen sehr oft in der Familie, darunter auch ein Vetter, der mit der Tagebuchschreiberin Schwester damals so gut wie verlobt war[1].

Diese Herren, von denen einer gelegentlich in einer schwarzen, mit Gold bestickten Sammetmütze sehr stattlich einherging, und noch viele andere Personen aus der Stadt, mit denen die Familie sehr befreundet war, verkehrten sehr oft zu Mittag oder zu Abend bei den Eltern, die ein sehr gastfreies Haus hielten. So verkehrten aber auch die Eltern häufig bei Freunden, namentlich bei dem damals sehr angesehenen Rechtskonsulenten Dr. Zange auf der Scheffelgasse.

Manche Abende waren die Töchter mit dem Vetter oder den Eltern zu Hause. Man unterhielt sich lebhaft, die Mädchen spannen oder strickten auch, wenn das Spinnrad, das in den Aufzeichnungen bald nicht mehr erwähnt wird, zerbrochen war. Sehr gern wurden auch allerhand Spiele getrieben: Passarowitz, Rothspitzchen, Tippen und Solo. Vorzüglich aber wurde Hausmusik gepflegt. Außer dem Klavier, zu dem auch gern gesungen wurde, werden Violine, Flöte und Harfe erwähnt. Bruder und Vetter bearbeiten die zwei ersten, die Schwester spielt die Harfe und singt dazu. Um recht viel Vorrath zu haben, schreiben die Mädchen fleißig Noten ab oder borgen sie sich aus. Nicht selten werden auch Geschichten aus den damals so beliebten Almanachen und Taschenkalendern vorgelesen. In stillen Stunden versenkt sich wohl auch eins der Mädchen in ein Buch von Kotzebue, das mit Entzücken gelesen wird. – Waren die Schwestern des Abends etwa allein zu Hause, dann tanzten sie vergnügt mit einander, um sich immer vorzuüben, wenn ein Ball auf der Post (Landhausstraße) bevorstand. Mancherlei Unterhaltung boten die im Hause gepflegten Thiere. Da gab es einen treuen Hund Tamino, eine schnurrende Katze und im Hofe etliche Kaninchen. Von Kanarienvögeln hören wir nichts, wohl aber von Kreuzschnäbeln und Rothkehlchen; ja eine Zeit lang sind zahme Rebhühner die Begleiterinnen der Mädchen in den Zimmern, einmal sogar beim Spaziergang.

In der Fastnachtszeit verkleiden sich die Schwestern und überraschen die Ihrigen; an Geburtstagen werden harmlose Scherze aufgeführt. An einem solchen Familienfesttag, da es galt, draußen vor dem Plauenschen Schlage (auf dem Garten) das Geburtsfest einer Tante zu feiern, wurde mitten im Garten eine Pyramide mit der Inschrift: „Gott erhalte die gute Mutter“ angezündet. Ein Gast hält eine Rede in schönen Versen, die er dann überreicht; um die Geburtstägerin selbst wird aber feierlich eine Guirlande gelegt.

Außer dem Hause bieten mancherlei musikalische Aufführungen große Genüsse. Man geht ins Oratorium, das der Cantor Weinlig selbst komponirt hat und in der Kreuzkirche aufführt; Wohlthätigkeitskonzerte füllen die Frauenkirche bis auf den letzten Platz. In den am Mittwoch im Gewandhause abgehaltenen Dilettantenkonzerten werden Sänger und Sängerinnen, auch Instrumentalkünstler bewundert. Bläst doch einmal ein Herr die Flöte so, daß „man sich in eine andere Welt versetzt fühlte“; ein andermal wird das Klavierspiel eines zwölfjährigen Mädchens, also eines Wunderkindes jener Zeiten, rühmend genannt. Auch in der Konversation[2] wird Musik gehört.

Es wurden zum ersten Male die selbstthätigen Musikwerke gezeigt, die der Sohn des Uhrmachers Kaufmann erfunden hatte. Diesen wird sehr viel Lob gespendet. Auch andere mechanisch-technische Aufführungen reizen zum Besuch. So werden einst in der Harmonie etliche „Kunststücke in der Elektrissität“ gezeigt. [225] Von großem Eindrucke ist ferner eine auf dem Brühlschen Garten aufgestellte Camera obscura. In wahre Aufregung wird aber die ganze Familie versetzt, als sie zum ersten Male dazu kommt, einen Luftballon steigen zu sehen. Alle dazu getroffenen Vorkehrungen und Maßnahmen werden ausführlich geschildert. Die Trompeter blasen es in der Stadt aus, und eine neugierige Menschenmenge sammelt sich auf den Elbwiesen. Unter allgemeinem Staunen erhebt sich der Ballon; doch geht es auch nicht ohne Unglück ab. Der Ballon fängt Feuer, und mit Mühe wird der kühne Luftschiffer gerettet.

