Die sibirische Forschungsreise des Bremer Polarvereins
„Gruß aus Asien!“ So lautete ein Telegramm der Sibirienreisenden des Bremer Polarvereins vom 5. April aus Jekaterinburg, jener bekannten, schon am jenseitigen Abhang des Ural belegenen Bergstadt. Die Fahrt dahin von Nischni war an Strapazen reich. Der Frühling war nämlich in diesem Jahre in Rußland unberechenbar zeitig eingetreten; gleichwohl durften die Reisenden, wenn sie ihre Aufgabe, Westsibirien von der Gebirgskette des Altai bis zu der Mündung des Obi in den sechs Monaten Mai bis October zu naturwissenschaftlichen Zwecken zu bereisen, lösen wollten, nicht säumen und gemächlich warten, bis etwa die Wolga-Kama-Dampfschifffahrt eröffnet und die Wege besser wurden. So mußten sie denn gleich im Anfang, wie der Berichterstatter der russisch-deutschen Zeitung „Herold“ aus Kasan schrieb, „alle Unbilden einer Sibirienreise kennen lernen“.
Die Reisenden erfuhren von dem Augenblicke an, wo sie russischen Boden betraten, die freundlichste, ja man kann sagen eine glänzende Aufnahme. Durch Vermittelung des Präsidenten des Bremer Polarvereins, des Bremer Reichstagsabgeordneten Mosle, waren sie auf das Wärmste von den höchsten Behörden des Reichs empfohlen; ihr Gepäck passirte ohne Revision die Grenze. In Petersburg wurden die Herren dem Kaiser und dem Großfürsten-Thronfolger vorgestellt; ihnen zu Ehren hielten die geographische Gesellschaft und der Verein zur Förderung der russischen Handelsinteressen Extrasitzungen. Bei der Feststellung der Einzelheiten des Reiseplanes standen ihnen die ersten Autoritäten bei. Rußland hat bekanntlich Bedeutendes in der Geographie geleistet, und gerade in jener Sitzung der geographischen Gesellschaft war die reiche wissenschaftliche Ausbeute, welche Prczewalski[WS 1] von seiner denkwürdigen Reise durch die Mongolei mitgebracht hatte, ausgestellt. Ein specielles praktisches Interesse knüpfte sich an die Forschungen und Untersuchungen in Westsibirien, welche sich der Bremer Verein zur Aufgabe stellte, nachdem die Reichsbehörde seine Eingabe wegen Bewilligung der Mittel zu einer neuen Polarexpedition ablehnend beantwortet hatte. Der oft genannte schwedische Gelehrte Adolf[WS 2] Erik Nordenskjöld hat bekanntlich im vorigen Sommer die in früheren Jahrhunderten viel und immer vergeblich gesuchte Seefahrt von Nordeuropa nach den Polarküsten Sibiriens glücklich gefunden. Sein kleines Fahrzeug hat die Reise sogar zweimal, hin und her, glücklich zurückgelegt. Kein Wunder, daß man nun russischerseits daran denkt, diese Entdeckungsfahrt für den Seehandel auszunutzen. Freilich wird in so hohen Breiten nur immer während vier bis sechs Wochen, im Hochsommer, die Seefahrt möglich sein; immerhin bereitet das selbst zu dieser Zeit häufig eiserfüllte Karische Meer ernste Schwierigkeiten. Rußland sendet eine Expedition in diesem oder im nächsten Sommer aus, welche die Fahrbarkeit des Meeres zwischen Archangel und der Obi-Mündung gründlich untersuchen soll. Gleichzeitig wird aber auch von Gothenburg einerseits und von Jenisseisk (tief im Innern Sibiriens) andrerseits je ein Dampfer mit Gütern, jener nach der Jenissei-Mündung, dieser nach Petersburg bestimmt, den neuen Seeweg praktisch erproben. Wichtiger noch für Handel und Verkehr wäre die Eröffnung einer Seefahrt von Europa aus nach der Obi-Mündung.
