Drei Sonntage im Hyde-Parke zu London

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Titel: Drei Sonntage im Hyde-Parke zu London
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 387-389
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Rebellion 1855 gegen die Aristokratie
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Drei Sonntage im Hyde-Parke zu London.


Unter den mehr als hundert Lungen, durch welche das größte aller Städte-Ungeheuer London Athem holt, den grünen Parks und „Squares“ ist der Hyde-Park der größte, sonnigste und populärste. Im Westende zwischen den vornehmsten Stadttheilen gelegen, ist Hyde-Park während der Season, der Parlamentszeit, die allen hohen Adel des Landes mit Familie in London concentrirt, alle Tage der Tummelplatz von Tausenden fahrender und reitender Damen und Herren, die hier Luft schöpfen und sich auf dem Pferde und im Wagen Motion machen lassen, damit ihnen um sechs Uhr das schwere Mittagsbrot schmecke. Links hinauf zieht sich eine gute halbe Stunde lang die große Lustreitbahn (Rotten Row), in welcher sich zwischen vier und sechs Uhr die schwarzen, einförmigen Amazonen tausendweise corsoartig unter Bäumen und zwischen Eisenspalieren auf- und abtummeln. Rechts weiter drüben zieht sich um den langen kleinen See (die Serpentine) ein Fahrweg mit besondern eisernen Spalieren für Fußgänger bis hinein in die schattigen Kensington-Gardens. Hüben und drüben über den lustigen Wasserspiegel hinweg, auf welchen kleine und große Kinder ihre kleinen bewimpelten Schiffe kreuzen lassen, winken uns bunte Massen von Fuß- und Wagencorso’s an. Sonntags werden diese Corso’s natürlich dichter als in der Woche, da sich außer den „Damen“ und „Vermittlerinnen“ für die Aristokratie auch bürgerliche Familien, besonders reiche Käsekrämer und Bierschenker (die nach dem Sonntagsfreudenbeschränkungsgesetze vom vorigen Jahre bis 6 Uhr Abends schließen müssen), unter die Aristokratie mit gepuderten Dienern mischen.

Das sind die nöthigsten Striche zu einen Vorstellung vom Hyde-Parke, der 1851 so friedlich, kosmopolitisch bekannt ward und jetzt drei Sonntage hinter einander sah, welche auch dem englischen, constitutionellen Rechtsboden ein Loch beibrachten und den Landesfrieden ernstlich gefährdeten. Es ist vielleicht die Krim-Krisis in einer heimischen Form, so wenig auch die nächste Veranlassung zu den Sonntags-Unruhen im Hyde-Park damit im Zusammenhange zu stehen scheint.

Der englische Sonntag war auch schon vor der Bierbeschränkung als der traurigste, farbloseste, polizeibeschränkteste in der ganzen Christenheit berüchtigt und beliebt, je nach der kirchlichen Richtung. Während auf dem Continente selbst die „nackteste Reaction“ dem Volke seinen Sonntag gelassen, und man in Paris sogar unter Napoleon III. des Erholungstages froh werden kann, und der berliner Thiergarten ebenso wenig durch die Polizei gelitten hat (im Gegentheil darf man jetzt darin „rauchen“), als der wiener Wurstel-Prater, fiel es den englischen Wächtern der Freiheit voriges Jahr ein, dem musik- und tanzlosen Sonntage auch noch die Bierhäuser mehrere Stunden des Tages, und um zehn Uhr Abends, wenn die meisten Familien von weiten Ausflügen in die leere, dunstige Straße und Stube erschöpft zurückkehren, durch eine listig durch’s Parlament geschmuggelte Bill zu schließen. Die Aufregung und Erbitterung darüber war groß, aber Demonstrationen dagegen verschwammen in dem ausbrechenden Kriegsgeschrei. Vergessen freilich konnte man nicht, woran der Arbeiter jeden Sonntag erinnert ward, wenn er die ihm spärlich zugemessene Erholung Abends durch einen kühlen Trunk beschließen wollte, während es den Reichen und Standespersonen, die alle ihre „Klubs“ haben, unverwehrt blieb, sich zu jeder Tages- und Mahlzeit, auch den ganzen Tag des Herrn hindurch mit Speise und Trank zu laben.