Vergnügen niederer Art bietet die „Bude“. Und doch erkennt die Schreiberin mit ausdrücklichen Worten die große Kunstfertigkeit an, mit der Hunde und andere Thiere abgerichtet sind.

Erfreulich ist es, wie die beiden Schwestern eifrig an ihrer Weiterbildung gearbeitet haben. Schon hatten sie mit dem Bruder eine Zeit lang Französisch studirt. Da entschlossen sie sich, bei einem Franzosen, Namens Mangeard, dessen Muttersprache zu lernen. Manchen Nachmittag haben sie in der „Grammaire“ tüchtig gearbeitet, Lesestücke übersetzt und Briefe entworfen. Zwischen ihnen und dem alten Herrn, den wir uns wohl mit Perrücke, Kniehosen und Schnallenschuhen, den Dreispitz unter dem Arme vorstellen dürfen, entwickelte sich ein sehr gemüthliches Verhältniß. Wie er öfter der Gast des biederen Vaters und der oft kränklichen Mutter war, so hat auch er einst die Schwestern artig und zierlich gebeten, bei ihm eine Gans zu verspeisen. Und gar lustig hätten sie dabei sein können, wenn nicht ein auch mit eingeladener Franzose über seine „Eroberungen beim Frauenzimmer“ albern geprahlt hätte.

Nachdem sie etliche Monate bei Monsieur Mangeard, der für die Stunde 12 Groschen nahm, studirt hatten, fanden sie doch, daß er etwas zu alt sei, denn er schlief manchmal in der Lektion ein; deshalb dankten sie ihn ab und nahmen eine Französin an.

Pflege der Bildung, Erheiterung des Gemüthes genossen sie aber noch häufig in deklamatorischen Vorträgen und in der „Komödie“. In jenen erscheint Schillers Name häufig; sein „Fridolin“, der Monolog aus der Jungfrau: „Lebt wohl, ihr Berge u. s. w.“ werden zum höchsten Entzücken der Zuhörer und Zuhörerinnen vorgetragen; schon werden auch Gedichte von Tiedge genannt.

Ganz besonders fleißig aber besuchten die Mitglieder der Familie das Theater, in dem für gewisse Tage zwei Plätze fest genommen wurden. Damals gab es in Dresden die vom Hofe unterhaltene italienische Oper, sowie die vom Hofe unterstützten zwei Schauspieler- und Sängergesellschaften von Franz und Joseph Seconda. Die Leiter waren Söhne eines in Dresden lebenden Delikatessenhändlers. Franz Seconda, ein wohlwollender, aber rein geschäftsmäßig arbeitender Direktor, pflegte im Schauspielhause Tragödie, Schauspiel und Lustspiel, während Joseph Seconda auf dem Linke’schen Bade die deutsche Oper vertrat.

Die Familie Winkler hat die italienische Oper, das Ballet und die deutsche Oper ganz selten besucht; zumeist die Vorstellungen der Franz Secondaschen Truppe. Von den etwa fünfzig Stücken, die erwähnt werden, sind nur noch wenige heute bekannt. Denn wie Prölß[3] ausführlich dargelegt hat, wurden damals weniger die Klassiker, als die Modedichter gepflegt. So beherrschen Iffland und Kotzebue die Dresdner Bühne, und es begegnen uns Titel, wie die Jäger, das Landhaus an der Heerstraße, Pachter Feldkümmel, Pagenstreiche.

Alle romantischen Stoffe, wie Ritter Bayard oder eine Agnes Bernauerin, veranlassen die Tagebuchführerin zu langen Niederschriften, in denen auch die Leistungen der Schauspielertruppe beurtheilt werden. Viel Lob ernten Madame Schirmer, Madame Hartwig und namentlich der künstlerische Leiter des Ganzen, der Regisseur Opitz. Als dieser 1810 stirbt, ist sie, wie gewiß viele Dresdner, von seinem Begräbniß, das sie gesehen, ganz erfüllt; wehmüthig schreibt sie: Das war nun seine letzte Rolle! Von den Namen der Sänger und Sängerinnen, die sie nennt, wird noch manchem Leser der Sassarolis und der Frau Luigia Sandrini († 1869) bekannt sein.