Dieser mächtige Strom Westsibiriens, dessen Länge 457½ deutsche Meilen beträgt, hat, wie neulich ein Vortrag des Herrn Latkin in der russischen Handelsgesellschaft zu St. Petersburg constatirte, ein Gebiet von 58,000 Quadratmeilen mit 2½ Millionen Einwohnern. Die südlichen Theile haben eine bedeutende Kornproduction und könnten davon nach Latkin an 60 Millionen Pud jährlich abgeführt werden. Salz und Holz würden weitere wichtige Ausfuhrartikel abgeben. Die Viehzucht könnte an Fellen, Talg, Butter, Fleisch, Haaren, Wolle im Ganzen jährlich 5 Millionen Pud liefern. (Gegenwärtig concentrirt sich der Talghandel Westsibiriens für die Ausfuhr nach England in Jekaterinburg.) Endlich sind noch Fische, Leder, Häute, Pelzwaaren und Metalle zu erwähnen. Die sibirische Eisenbahn ist beschlossen; sie wird nach einer Reihe von Jahren eine stetige bequeme Landverbindung mit Sibirien schaffen, die thatsächlich jetzt nur zeitweilig, während des Winters, vorhanden ist. Hat die westsibirische Reise des Bremer Polarvereins sonach ihre nicht zu mißachtende praktische Seite, so kommt hinzu, daß in jenem ausgedehnten Gebiete die zahlreichen Vorgänger in der wissenschaftlichen Forschung, an ihrer Spitze Pallas, noch Manches zu thun übrig ließen. Finsch und Brehm und neben ihnen Graf Waldburg-Zeil werden daher sicher mit interessanten Ergebnissen von ihrer an Strapazen immerhin reichen Reise zurückkehren.
Während diese Zeilen niedergeschrieben werden, geht die Nachricht ein, daß auch die Petersburger Akademie einen Zoologen, Herrn Poljakoff vom kaiserlichen naturwissenschaftlichen Museum in St. Petersburg, zu wissenschaftlichen Forschungen in diesem Sommer nach dem Obi aussenden wird. Er soll namentlich auch der Fischfauna des Obi seine Aufmerksamkeit zuwenden. Dieser Strom ist, wie schon angedeutet, außerordentlich reich an Fischen; Anfang Mai setzen sich, wie Latkin berichtet, die Hauptarten derselben, wie der Stör, der Sterlet, die Quappe, die Nelma, der Moksun, die Zärte, der Häring, in großen Massen der Strömung entgegen in Bewegung. Mit Fischfang beschäftigen sich außer den Samojeden und Ostjäken alle russischen Uferbewohner, hauptsächlich in der Niederung des Flusses unweit der Mündung, wo eine ungeheure Menge Fische gefangen wird, wieviel läßt sich nicht genau bestimmen. Einige zählen bis zu einer Million Pud à 20 Kilo im Jahre, Andere bis zu 500,000. Die letztere Zahl ist wohl die richtigere, da aus den Obdorskischen Lande jährlich 150,000 Pud Fische verführt werden. Der Fischfang beginnt Anfang Juli und währt bis zum October. Die Fische werden theils getrocknet (von den Samojeden und Ostjäken), theils eingesalzen (von den russischen Fischern), doch ist die Art und Weise des Einsalzens eine mangelhafte. Der [341] Delphin-, Weißwal- und Seehundsfang im Obimeerbusen ist zur Zeit noch wenig ausgebeutet und könnte, wenn eine Seeschifffahrt im Sommer nach Europa möglich, sehr bedeutend ausgedehnt werden. Die nördlichste Ansiedelung, welche unsere Reisenden auf der Obifahrt erreichen werden, ist der zweiundvierzig Häuser und hundertfünfzig Einwohner zählende, reichlich eine deutsche Meile von der Mündung des Obi in den Obimeerbusen gelegene Marktplatz Obdorsk. Im Sommer ist derselbe völlig verlassen, da um diese Zeit die Einwohner dem Fischfange im Flusse und Meerbusen obliegen, im Winter großer Markt.