Bekanntlich rief nun neuerdings die beispiellose Liederlichkeit und Verwirrung in Führung des Kriegs (dem Privilegium der „regierenden Klassen“) eine tiefe und allgemeine Erbitterung gegen den Adel und die Reichen, gegen das ganze Parlament, hervor. So hieß es Oel in’s Feuer gießen, als der edle Lord Robert Grosvenor im Unterhause auf Schließung alles Verkehrs an Sonntagen antrug, und das Unterhaus diesen Antrag in zwei Lesungen mit ziemlicher Majorität annahm. Schon war die dritte Lesung angesagt, nach welcher der Antrag Gesetz geworden wäre, als sich den Sonntag vorher plötzlich eine Demonstration dagegen im Hyde-Park entfaltete, die allgemeines Erstaunen erregte, so friedlich sie auch dieses erste Mal noch verlief. Man erstaunt über völlig Unerwartetes. Noch kurz vorher hatten die Zeitungen dem Volke eine freiwillige Servilität von Geburt und Geld und Niederträchtigkeit der Gesinnung vorgeworfen. Die bittere, freche Verhöhnung, welche der Adel plötzlich an diesem Sonntage erfuhr, die scharfen Kritiken, die ihm, Nase dicht gegen Nase, in’s Gesicht geschleudert wurden, zuckten wie ein panischer Schrecken durch die „obersten zehn Tausend,“ die England regieren und alle Macht und alles Geld der dreißig Millionen Engländer zu Hause und in den funfzig Kolonien in ihrer Gewalt haben.

Am 23. Juni, Sonnabends Abends, hieß es, man wolle morgen Nachmittag im Hyde-Park ein großes Meeting halten, berufen von dem alten Chartisten-Chef Robert Jones. Er blieb von den niedergeschlagenen Anführern der Chartisten-Demonstration vom 8. April 1848 fast allein bis hierher übrig. Die Chartisten wollten eine „Charte,“ erweitertes Wahlrecht u. s. w., wurden aber damals von Tausenden freiwilliger Special-Constabler (unter ihnen der jetzige [388] Kaiser Napoleon) jämmerlich mit ihrem Petitionszuge nach dem Parlamente zusammen- und auseinandergehauen. Der Chartismus zerfiel darauf auch in sich, und nur Robert Jones blieb als dessen Gespenst übrig, um in jedem Meeting zu erscheinen, seine „Charter“ zu verlangen und unter allgemeinem Tumulte hinaus geworfen zu werden. Keine Partei, kein Mensch wollte etwas von ihm wissen. So erschien er sechs Jahre lang in allen Meetings, so ward er sechs Jahre lang jedesmal hinaus geworfen, ohne müde oder bescheidener zu werden. Im Gegentheil trat er jedesmal entschiedener, gröber, fanatischer mit seinem unheimlichen Gesicht und der schneidenden, hellen, durchdringenden Stimme auf, um endlich einmal unlängst (am 10. Mai) im ersten Reform-Meeting (zur Auflösung der aristokratischen Privilegien für die höchsten und besten Staatsämter) nicht nur nicht hinaus geworfen, sondern sogar so weit gehört zu werden, daß die Banquiers und reichen Handelsherren des Meetings sogar einen Chartisten in ihre Commission aufnahmen.