Von Goethe hören wir nichts; von Schiller, dessen Braut von Messina sehr entzückt, viel zu selten. Shakespeares Hamlet und Macbeth werden bewundert, doch flößt dieser, der „noch barbarischer als Hamlet“ ist, Schrecken ein, denn „die Hexen machten es gar zu schlimm“.

Viel Lärm um nichts wird unter dem Titel „die Quälgeister“ gegeben, hat aber nicht sehr gewirkt. Bei den Stücken, die aufgeführt wurden, geschieht es oft, daß 2 oder 3 Theile an verschiedenen Abenden nach einander auf der Bühne erscheinen. So sieht sie einmal Columbus I. Theil; dann wieder Fridolin II: Der Brautschmuck.

Den Schauspielern wird der Beifall am Schluß oft in so lärmender Weise gebracht, daß die Ankündigung der nächsten Vorstellung in der Aufregung kaum gehört wird. Wenn die Mädchen aus dem Konzert oder dem Theater kommen, stellen sich die Stutzer reihenweise auf, um sie passiren zu sehen; beim nächtlichen Gange durch die Straßen werden sie trotz des begleitenden Dienstmädchens oder Taminos von [226] ihnen fremden Herren verfolgt und mit Redensarten belästigt. Gern kam wohl der Vater oder der Vetter ans Komödienhaus, und man ging zu Colls, um sich noch mit einem Glase Bier zu stärken, oder zu Specks, um ein Gläschen Malaga zu trinken.

Und damit kommen wir zu den Orten, nach denen damals die bürgerlichen Familien der Stadt gingen, um sich zu erholen. Am meisten in die eben genannten Wirthschaften, aber auch zum Speisewirth Reh, der ihnen Käsekäulchen aufhebt. Selten verweilen sie im Rathskeller oder im Polnischen Brauhaus. Weitere Ziele sind ihnen Kammerdieners, Findlaters, Reisewitzens, sowie die Fasanenwärter und der Hofgärtner im Großen Garten.

Die nächste Erholung bot ihnen ja nicht der zuletzt genannte, so berühmte Ausflugsort. Wenn es galt, schnell frische Luft zu schöpfen, so gingen sie gleich hinter das Haus auf den Wall zwischen dem Pirnaischen Thore und der Bastion Mars. Dort, wo sich eine doppelte Reihe schöner hoher Bäume hinzog, haben sie oft gesessen, gelesen, geplaudert und gestrickt. Noch können wir uns eine Vorstellung von diesem baumgeschmückten Walle machen nach den vom Verein für Geschichte Dresdens herausgegebenen Kannegießer’schen Zeichnungen; die Nummern 52, 58, 61, 62 zeigen uns den Wall von verschiedenen Standpunkten aus, wie er zwischen Thor und Moritzmonument gewesen ist. Heute ist das alte Gemäuer, auf dem sich „der Berg“ des nun auch verschwundenen botanischen Gartens erhebt, der letzte Rest jener alten Befestigungen.

Ein vor 1812 vom Maler Gränicher gezeichnetes und noch vor 1818 gestochenes und in Buntdruck von Sprinck herausgegebenes Bild[4]: „Aeußere Ansicht vom Pirnaischen Thor zu Dresden, wie es vor der der Demolirung Anno 1812 war“ giebt uns eine Vorstellung vom Thor, den beiden Wachthäusern, rechts und links. Ueber dem jetzt auch dem Abbruche verfallenen Hause Amalienstraße Nr. 1 und den hohen Wallbäumen sieht man das steile Dach des Hauses Schießgasse Nr. 1 emporragen. Als im Jahre 1810 die Bauern die Abtragung des Walles beginnen, wird dem jungen Mädchen ganz traurig zu Muthe, denn wie viele glückliche Stunden hat sie dort plaudernd und strickend verbracht. Wenn aber der Vater dann und wann nach anderen Theilen der sinkenden Festungswerke geht, um sich vom Fortschreiten der Arbeit zu überzeugen, interessirt sie sich lebhaft dafür. Den Vortheil, den diese Demolirung der Stadt bringt: nicht mehr belagert und bestürmt zu werden, erkennt sie sehr wohl; sie ahnte nicht, daß sie noch die Schreckenstage von 1813 erleben sollte.

