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Autor: Ludwig Bernhard
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Titel: Die preussische Polenpolitik
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Dritter Band: Die Aufgaben der Politik, Siebzehntes Hauptstück: Grenzlande und Kolonien, 92. Abschnitt, S. 213−223
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
Entstehungsdatum: {{{ENTSTEHUNGSJAHR}}}
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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92. Abschnitt.


Die preussische Polenpolitik.
Von
Dr. Ludwig Bernhard,
o. Professor der Staatswissenschaften an der Universität Berlin.


Literatur:

Noah, Die staatsrechtliche Stellung der Polen in Preussen. 1861. –
Leo Wegener, Der wirtschaftliche Kampf der Deutschen mit den Polen um die Provinz Posen 1903. –
Ludwig Bernhard, Das polnische Gemeinwesen im preussischen Staate. 2. Aufl. 1910. –
Ludwig Bernhard, Die Städtepolitik im Gebiet des deutsch-polnischen Nationalitätenkampfes 1909. –
Zwanzig Jahre deutscher Kulturarbeit (Regierungsdenkschrift) 1907. –
Zitziaff, Vosberg, Karpinski, Preussische Städte im Gebiet des polnischen Nationalitätenkampfes 1909. –
Moritz Jaffé, Die Stadt Posen unter preussischer Herrschaft 1909. –
Bredt, Die Polenfrage im Ruhrkohlengebiet 1909. –
Szembek, les associations économiques des paysans polonais, 1910. –
Waldemar Mitscherlich, Der Einfluss der wirtschaftlichen Entwicklung auf den ostmärkischen Nationalitätenkampf. 1910. –
Friedrich Swart, Deutsche und Polen in der Provinz Posen; in Schmollers Jahrbuch 1912. –
Marchlewski, Stosunki spoleczno-ekonomiczne 1903.
Ausserdem zahlreiche kleinere Studien und Kampfschriften.

Inhaltsübersicht:

I. Der Kampf um die Verwaltung der Ostmark und die „Versöhnungspolitik“.

1. Die staatsrechtliche Stellung der Polen nach der Wiener Schlussakte.
2. Die Versöhnungspolitik Friedrich Wilhelms III. und ihre Folgen.
3. Die Versöhnungspolitik Friedrich Wilhelms IV. und ihre Folgen.
4. Die Versöhnungspolitik Wilhelms I. und ihre Folgen.
5. Die preussische Schulpolitik.
6. Die Versöhnungspolitik Wilhelms II. und ihre Folgen.

[214] II. Der wirtschaftliche Kampf um die Ostmark und die Ansiedlungspolitik.

1. Der Tiefstand der polnischen Wirtschaft.
2. Wirtschaftliche und soziale Arbeit im polnischen Volke.
3. Die Begründung der Ansiedlungskommission.
4. Der Kampf um den Boden.
5. Das Ausnahmegesetz gegen polnische Siedlungen (Ansiedlungsnovelle).
6. Das Enteignungsgesetz.

I. Der Kampf um die Verwaltung der Ostmarken und die „Versöhnungspolitik“.

1. Die staatsrechtliche Stellung der Polen nach der Wiener Schlussakte.

Seitdem die polnischen Landesteile im Jahre 1815 endgültig an Preussen gekommen sind, hat jeder König von Preussen den ernsten Versuch gemacht, den Wünschen der polnischen Staatsbürger entgegenzukommen und ein friedliches Verhältnis zwischen Deutschen und Polen in unseren Ostmarken zu ermöglichen.