Das verhaßte Gespenst war plötzlich ein respektabler Mann von Fleisch und Blut geworden, Vertreter eines Reform-Prinzips, das die Banquiers und Kapitalisten einst niedergeschlagen, und jetzt selbst bekannter Redacteur von „The Peoples Paper“ (Volks-Zeitung, Organ der Chartisten) und Spitze eines großen Theiles der Bevölkerung. Sie folgte ihm tausendweise am 24. Juni in den Hyde-Park und führte das Programm seiner Demonstration sehr pünktlich durch. Um die über den großen Flächenraum des Hyde-Parks (in welchem mehr als ganz Leipzig stehen könnte) zerstreuten Massen zusammenzubringen, ließ er einen „Auflauf“ über die größere Hälfte des Parks entstehen. Einige Leute wurden von andern schreiend verfolgt, mehrmals eingeholt, ihnen die Hüte „angetrieben“ und scheinbar Mißhandlungen aller Art beigebracht, so daß alle Köpfe über eine Quadratmeile (englisch) umher aufmerksam wurden und sich zusammenzogen, als den Verfolgten Polizei zu Hülfe kam, welche nun die Sache untersuchte, um zu hören, daß man blos Spaß gemacht habe. So waren aber mindestens 20,000 Menschen um einen Mittelpunkt zusammengezogen worden, die nicht so leicht wieder auseinander zu bringen waren, da Jeder erst wissen wollte, was eigentlich los sei. Die ausgelachte Polizei entfernte sich. Bald darauf ward der bekannte Kopf von Robert Jones in der Mitte über allen Köpfen sichtbar und auch sofort von seinem Stuhle weit, weit hörbar. Doch kaum hatte er fünf Minuten getrompetet, kamen drei Policemen und rissen ihn vom Stuhle herunter, da gesetzlich an Sonntagen kein Meeting (außer über religiöse Gegenstände) gehalten werden darf, Jones, an solche Unterbrechungen gewöhnt, wie Keiner, schien sich nichts daraus zu machen. Aber das Volk schrie: „Warum soll er nicht reden? Laßt ihn reden!“ (Speak out, Jone! Go on! – Go on! Go on!) schrie es lauter und lauter. Jones trat wieder auf den Stuhl und sprach, um jetzt von sechs Policemen herunter geworfen zu werden. Der inzwischen zu einer unabsehbaren Masse angeschwollene Menschenknäuel lös’te sich jetzt plötzlich, wie auf Commando, in 25–30 runde Gruppen über eine gute englische Meile weit auf mit je einem Redner in deren Mitte. Eben so schnell und ziemlich regelmäßig schwenkten sich etwa um vier Uhr diese einzelnen Gruppen nach beiden Seiten des Reit- und Wagencorso ab und bildeten Spaliere, um hier den aristokratischen Equipagen und Reitern wild und tobend zuzurufen: „Go tu church! Go tu church!“ (Geht in die Kirche!) Es folgten Mützenschwenkungen und unauslöschliches Gezische, so daß viele Pferde scheu wurden. Endlich machte ein ausgesucht schmutziger Haufe, jeder aus einer kurzen Thonpfeife den wohlfeilsten, stinkenden „Shag“ qualmend, seine Aufwartung, umringte die Equipage des Herzogs von Beaufort, der mit Familie darin saß, und blies ihm von allen Seiten den beizendsten Stänker in die aufgerissenen Kutschenfenster, so daß der Familie nichts Anderes übrig blieb, als auszusteigen.

Dieser „Ausräucherungs-Prozeß“ wurde an mehreren Stellen vorgenommen. Die bürgerlichen Wagen erhielten Vivats, alle mit gepuderten Dienern hinten wurden „geräuchert“ und sonst maltraitirt. Den ungeheuersten Jubel erregte ein alter schmieriger Fleischerkarren, dicht besetzt mit der ausgesuchtesten Elite von Lumpacivagabunden, die majestätisch ihren „Shag“ rauchend, die stürmischen Huldigungen des Volks mit herablassenden, gnädigen Verbeugungen nach beiden Seiten erwiederten. Eine derbe Satyre auf die Volksgunstbezeugungen gegen die Großen auf der Menschheit Höhen, ein schneidender Contrast gegen die Spießruthen fahrenden gräflichen, lordlichen und herzöglichen Equipagen.

Im Vergleich zum zweiten verlief der erste Sonntag dieser „unconstitionellen“ Demonstration ziemlich friedlich, da sich die Polizei blos rathgebend und wenigstens nicht mit ihren „Truncheons,“ den bleiangefüllten kurzen Stöcken, einmischte. Den Montag darauf nahm sehr bezeichnender Weise die ganze Presse für die Demonstration Partei, selbst die Times, die bisher dem Mob nie hold war. Im Vaterhause wurde Lord Grosvenor gefragt, ob er nicht lieber seine Sonntagsbill zurücknehmen wollte. Palmerston machte einen schnöden Witz, und der Vater der Bill erklärte, sie nicht zurücknehmen zu wollen, obgleich er schon am ersten Sonntage sehr unfeine Beweise der Volkserbitterung erfahren. Im Hyde-Park (mit Freund Lord Ebrington) von Volksmassen erkannt und umringt, wurde er gefragt, woher er sein Vermögen, woher er die goldenen Ringe an den Fingern genommen?