Vom alten Walle eilt man gern auf den Brühlschen Garten, um sich dort zu ergehen oder das schauerlich schöne Bild des Eisganges zu beobachten. Eine starke Anziehungskraft übte namentlich die „Neustädter Brücke“ aus, wie sie sie meist nennt. Fast jede Woche wird mindestens einmal hinüber nach Neustadt gegangen, zum schwarzen Thore hinaus, zum weißen Thore hinein. Manchmal wird der Spaziergang bis nach Neudorf oder Pieschen, am Wasser entlang, nach den Schiffmühlen ausgedehnt. War man dann noch im Verlauf des Nachmittags nach der Wohnung zurückgekommen, so gingen die Männer in den Abendstunden wohl noch ein zweites Mal über die Brücke und wieder zurück. Noch hatten sie dabei das architektonisch und landschaftlich gleich schöne Bild vor ihren Augen, wie es auf unseren Canalettostichen so reizvoll und wechselnd erscheint.

Während die Familie ganz selten nach Blasewitz, auch nicht sehr oft nach Plauen geht, werden die Schritte gern nach dem Großen Garten gerichtet. Bei dem oben schon erwähnten Fasanenwärter oder beim Hofgärtner wird eine delikate Semmelmilch eingenommen, wie denn überhaupt fast nie vom Bier- oder Kaffeetrinken die Rede ist. Auch in Winterszeiten ist der schöne Park beliebt; dann werfen sich die Mädchen sogar an Sonntagnachmittagen mit Schneeballen oder sie lassen sich – ebenso wie auch auf der zugefrorenen Elbe – auf der Eisfläche des Teiches munter im Stuhlschlitten hin- und herfahren; vom Schlittschuhlaufen hört man aber nichts. Eines schönen Wintertages genießt die Familie auch die volle Freude des Schlittenfahrens, und zwar durch die Güte des befreundeten Hofbuchdruckers Meinhold, der sie nach Pirna und wieder zurück fährt.

Der Verkehr mit dieser alten Dresdner Familie bringt in das Haus des Buchhalters Winkler mancherlei Abwechselung. Sie besaß schon damals einen Weinberg in der Lößnitz, zu dem öfters gewandert wurde. Oft auch begegnete zur Freude der Frauen schon bei Pieschen der Wagen des Hofbuchdruckers den wandernden Freunden, denen er entgegengeschickt worden war. Lustig fuhr man hinaus, und lustig verbrachte man den Nachmittag im Garten, auf dem grünen Gras. Alljährlich ging es zur Weinlese hinaus; man schnitt selbst die Trauben ab, kelterte sich Most und feierte dann, „der Ernten schönste!“ Für das rege Leben bei Meinholds sprechen auch Theateraufführungen, die die Kinder im Winter in der Stadt, Erwachsene im Sommer draußen auf dem Hofe des Weinberggrundstückes versuchen. Eine solche größere Gesellschaft, an der auch der bekannte Hofrath Böttiger theilnahm, wurde zum Schluß noch durch eine festliche Illumination geehrt. – Elbaufwärts wurden die Pillnitzer Gelände, namentlich wenn [227] militärische Lager aufgeschlagen waren, einige Male besucht. Eines Tages drang die Gesellschaft, durch bekannte Hofbeamte geführt, bis in des Königs Speisesaal vor, wo man denn mit besonderer Andacht den Landesvater das Mahl einnehmen sah.