Die staatsrechtliche Stellung der Polen war in Alinea 2 des Artikels 1 der Wiener Schlussakte folgendermassen formuliert:

„Les Polonais, sujets respectifs de la Russie, de l’Autriche et de la Prusse obtienderont une représentation et des institutions nationales, réglées d’après le mode d’existence politique, que chacun des gouvernements auxquelles ils appartiennent, jugera utile et convenable de leur accorder.“

Dementsprechend wandte sich Friedrich Wilhelm III. am 15. Mai 1815 an die Polen in Preussen mit einem Aufrufe, in dem es heisst:

„Auch Ihr habt ein Vaterland, und mit ihm einen Beweis Meiner Achtung für Eure Anhänglichkeit an dasselbe erhalten. Ihr werdet Meiner Monarchie einverleibt, ohne Euere Nationalität verleugnen zu dürfen. Ihr werdet an der Konstitution Teil nehmen, welche Ich meinen getreuen Untertanen zu gewähren beabsichtige; und Ihr werdet, wie die übrigen Provinzen Meines Reiches eine provinzielle Verfassung erhalten.
Euere Religion soll aufrecht erhalten und zu einer standesmässigen Dotierung ihrer Diener gewirkt werden. Eure persönlichen Rechte und Euer Eigentum kehren wieder unter den Schutz der Gesetze zurück, zu deren Beratung Ihr künftig zugezogen werden sollt.
Eure Sprache soll neben der deutschen in allen öffentlichen Verhandlungen gebraucht werden, und Jedem unter Euch soll nach Massgabe seiner Fähigkeiten der Zutritt zu den öffentlichen Ämtern des Grossherzogtums, sowie zu allen Ämtern, Ehren und Würden Meines Reichs offen stehen.
Mein unter Euch geborner Statthalter wird bei Euch residieren. Er wird Mich mit Euren Wünschen und Bedürfnissen, und Euch mit den Absichten Meiner Regierung bekannt machen.
Euer Mitbürger, Mein Oberpräsident, wird das Grossherzogtum nach den von mir erhaltenen Anweisungen organisieren, und bis zur vollendeten Organisation in allen Zweigen verwalten. Er wird bei dieser Gelegenheit von den sich unter Euch gebildeten Geschäftsmännern den Gebrauch machen, zu dem sie ihre Kenntnisse und Euer Vertrauen eignen.“[1]

[215]

2. Die Versöhnungspolitik Friedrich Wilhelms III. und ihre Folgen.

Im Sinne dieser Proklamation wurde die neugebildete Provinz, die den Namen Grossherzogtum Posen erhielt, und in ihrem Wappen auf der Brust des preussischen Adlers den polnischen Adler führen durfte, verwaltet. Neben dem Oberpräsidenten, jedoch gesellschaftlich ihm überlegen, stand der Statthalter Fürst Anton Radziwill aus altem polnischen Geschlecht. Und da in der herrschenden Schlachta der gesellschaftliche Einfluss politisch stark zu wirken pflegt, blieb der polnische Charakter auch in der Verwaltung vorherrschend. Die preussische Regierung besetzte eine Reihe höherer Beamtenstellen mit Polen, ferner wurden die Mitglieder angesehener polnischer Familien in das preussische Offizierkorps gezogen, auch überliess man die Wahl der Landräte den Ständen, sodass in den überwiegend polnischen Kreisen längs der russischen Grenze alle Landratsposten mit polnischen Adligen besetzt waren.

So gruppierten sich die polnischen Beamten um den Hof des Statthalters Fürsten Radziwill, der der Verwaltung einen polnisch-preussischen Mittelpunkt zu geben schien.

Jedoch in der Stille sonderte sich ein Teil des Landadels von der Radziwillgruppe ab, verlegte den Schwerpunkt der Tätigkeit auf das Land und begann – seit 1825 etwa – einen Aufstand vorzubereiten. Die Sezession wurde durch Zuzüge aus Russisch-Polen unterstützt, und als im November 1830 der Aufruhr im benachbarten Polen wirklich ausbrach, zog die adlige Jugend zur Hilfe über die Grenze, geführt und gefolgt von polnischen Landräten und anderen preussischen Beamten polnischer Nationalität.

Nachdem die Teilnahme der polnischen Landräte an den Unruhen der Jahre 1830/31 erwiesen war, verfügte Friedrich Wilhelm III. am 3. Februar 1833:

Die Wahl der Landräte durch die Kreisstände sei für die Provinz Posen suspendiert und die Besetzung der Stellen der Regierung vorbehalten.