„Das Vermögen habe ich geerbt, die Ringe gekauft,“ antwortete er.

„Geraubt, gestohlen habt Ihr sie, Sir!“ schrie ihm Jemand zu und bewies ihm, daß die Normannen das Land erobert, geraubt und gewaltsam unter sich vertheilt, dann Gesetze gegeben, welche diesen Raub schützten und das Geld der Anglo-Sachsen in ihre Hände geleitet haben und noch fortwährend leiten. - Ueberhaupt trat das in Frankreich erst durch sich selbst, dann durch äußerliche Gewalt zusammen gefallene, hohle Gespenst des Communismus mit dem L. Blan’schen „Eigenthum ist Diebstahl,“ sehr mannigfaltig hervor. Es kann in England, wo die Bildung der untern Klassen so furchtbar vernachlässigt ward, und der Feudalismus der Macht und des Grundbesitzes noch besteht, gefährlich werden.

Lord Grey, der Minister des Innern, hatte zum zweiten Sonntage Befehl gegeben, die Demonstration niederzuhauen. Die Regierung und Lord Grosvenor waren entschlossen, die Sonntagsbill zu halten. - Wir wollen die Brutalitäten der Polizei nicht im Einzelnen aufzählen, die sie sich an diesem Tage zu Schulden kommen ließ. Sie wurde in den meisten Fällen auch arg behandelt und hatte ihre Instruktionen. Die Hauptschuld liegt in Lord Grey. Daß aber einzeln stehende, ganz unbeteiligte Personen höhern Standes und großen Reichthums von der Polizei mit ihren Bleiknütteln von hinten plötzlich niedergehauen, daß schon zerschlagene, am Boden liegende Personen noch mit Füßen getreten, daß Bleiknüttel-Attaken gegen Weiber und Kinder ausgeführt, daß selbst ein auf der Krim verwundeter Soldat zerschlagen, friedliche Leute selbst in Läden mißhandelt wurden – diese Heldenthaten der Polizei riefen einen allgemeinen Schrei der Entrüstung durch alle Stände, bis an’s Parlament hinauf, hervor.

Lord Grosvenor, der sich schon den Sonntag über hinter 200 Mann Polizei zurückgezogen hatte, zog endlich seine Bill zurück. Regierung und Parlament blamirten sich; um aber die Niederlage zu verstecken, weigerte sich Lord Grey, von zwei Parlamentsmitgliedern aufgefordert, eine Special-Untersuchung gegen die Polizei-Frevel einleiten zu lassen, diese ihm speciell mitgetheilten Frevel anzuerkennen und die Untersuchung zu verordnen. Dies steigerte die Erbitterung. Das Volk schlug Montags und Dienstags alle Fenster des Polizei-Gerichtslokales ein, in welchem die etwa 70 Gefangenen vom Sonntage durch Schuld der Regierung über die gesetzliche Zeit (24 Stunden bis zur Stellung vor dem Richter) aufgehalten worden waren. Obgleich Viele freigesprochen wurden und die Anderen mit zehn bis zwanzig Schillingen oder acht bis vierzehn Tagen Gefängniß davon kamen, steigerte sich doch die Erbitterung während der Woche auf’s Höchste. Sonnabend Abend, den 10. Juli, forderten Anschläge zur Rache, zur völligen Befreiung des Sonntags und zum Unabhängigkeitskampfe gegen „die Obersten Zehntausend“ auf. Dunkele Gerüchte sprachen von einem bewaffneten Zuge des Volks in den Hyde-Park, von Verstärkung aus Birmingham, Manchester u. s. w., von wo die Chartisten zu rechter Zeit eintreffen würden, um der Polizei zu zeigen, daß sie Diener des Volks und nicht Werkzeug der obersten Zehntausend sei, um einen englischen Sonntag erkämpfen zu helfen, wie ihn die Völker des Continents genössen. So sah man dem dritten Sonntag mit großer Aufregung und Spannung entgegen.