Auch Schloß Moritzburg wurde in jener Zeit schon gern besucht. Es regnete am Morgen des 10. Mai 1808, da man an das große Unternehmen ging, etwas, aber trotzdem fuhr man ab. Die Schwestern strickten im Wagen. Sie kamen bei gutem Wetter in Moritzburg an, besahen sich den Jahrmarkt, auf dem lebhafter Pferde- und Ochsenhandel getrieben wurde. Dann besichtigten sie das alte Schloß, dessen Ledertapeten und großer Speisesaal, in dem nicht lange vorher Kaiser Napoleon und König Friedrich August zur Tafel gesessen hatten, und dessen Kapelle ihnen sehr wohl gefielen. Wie freut sie sich über die munteren Jagdhunde, denen damals auch ein Besuch abgestattet wurde, und über die Gold- und Silberfasanen, die „gleichsam durch ihre Gebärden Gott für die ihnen verliehene Schönheit dankten“. Das Schiff, das man in jener Zeit noch besteigen konnte, bestiegen sie aber nicht, da der Schiffmeister andere Fremde im neuen Schloß herumführte. Von der Fütterung des Wildes, jetzt ein Hauptspaß der Einheimischen und der Fremden, hören wir nichts. Auf der Rückfahrt im offenen Wagen freuen sie sich alle des milden Abends, des herrlichen Blickes in die hohe Allee; dann aber wird wieder gestrickt, bis der Wagen durch das weiße Thor nach der „Neustädter Brücke“ gelangt. Da „divertirt“[5] es die Schreiberin, daß die Leute die „Herrschaften“ in der Kutsche so anstaunen.

Zweimal hat die Familie Winkler ihre Ausfahrten etwas weiter ausgedehnt. Im Jahre 1808 wurde Schandau, 1810 Teplitz auf je drei Wochen besucht. Von dem Aufenthalte in der Sächsischen Schweiz ist einiges merkwürdig. Im Wagen fuhr man – über Pirna und ‚Quärlequietzsch‘ – hin, im Schiff zurück; bei der Rückfahrt war man in großer Angst, denn ein Gewittersturm zwang vorübergehend zum Landen, und erst nach beinahe zwölfstündiger Fahrt stiegen die Reisenden am Elbberge aus.

Während ihres Aufenthaltes in den Bergen hatten die Mädchen Schwierigkeiten, die damals schon berühmten Punkte, wie den Kuhstall, den Lilienstein, den Winterberg und das Prebischthor, zu besuchen, denn sowohl die herrschende Sitte, als auch die Sorge der Eltern, verbot „Frauenzimmern“ solche gefährliche Wanderungen. Nur durch listige Täuschung der Eltern gelang es den Schwestern, im Anschluß an andere Personen, Winterberg und Prebischthor zu besteigen. Beide Punkte begeistern das junge Mädchen zu gefühlsseligen Schilderungen. Auf diesem schrieben sie ihre Namen auf eine Papierrolle, die sie in „einer der vielen dort befindlichen Höhlen“ verbargen; auf jenem überraschte sie ein heftiger Regen, so daß sie eilig hinab wanderten, den Führer aber mit dem mitgenommenen gemahlenen Kaffee nach Schmilka vorausschickten, wo sie ein wärmender Trank erwarten sollte.

Der Abschied von den Bergen, in denen sie „durch die Kühe auf der Weide und durch den Hirten, der sich sein Liedchen nicht nehmen ließ“, ganz in die Schweizer Gegend versetzt worden waren, fiel ihnen nicht leicht, und noch manchmal blickten sie vor dem Pirnaischen Schlage sehnsüchtig nach den aus der Ferne winkenden Höhen.

Nach ihrer Rückkehr giebt sich die Familie dem gewohnten gemüthlichen Leben hin; nur selten ereignen sich besonders merkwürdige Dinge. Ihre Wanderungen führen sie außer nach dem Großen Garten, damals auch noch nach Maxens, nach Antons Garten[6]. In diesem werden sie von einem heftigen Unwetter überrascht; sie flüchten sich nach dem Palais und beobachten von ihrem Zufluchtsorte aus eine glänzende Assemblée, die in den Prachtgemächern des unteren Stockwerkes abgehalten wird.

Wie kleinstädtisch die Verhältnisse noch waren, zeigen etliche Niederschriften über Leichensingen und Begräbnisse. Als Frau Kaufmann Roch, die in der Salomonisapotheke wohnte, gestorben war, sangen die Schüler am Abende, Fackeln tragend, vor dem Hause. Das Begräbniß einer Frau Oberböttcher Scheunert mußte um einen Tag verschoben werden, weil wegen des Jahrmarkts der Zug sich nicht ordentlich durch die Stadt bewegen konnte. Während er dann über den Neumarkt ging, traten die Herren in der Salomonisapotheke alle vor den Laden; die Schreiberin selbst betrachtete lange das herrliche Leichentuch.