Die Schifffahrt auf dem Obi und seinen Zuflüssen hat sich in der letzten Zeit sehr entwickelt. Ihr Centrum ist die Stadt Tomsk. Man zählt an zweiunddreißig Dampfer, darunter vier Passagierdampfböte, welche regelmäßige Fahrten zwischen Tjumen und Tomsk unterhalten. Was die Frage der Seeverbindung zwischen der Obimündung und den europäischen Küsten betrifft, so würde die weit nach Norden sich erstreckende Halbinsel des Samojedenlandes, wenn das Karische Meer glücklich passirt ist, das Einlaufen in den Obibusen immer nur mit Verlust vieler kostbaren Zeit gestatten. Möglicher Weise könnte aber dieser Umweg vermieden werden, wenn die Seefahrt ihren End- und Ausgangspunkt in einer Ausbuchtung der Karabai, der Baidaratzkybucht, finden und die Waaren von Obdorsk dahin und von da zurück theils über Land, theils auf einem Flusse sich bewegen könnten. Jene Bucht liegt von Obdorsk in dieser Richtung nur circa sechsundzwanzig deutsche Meilen entfernt.
Diesem Projecte tritt man russischerseits ernsthaft näher, und es werden in diesem Sommer Untersuchungen in jener Gegend stattfinden. Die neueste Nachricht über die Eröffnung einer Frachtschifffahrt von Schweden nach dem Jenissei lautet dahin: „Mitte Juli läuft der Dampfer ‚Ymer‘ von fünfundvierzig Pferdekraft und vierhundert Tonnen Tragfähigkeit von Gothenburg zur Fahrt um das Nordkap durch’s Karische Meer nach dem Endpunkte der Jenisseidampfer, dem Flecken Dudino, aus. Er wird von Schweden und Norwegen Fracht mitnehmen, unter Anderm Muster schwedischer Industrieproducte und soll auch aus Sibirien Güter mitbringen. Drei schwedische Botaniker begeben sich zu Lande nach dem Jenissei, um dort naturwissenschaftliche Forschungen anzustellen, und beabsichtigen mit jenem Dampfer im Herbste nach ihrer Heimath zurückzukehren.“ Ob und welchen praktischen Erfolg alle diese Unternehmungen haben werden, steht dahin. Für die Naturwissenschaft dürfte aber in allen Fällen Gewinn zu erwarten sein.
Der Initiative des Bremer Polarvereins ist es zu verdanken, daß auch Deutschland seinen Antheil an diesem Gewinne haben wird. Mit Recht darf daher der Verein auf thatkräftige Sympathie in weiten Kreisen Anspruch erheben. Gegründet zunächst zur Förderung der deutschen Polarforschung, hat er, wie die von ihm herausgegebenen Werke beweisen, sich diese Aufgabe ernst und mit Erfolg angelegen sein lassen.[1] Neuerdings hat er, den Charakter einer geographischen Gesellschaft annehmend, seine Ziele erweitert und auf die Veranstaltung von Entdeckungs- und Forschungsreisen überhaupt ausgedehnt. Die jetzt unternommene Reise nach Westsibirien ist die erste That auf diesem größeren Gebiete des Schaffens. Um seine Bestrebungen auch ferner mit Energie zu bethätigen, bedarf er Mittel und Kräfte. Wenn zu der sibirischen Reise ein reicher Russe dem Vereine unaufgefordert eine bedeutende Summe zur Verfügung stellte, so darf sicher erwartet werden, daß deutsche Landsleute daheim und in transatlantischen Ländern in größerer Zahl bereit sein werden, dem Vereine durch Darbietung von Mitteln oder durch sonstige Mitwirkung bei der Lösung seiner Aufgabe hülfreich zur Seite zu stehen. Zur Erforschung des Erdballes durch Reisen hat Deutschland schon Großes beigetragen. Gerade jetzt, bei errungener und gefestigter Machtstellung, ist es berufen, dieses Werk des Friedens in großem Maßstabe fortzusetzen, und für das Volk, welches mit gerechtem Stolze Alexander von Humboldt und Karl Ritter zu den Seinen zählt, gilt auch auf diesem Gebiete erst recht das „Noch lange nicht genug! sagt Bismarck.“
- ↑ In dieser Beziehung mag beispielsweise erwähnt werden, daß von der letzten deutschen Polarexpedition her achtzehn Universitäts- und sonstige öffentliche naturwissenschaftliche Sammlungen mit zoologischen und siebenzehn Sammlungen mit botanischen Collectionen bedacht wurden; von ersteren gehörten vier dem Auslande an und eine war Privatinstitut.
Anmerkungen (Wikisource)