Da jedoch diese Massnahme nichts fruchtete, die preussischen Landräte vielmehr durch die in den Landgemeinden schaltenden polnischen „Woyts“ an jeder durchgreifenden Tätigkeit behindert wurden, verfügte der König im Jahre 1836 die Beseitigung der Woyts, die Teilung der Kreise in je zwei bis drei Distrikte und die Anstellung von Distriktskommissaren zur Unterstützung der Landräte.

Die Folge dieser notwendigen Verfügungen war, dass jetzt die Polen unter Protest zum grossen Teil ihre Stellen im preussischen Staatsdienst niederlegten und auch ihre Söhne veranlassten, sich von den Laufbahnen des preussischen Staates fernzuhalten.

Die Entfernung der Polen aus den höheren Verwaltungsstellen ist sehr verschieden beurteilt worden. Man hat darauf hingewiesen, dass der preussische Staat damit ein wirksames Mittel aus der Hand gab, das ihm einen dauernden Einfluss auf die gesellschaftlich und politisch führenden polnischen Familien gesichert hätte. Auch hat man betont, dass gerade durch die Entfernung der Polen aus der preussischen Verwaltung die tüchtigsten polnischen Kräfte frei wurden für national-polnische Organisationen.

Andererseits jedoch ist nicht zu bezweifeln, dass nur so eine administrative Beherrschung der Grenzprovinzen erreichbar war. Nur so vermochte die Staatsverwaltung sich gegen gefährliche Indiskretionen und Intriguen zu schützen, nur so war die Einheit des Beamtenkörpers zu sichern. Hierzu kommt, dass die Polen selbst den Hauptwert auf die Erlangung der Landratsstellen in den überwiegend polnischen Kreisen legten; unmöglich aber konnte die Regierung die Verwaltung der Grenzbezirke einer unruhigen, von ausländischen Strömungen abhängigen Gesellschaft anvertrauen.

3. Versöhnungspolitik Friedrich Wilhelms IV.

Trotz dieser Erfahrungen wiederholte Friedrich Wilhelm IV. den Versuch, den polnischen Wünschen entgegenzukommen, in der Hoffnung, so Frieden und Zufriedenheit zu gewinnen. Auf einer Rundreise hatte der König kurz nach seinem Regierungsantritt die hervorragendsten polnischen Aristokraten kennen gelernt und die feste Überzeugung gewonnen, dass es durchaus möglich sei, diese liebenswürdige Bevölkerung durch eine wohlwollende Politik zu fesseln.

Der Oberpräsident Graf Arnim und sein Nachfolger v. Beurmann erhielten daher die Weisung „die Herzen zu gewinnen“. Rücksichtsvolle Nachgiebigkeit wurde in allen Zweigen der Verwaltung [216] geübt und ein erstaunlicher Aufschwung des polnischen Lebens war die Folge. Zahlreiche polnische Zeitschriften entstanden damals in Posen und die lange vereinsamte Provinzialhauptstadt wurde unter der geistigen Herrschaft eines Raczynski, Marcinkowski, Liebelt, Moraczewski, Matecki, ein Ausgangspunkt neuer geistiger Bewegung, sogar für die Polen im Auslande.

Bald aber erschienen in diesen Kreisen politisch interessierte Männer wie Mieroslawski und Malinowski, die Emissäre der „demokratischen Gesellschaft“ (Towarzystwo demokratyczne), ferner Witold Czartoryski, der sich als Abgesandter der „adligen“ Pariser Gruppe in Posen aufhielt. Es begann ein Wetteifern zwischen der Czartoryski-Partei und den Angehörigen der demokratischen Gesellschaft, die zum grössten Teil aus Warschauer Liberalen bestand und in dieses Treiben mischte sich allerlei Gesindel, das aus Russisch-Polen der gefürchteten Militäraushebung entfliehend, über die Grenze gekommen war.