Das gemüthliche Zusammenleben der Familie wurde im Herbste durch die Abreise des Sohnes nach Wittenberg zur Trauer der ihn zärtlich liebenden Schwester gestört. Der Student der Rechte fuhr mit etlichen Kommilitonen auf einem Schiffe die Elbe abwärts. Da es [228] – es war der 21. Oktober – schon frisch war, versorgten sich die vorsichtigen Musensöhne mit – einem Ofen. Eine Winterreise zu Weihnachten von Wittenberg nach Dresden wagte damals der Bruder Studio wohl nicht leicht. Als Entschädigung sendete er seine Silhouette. Die Bescheerung an diesem Feste dürfen wir uns nur ganz einfach vorstellen. Es wird weder von einem Baume, noch von einer Pyramide gesprochen. Jedes Familienglied schenkte dem anderen einen nützlichen Gegenstand.

Der Winter 1808 zu 1809 hat Dresden mancherlei Unruhe durch Soldatenmärsche und Einquartierung gebracht. Sie hat für die französischen Truppen meist ein Wort der Bewunderung. Sie erwähnt ehrfurchtsvoll die großen Bärmützen und berichtet, wenn die in die Stadt eingezogenen Marschälle beim Könige speisen.

Das Jahr 1809 rief in Dresden ganz außergewöhnliche Bewegung hervor. Wenn nun auch leider für die Zeit, in der durch österreichische Besatzung viel Unruhe ausbrach[7], die Erlebnisse nicht aufgezeichnet vorliegen, so hören wir doch mancherlei über die Vorbereitungen zur Befestigung und Vertheidigung der Stadt Dresden.

Am 26. Februar ergeht in der Stadt das erste Geschrei, die Oesterreicher würden als Feinde kommen. Schon am 27. ist auf dem Wall mancherlei Bewegung bemerkbar, die Zugbrücke am Pirnaischen Thore wird probirt. Der Bau von Schanzen an der Elbe wird am 19. März erwähnt; am 20. lockt ein Besuch der Schiffbrücke bei Uebigau. Es gab ferner Gelegenheit, den Fürsten Bernadotte auf der Meißnischen Gasse mit zahlreichem Gefolge einreiten zu sehen. Er erschien ihr als ein sehr schöner Mann von sehr kriegerischem Ansehen. Der König aber, der am 31. März ganz wohl und munter aus Polen ankam, erhielt in der ersten Hälfte des April gar keine guten Nachrichten, wie der Minister dem Vater sagen ließ. Die Kriegsanstalten in der Stadt wurden stärker und stärker; viele Kanonen rasselten aus dem nahe gelegenen Zeughause; noch nie hatte sie so viele Leute auf dem Walle gesehen. Zu Ehren Bernadottes, des Fürsten von Pontecorvo, wurde dessen Absteigequartier, das Brühlsche Palais, glänzend illuminirt. Bald wird es ernster; es werden Staatsgelder aus Wittenberg über Dresden mit den Kassenbillets nach dem Königstein geschafft, von wo sie erst am 16. September zurückgebracht worden sind. Was die Familie selbst an Sorge und Angst durchgemacht hat, ist uns, wie schon oben erwähnt wurde, nicht überliefert. Wir hören erst wieder vom 23. Oktober ab über etliche Vorgänge in der Stadt. So wird am 29. Oktober die Stadt glänzend erleuchtet. Besonders gefällt ihr die Inschrift am Hause des französischen Kommandanten auf einem „Napolionssterne“: L’union éternelle entre la France et la Saxe.

Am 23. Dezember wird der zurückkehrende König feierlich empfangen; mitten in den Festlichkeiten verbreitet sich das Gerücht, daß sich der französische Kaiser von seiner Gemahlin habe scheiden lassen[8].

Wenn wir aus dem Jahre 1810 hören, daß auch sie mit ihrer Familie am 15. August hinaus nach Laubegast zu gegangen ist, um ein Napoleons Geburtstag zu Ehren abzubrennendes Feuerwerk zu sehen, so mahnt uns dies und jene oben erwähnte Inschrift an die bedauerlichen politischen Zustände des damaligen Sachsens und Dresdens. Man nimmt das angebliche Bündniß mit Frankreich als ganz naturgemäß hin, freut sich über die herrliche französische Armee, sucht aber möglichst um Einquartierung herumzukommen. Von der Trostlosigkeit des ganzen politischen Zustandes hatte man ja wohl am Hofe und in den Adelskreisen wenig Begriff; in den von der Regierung abhängigen Beamtenkreisen wird das kaum anders gewesen sein.