Der Minister des Innern hatte zwar in der elften Stunde (Freitags Nacht) seine Politik der Strenge und der Polizei wieder geändert und abermals „nachgegeben,“ indem er eine unparteiische und genaue Untersuchung und Bestrafung der Polizei-Grausamkeiten versprach, aber einerseits glaubte man ihm nicht und sagte: „Wer erst so sprach, wird nun auch alles Mögliche thun, um die Sache [389] zu „vertuschen und zu bemänteln,“ andererseits hatte Lord John Russel an demselben Abende Enthüllungen über seine wiener Mission gegeben, bei deren schmachvollem Inhalte selbst dem Russen- und Friedensfreunde Cobden der Verstand still stand und die Galle überlief. Russel hatte Instructionen gehabt, Frieden um jeden Preis zu machen. Die „Ehre“ Englands war verrathen und verkauft und wurde diesmal nur durch Napoleon mit eingelös’t. Also darum hat man uns 50,000 Brüder, Söhne und Väter und 100 Millionen Pfund Sterling todtgeschlagen, darum Handel und Gewerbe, unsern Lebensunterhalt, unsere Angehörigen und uns ruinirt und mit den Schrecken und Lasten eines Kriegs überbürdet, damit unsere aristokratische Regierung uns dennoch an Rußland verkaufe? In diesem Sinne ward es Sonnabends und Sonntags überall auf den Straßen laut, und im Hyde-Park formirten sich Nachmittags unabsehbare Gruppen mit je einem Redner in der Mitte. Da aber die Polizei heute Instructionen hatte, nicht einzuschreiten und sich im benachbarten „Green-Parke“ für die äußersten Fälle versteckt und bereit zu halten, blieb es im dichtesten Gedränge von Hunderttausenden immer ziemlich ruhig, so lange und so weit ich sehen konnte.

Weder von Polizei, noch von aristokratischen Equipagen gereizt, regierten und beherrschten sich die Massen von selbst. Nur gegen Abend kam es vor der vornehmsten Häuserreihe Londons, der Parkstreet, welche die Westseite des Parks einrahmt, zu rohen Excessen. Ein Haufe Volks glaubte, hier den Palast des Lord Grosvenor ausgefunden zu haben, und zerschmetterte in merkwürdig kurzer Zeit alle die prächtige Spiegelscheiben desselben. Hier nun mußte die unglückliche Polizei, die heute glatt und bescheiden immer zu zwei und zwei Mann spärlich umher gegangen war, durch die ungeschickte und Feigheit mit Grausamkeit verbundenen Instructionen Lord Grey’s verhaßt und ohnmächtig geworden, hier mußte sie einschreiten. So packten ein paar Policemen just einen ganz unmündigen constitutionellen Staatsbürger von etwa zwölf bis vierzehn Jahren, und in eine Tracht gekleidet, deren Farbe und Form durchaus nichts mit weltlicher Civilisation gemein hatten, gerade im Akte des Steinwerfens, welchen er offenbar in der Ueberzeugung vornahm, daß er dadurch Andere, die nicht so gut werfen konnten, unterstütze, vielleicht auch rein zum Vergnügen, denn Kinder, zumal unerzogene, machen Alles gern nach, was ihnen Erwachsene Lustiges und Amüsantes vormachen. Dieser Polizeigriff war unter diesen Umständen bei aller voller Berechtignug der unglücklichste. Alle noch disponible Munition von Steinen ward hinter den beiden Policemen hergeschossen, wie sie mit dem Jungen abzogen. Sie retteten sich endlich mit ihrem Gefangenen in ein Arbeitshaus weiter innen in die Stadt, das nun belagert blieb, bis die Policemen zurückkamen. So wie sie sichtbar wurden, erhob sich ein furchtbares Heulen, Pfeifen und Zischen, unter denen Sturmfluthen die Policemen zusammengehauen versanken.