Der später mit Beschlag belegte und durch den Polenprozess bekannt gewordene Operationsplan zeigte, dass in allen polnischen Landesteilen der drei Teilungsmächte der Aufstand gleichzeitig losbrechen sollte, und dass man die erwartete Unschlüssigkeit der Regierung benutzen wollte, um die Aufständischen in bestimmten Sammelplätzen zu konzentrieren.

In wie nachlässiger und unfähiger Haltung die Regierung diesem Treiben gegenüberstand, ist wohl bekannt. Obwohl man bereits zwei Jahre nach dem Beginn der Versöhnungspolitik in Berlin wusste, dass die Provinz von gefährlichen Überläufern starrte, vermied es doch die Regierung, die Kreisbehörden zu informieren, da man in dem heissen Wunsche „die Herzen zu gewinnen“ die Lokalbehörden nach Möglichkeit von energischem Eingreifen zurückhalten wollte.

Dann brach der Aufruhr los, der über drei Jahre bald als unangreifbare Verschwörung, bald als offene Empörung die Provinz in Erregung hielt und alle Arbeit unterbrach oder vernichtete.

Auf die Enttäuschungen der Versöhnungsära Friedrich Wilhelms IV. folgte eine Zeit der Vernachlässigung unseres Ostens durch die preussische Verwaltung. Eine Neigung, die Provinz sich selbst zu überlassen, entstand, und für das Beamtentum wurde der Osten eine Gegend der Verbannung und Strafversetzung unfähiger oder missliebiger Männer. In einer Broschüre,[2] die Anfang der 60er Jahre wegen der Offenheit ihrer Sprache Aufsehen erregte, wurde geklagt, dass „die untauglichsten und anrüchigsten Beamten“ die Verwaltung der Provinz in Händen hätten und unter Nennung von Namen wurden Beweise hierfür erbracht.

So konnte es nicht Wunder nehmen, dass die preussischen Regierung den gefährlichen politischen Umtrieben Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre fast unvorbereitet und ohne Kenntnis der Vorgänge gegenüberstand.[3]

Trotzdem hielt auch Wilhelm I. es für seine königliche Pflicht, ungeachtet aller schlimmen Erfahrungen, den Polen in vorsichtiger Weise entgegenzukommen, um durch neue Erfahrungen festzustellen, ob jetzt vielleicht ein Einlenken möglich sei, nachdem die polnischen Hoffnungen im Jahre 1863 schweren Enttäuschungen gewichen waren.

4. Die Versöhnungspolitik Wilhelms I.[4] und ihre Folgen.

Der Minister des Innern, Graf Eulenburg, legte Wert darauf, insbesondere zur polnischen Geistlichkeit gute Beziehungen zu haben, obwohl der damalige Oberpräsident von Horn die Regierung warnend auf die nationalpolnischen Umtriebe hinwies. Polnische Organisationen von mancherlei Art entstanden in grosser Menge, und ihre Bestrebungen fanden in Berlin bei der katholischen Abteilung des Kultusministeriums und beim Kabinett der Königin einen Halt. Wiederum [217] wurde die preussische Lokalverwaltung von den polnischen Organisationen überflügelt und irregeführt, sodass Bismarck im Jahre 1872 schrieb: „Ich habe das Gefühl, dass auf dem Gebiete unserer polnischen Provinzen der Boden unter uns, wenn er heute noch nicht auffällig wankt, doch so unterhöhlt wird, dass er einbrechen kann, sobald sich auswärts eine polnisch-katholisch-österreichische Politik entwickelt“, und dringend verlangte er Mittel, um gegen die „seit zehn Jahren prosperierende polnische Unterwühlung der Fundamente des preussischen Staats vorzugehen.“

Insbesondere rügte Bismarck, dass sich die Unterrichtsverwaltung infolge der Nachgiebigkeit des Kultusministeriums (Katholische Abteilung) zum Teil in den Händen der polnischen Aristokratie und der polnischen Geistlichkeit befinde, die ihren Einfluss zur Polonisierung deutscher Gebiete missbrauche.