Unter den späteren Folgen der Politik Sachsens hat die Familie Winkler schwer zu leiden gehabt. Die Kriegsjahre 1813 und 1814 haben den Vater in solche Geldverlegenheiten gestürzt, daß er den Besitz des Hauses als schwere Last empfinden mußte. Nach seinem bald darauf erfolgten Tode hat sein Schwiegersohn, der spätere Kämmerer und Stadtrath H. W. Rachel, das Haus unter großen Schwierigkeiten übernommen, um es der Familie zu erhalten.

Zunächst in dem auf die Kriegsunruhen des Jahres 1809 folgenden Sommer konnte die Familie noch einmal in Ruhe das Bad Teplitz besuchen, wo sie schon 1804 gewesen war. Alle die vielen Pillen, Salben, Pülverchen u. a., die der Hausarzt Dr. Cauer[9] in einer uns in Erstaunen setzenden Menge der kränkelnden Mutter zu verordnen pflegte, hatten ihr nichts genützt. Um so besser wirkte der Besuch des Warmbades, aus dem die Tochter, von innigem Dank für alles Gute, was es ihr und der Familie gewährt hatte, erfüllt, im Juli 1810 nach der Vaterstadt zurückkehrte.

Und dies führt uns zum Schluß auf ihre kindlich fromme Gesinnung, auf ihr religiöses und kirchliches Leben. Sie ist im Grunde eine sehr ängstliche, zaghafte Natur. Krankheit, die sie an sich, an den lieben Ihrigen vermuthet oder erlebt, macht sie sehr leicht besorgt. Die Befragung des Arztes, die Befolgung seiner Rathschläge, der Dank für das, was er leistet, beschäftigen sie sehr. In solchen und anderen kleineren Nöthen ist [229] es ihr Herzensbedürfniß, zu beten und Gott all’ ihre Bedrängniß vorzutragen. Auch achtet sie auf jedes günstige Zeichen, das auf solch ein Gebet aus dem, was um sie herum vorgeht, genommen werden könnte. So freut sie sich innig, als nach einem heißen Gebete für ihre Eltern sich ein schöner Abend auf die geliebte Vaterstadt herabsenkt. Bedrängen sie körperlich und seelisch allzuviel Bekümmernisse, dann nimmt sie sich vor, jeden Tag nach dem Aufstehen einen schönen Morgensegen zu lesen, und thut dies auch einige Zeit.

Besonderen Trost aber gab ihr der Besuch der Kirche. Außer an uns geläufigen Sonn- und Festtagen konnte sie damals noch an manchem mittlerweile abgeschafften Feiertage zum Gottesdienste gehen. Noch ist solcher an den dritten Feiertagen der großen Feste; ebenso werden der Johannis- und der Michaelistag, sowie Mariä Verkündigung (8. September) kirchlich gefeiert, dagegen ist der 31. Oktober noch nicht zum Feiertag erhoben. Von den Kirchen der Stadt besucht sie die Kreuz-, Frauen- und Hofkirche ganz selten, häufiger die Garnisonkirche[10], am allermeisten jedoch geht sie – allein oder mit Mutter und Schwester – in die französischen und deutschen Predigten Riquets[11]. Während sie 1808 und 1809 nur in dankbaren Worten über seine zu Herzen gehenden Predigten schreibt, in denen er ganz nach Art der rationalistischen Theologen jener Zeit namentlich einzelne Tugenden und deren Werth für den Menschen bespricht, werden ihre Aeußerungen 1810 immer wärmer, begeisterter. Sie verehrt in ihm das Ideal eines guten, reinen, warmherzigen Menschen. Sie beneidet das Glück, das seine Gattin neben ihm, und die Erziehung, die sein Söhnchen durch ihn genießt. Nur das unfreundlichste und kälteste Wetter kann sie an einem Feiertage, an dem er predigt, vom Kirchgange abhalten.