Als ich gegen Abend an der südlichen Piccadilly-Seite des Parks, wo die größte Wellington-Reiterstatue auf dem Thore reitet, mich herausdrängte, ward ich von einem gewaltigen Menschenstrome gepackt, der mich unaufhaltsam in den allervornehmsten und allertheuersten Square Londons (Belgrave-Square), wo sich das reichste Lordthum mit besonders potenzirter Hochkirchlichkeit verbindet, und in dessen grandiose Palaststraßen mit Spiegelscheiben hineinschwemmte. Die Paläste standen noch, aber ohne einzige ganze Scheibe. Ich zählte vierzig Paläste hinter einander, deren kostbare Augen alle ohne Ausnahme zerschmettert waren. Man sagte mir, daß es in den fünf Hauptstraßen um den Square herum ganz eben so aussähe. Niemand wußte, wenn diese Akte des Vandalismus eigentlich vorgenommen worden waren. Mich überfiel ein unsägliches Grauen und Entsetzen vor einem Palaste, dessen Straßenfront dicht mit Stroh bestreut gewesen war. Alle die großen dicken Spiegelscheiben strahlten in unendlichen Zickzacks von Spalten mit tiefen Löchern. An einer Stelle stack noch ein großer Stein mitten in der Scheibe. Andere waren blos mit Sternen von Spalten geschmückt, ohne daß der Stein durchgedrungen war. Die Scheiben, mannshoch von einem fleckenlosen Stück, 600 bis 1000 Thaler jede, sind von der Dicke bis zu einem Zoll. Das Stroh war verbrannt. „Also nicht einmal Rücksicht gegen Kranke, vielleicht Sterbende?“ rief ich. „Nahmen sie denn etwa Rücksicht auf unsere Brüder, die sie tausendweise auf der Krim sterben ließen?“ schrie mir Jemand von der Seite zu, indem sich seine Nüstern weit aufbließen.

„Aber wer ist der Kranke oder Sterbende hier innen? Wußte man, daß er Schuld an der Krim-Mißverwaltung trägt?“ –

„O, sie hängen Alle zusammen, sie Alle sind Schuld,“ war die Antwort.

Das alte Geschwür ist aufgebrochen. Wer kann dessen Verlauf nun beherrschen? Im Parlamente empfahl ein Herr Dundas, Verwandter des baltischen und schwarzen Meer-Dundas, Sechspfünder. Er mußte noch denselben Abend „revociren“ und die Times frug ihn, wo er sechs Stunden nach dem ersten Schusse mit einem Sechspfünder wohl sein würde? Die englische Regierung ist nicht auf Militair- und Polizeigewalt gebaut, sie hat factisch und physisch diese Gewalt nicht, deshalb war diese Erwähnung von Sechspfündern ein Mißton, der sofort durch alles Volk zuckte und es gestern Abend auf eine Wanderung trieb, um das Haus jenes Dundas zu entdecken.

„Die Demonstration“ ist in das Stadium einer blinden, stupiden und in seinen Ausartungen gemeinen Wuth, die sich in den niedrigsten, feigsten Akten des Fenstereinwerfens offenbarte, hinein „mißverwaltet“ worden, von wo sie sich leicht ohne Controle, wie eine Naturgewalt, eine Ueberschwemmung, ein Feuer, ein Erdbeben fortwälzen kann. Nach den letzten Russel’schen Enthüllungen haben sich die regierenden Klassen moralisch vollends todt gemacht. Im Allgemeinen sind die englischen Volksmassen sehr gutmüthig und leicht zu befriedigen. Etwas Klugheit und rasche Aufhebung der „Bier-Bill“ bringt den alten Mechanismus vielleicht wieder in Ordnung. Unter allen Bedingungen macht Palmerston, dessen Politik so lange gewährt, die Erfahrung, daß auch in seinem Gewerbe Ehrlich am Längsten währt. So lange er’s auch noch treiben mag, er hat gesehen, wie elend England durch ihn wurde, so durch und durch krank, daß eine gewöhnliche Polizeimaßregel ein gutmüthiges, dummes Volk zu blinder Wuth gegen die ganze herrschende Klasse Englands, und zu rohen nicht zu entschuldigenden Excessen trieb.