5. Die preussische Schulpolitik.

Bis dahin galt das Schulregulativ vom 21. Mai 1842, das auf dem Grundgedanken ruhte, jedes Kind solle den Unterricht in seiner Muttersprache empfangen. In allen Landschulen sollten daher die Lehrer beide Sprachen beherrschen und anwenden. In Landschulen, welche vorherrschend von polnischen Kindern besucht wurden, sollte die polnische Sprache die Hauptunterrichtssprache sein.

Hier griff jetzt die Staatsverwaltung ein:

Durch das Schulaufsichtsgesetz vom 11. März 1872 wurde die Aufsicht über alle öffentlichen und privaten Schulen dem Staate zugewiesen. Durch königlichen Erlass vom 20. Oktober 1872 wurde in den höheren Lehranstalten der Provinz Posen der gesamte Unterricht (auch in der Religion) deutsch. Für die Volksschulen bestimmte eine Oberpräsidialverfügung vom 27. Oktober 1873, dass der Unterricht in allen Lehrgegenständen, mit Ausnahme der Religion, deutsch sein sollte, und auch für den Religionsunterricht, der vorläufig in der Muttersprache erteilt wurde, wurde der Schulverwaltung die Möglichkeit gegeben, „sobald die Kenntnis der deutschen Sprache so weit fortgeschritten sei“, die deutsche Sprache auch für den Religionsunterricht einzuführen.

Im Laufe der folgenden Jahrzehnte hat die Regierung von dieser Verfügung immer schärferen Gebrauch gemacht und schliesslich die deutsche Sprache faktisch zur alleinigen Unterrichtssprache erhoben.

Der Grundgedanke der Schulpolitik war: die Schule als Mittel der nationalen Eroberung zu benutzen. Ein kühner Gedanke, der in den 60er Jahren entstand, in jener Zeit, die das Wort fand von dem deutschen Schulmeister, der bei Königgrätz gesiegt habe. „Wer die Schule hat, hat die Jugend! Wer die Jugend hat, hat die Zukunft!“, so lautete das Schlagwort. Die deutsche Schule solle den Osten germanisieren; der deutsche Lehrer solle als Träger deutscher Bildung der polnischen Geistlichkeit gegenübertreten.

Dieser weitfliegende Gedanke hat sich nicht verwirklichen lassen. Es war ein Irrtum zu glauben, dass die deutsche Sprache und deutsche Kultur den Slaven gegenüber eine „werbende Macht“ habe. Vielmehr wirken auf das Geistesleben der Kinder die von Geistlichen in der Muttersprache gehaltenen Andachten und polnischen Gebete weit stärker als die Übungen und Daten der deutschen Schule. Ja gerade der Gegensatz zwischen deutscher Schule und polnischer Seelsorge erhöhte die Macht der Geistlichkeit, da das Volk jetzt voll empfand, dass es in der Kirche eine Zuflucht finde auch in nationalen Sorgen.

Gewiss war es zweckmässig, ja notwendig, in allen deutschen und gemischtsprechenden Gemeinden den Unterricht in deutscher Sprache zu erteilen, um die Polonisierung deutscher Kinder zu hindern. Der Fehler jedoch bestand darin, dass die Regierung in allzu starkem Glauben an die Wirkung der Schule zu weit ging. Sie hätte bedenken müssen – was Kenner des Ostens vorausgesagt haben –, dass in dem allmählich entstehenden wirtschaftlichen Kampf um die Ostmark die Kenntnis der beiden Sprachen ein Machtmittel ist. Deshalb hätte man weder die polnische Sprache als Unterrichtsgegenstand aus den höheren Schulen beseitigen, noch den Polen durch den Schulzwang das Mittel der wirtschaftlichen Überlegenheit aufzwingen dürfen.

[218]

6. Die Versöhnungspolitik Wilhelms II. und ihre Folgen.

Wie seine Vorgänger hat auch Wilhelm II. bald nach seinem Regierungsantritt vertrauensvoll den Versuch gemacht, zwischen den Deutschen und den Polen ein gutes Verhältnis herzustellen und den polnischen Wünschen entgegenzukommen.