Wie sehr mußte es sie daher schmerzen, als sie im Jahre 1810 vernahm, daß Riquet einen Ruf an die Stettiner reformirte Kirche angenommen habe. Fleißiger noch, als schon vorher, besuchte sie seine Predigten und nahm auch herzlich theil an den Geschicken der Reformirten in Sachsen, die damals zu mehr Berufen als bisher zugelassen wurden. Bis dahin hätten sie nur Kaufmann, Doktor oder Banquier werden können, wie Riquet im November 1810 in der ersten Bußtagspredigt, die in der reformirten Gemeinde überhaupt gehalten worden ist, sagt: nun könnten sie durch des Königs Gnade auch zu anderen Aemtern und Stellungen gelangen[12].

Zu Johanni 1811 schließen die Tagebuchnotizen mit den bittersten Klagen, daß ihr, der Schreiberin, durch den Weggang des verehrten Predigers ein wahrer Herzensfreund geraubt sei.

Von ihr, die uns in zahlreichen kürzeren und längeren Niederschriften ein Bild bescheidenen Dresdner Familienlebens im Anfange dieses Jahrhunderts gegeben, sei nur noch kurz erwähnt, daß sie nach glücklicher Vereinigung ihrer Schwester mit dem Vetter und nach des Vaters Tode lange im Anschluß an die neugegründete Familie gelebt hat. 1826 hat sie sich selbst verheirathet, ist aber schon 1832 nach der Geburt einer Tochter gestorben. Eine Enkeltochter und drei Urenkelchen blicken noch gern nach einem schönen, stattlichen Oelgemälde, auf dem Professor Pochmann[13] von der Dresdner Kunstakademie sie in der Tracht einer Königin Luise dargestellt hat.

In seinem noch vorhandenen Tagebuche hat aber ihr Schwager, der spätere Kämmerer und Stadtrath Rachel, ihren Tod mit dem Ausdruck lebhaftesten Schmerzes und innigsten Dankes für all’ die Liebe vermerkt, die die Dahingeschiedene ihm und seiner Familie einst erwiesen.


  1. Heinr. Wilhelm Rachel, 1831–1852 Kämmerer und Stadtrath in Dresden.
  2. Am See.
  3. Geschichte des Hoftheaters zu Dresden 1878. S. 296 und flg.
  4. Im Stadtmuseum ausgestellt. Gränicher ist 1813, Sprinck etwa 1818 gestorben, beide in Dresden.
  5. Dies Wort, und nie amüsiren, wendet sie an. Im übrigen gebraucht sie für jene Zeit nicht viel Fremdwörter. Charmant, galani, arriviren kommen öfters vor. Dagegen heißt es nicht Herren und Damen, sondern Mannspersonen und Frauenzimmer. Sehr scharf wird in Bezeichnungen unterschieden: Eine arme Jungfer Ludwigin kommt zu ihrem Vater bitten; sie selbst wird auf der Straße Mamsell Winkler angerufen; bei ihnen aber wohnt eine Zeit lang ein Fräulein von Brandenstein. Ist von den Frauen im Allgemeinen die Rede, so spricht sie vom Frauenzimmer. Das Wort Mensch, das noch im Dresdner Adreßkalender 1809 bei Aufführung der königlichen und prinzlichen Hofstaaten in der Zusammensetzung „Kammermensch“ erscheint, begegnet uns in dem Tagebuche nicht.
  6. Jetzt Prinz Georgs Garten.
  7. Am 25. Juni 1810 findet sich – in Teplitz geschrieben – die Bemerkung: Heute war es ein Jahr, wie die Kaiserlichen in Dresden hausten.
  8. Die Scheidung war am 15. Dezember erfolgt.
  9. Für einen Besuch nahm er 10 Groschen.
  10. Es sei daran erinnert, daß der Gottesdienst für die Soldaten lange Zeit im zweiten Stock der einst auf dem Neumarkte stehenden Hauptwache abgehalten worden ist. Nachdem dies durch Canalettos Stiche und Bilder wohlbekannte Gebäude 1760 eingeschossen worden war, wurde der Garnisonsgottesdienst in einem Saale des Hauptzeughauses, und zwar im zweiten Stock, abgehalten; also ganz nahe dem Hause Schießgasse Nr. 1. Hasche II, S. 220.
  11. Siehe über ihn: Girardet, Kurze Geschichte der evangelisch-reformirten Gemeinde zu Dresden 1839. S. 40–41.
  12. Im Cod. Aug. III, 1. p. 17 steht das Mandat.
  13. 1790 geboren.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Siehe auch sein Buch „Altdresdner Familienleben“