Die Zugeständnisse, welche den Polen in der Versöhnungsära Wilhelm II. (1890–94) gemacht wurden, waren insbesondere folgende: Nach dem Episkopat des Deutschen Dinder wurde wieder ein Pole, der Abgeordnete von Stablewski, Erzbischof von Gnesen und Posen; ferner wurde die Bismarck’sche Ausweisungspraxis im Jahre 1891 gemildert; im April desselben Jahres wurden den Polen gestattet, in den Schulräumen polnischen Privatsprachunterricht erteilen zu lassen. Auch wirtschaftlich wurden die Polen, die sich nach dem scharfen Eingreifen der Bismarck’schen Ansiedlungspolitik in recht bedenklicher Lage befanden, jetzt von der Regierung gestärkt. So kamen z. B. die königlichen Generalkommissionen den jungen in Geldverlegenheiten befindlichen polnischen Wirtschaftsorganisationen zu Hilfe, ausserdem erhielten die polnischen Genossenschaften zu ihrer eigenen freudigen Überraschung das Revisionsrecht, das noch heute deren feste rechtliche Grundlage bildet. Ja man kann geradezu sagen, dass der Aufschwung der polnischen Genossenschaften, die zersplittert und schwach waren, von jener versöhnenden Verfügung des preussischen Handelsministers Freiherrn v. Berlepsch her datiert.

Trotz dieser Bemühungen aber musste man bald erkennen, dass der erwartete Friede nicht kam. Zwar gingen polnische Führer am Berliner Hofe und in den preussischen Ministerien freundschaftlich ein und aus, jedoch in der Provinz selbst erhob sich eine von Woche zu Woche anschwellende nationalpolnische Bewegung, welche die günstige Gelegenheit ausnutzen wollte, um die Provinzen Posen, Westpreussen und Schlesien nach Möglichkeit zu polonisieren. Insbesondere verlangte man die Beseitigung der Ansiedlungskommission und die Wiedereinführung der polnischen Schulsprache in Posen, Westpreussen und Schlesien, und solche Forderungen wurden nicht nur in der Presse und in Versammlungen gestellt, sondern von einflussreichen Mitgliedern des polnischen Adels und der Geistlichkeit.

Die deutsche Bevölkerung hatte mit wachsender Sorge beobachtet, wie die preussische Regierung vor den polnischen Ansprüchen zurückwich, und wie der polnische Einfluss sich infolgedessen auf allen Lebensgebieten immer stärker geltend machte. Wieder wie in den früheren Versöhnungsepochen zeigte sich, dass die preussischen Lokalbehörden einer polnischen Organisation nicht gewachsen waren, welche beim Berliner Hofe und in den Ministerien starke Stützen fand. Man befürchtete, dass die Regierung durch weiteres Entgegenkommen die Provinz politisch gefährden und das Land den deutschen Bewohnern verleiden könnte. So reifte bei den Deutschen der Plan, durch eine Wallfahrt zum Fürsten Bismarck gegen eine Politik der Zugeständnisse zu protestieren. Diese Bemühungen, die zur Gründung des deutschen Ostmarkenvereins führten, hatten den Erfolg, dass die Konservativen und die Nationalliberalen der Regierung in der Polenpolitik entgegentraten und weitere Zugeständnisse verhinderten.

Sobald den Polen klar wurde, dass die preussische Regierung die äusserste Grenze der Nachgiebigkeit erreicht hatte, erhob sich in der Provinz ein solcher Sturm, dass die polnische „Versöhnungspartei“ jeden Rückhalt verlor. Die polnischen Freunde der preussischen Regierung aber konnten sich vor der Wut ihrer Landsleute nur dadurch schützen, dass sie selbst jetzt in der schärfsten Weise der preussischen Regierung entgegentraten.

So ist es gekommen, dass in dem Kampf um die Verwaltung nichts so lähmend gewirkt hat als die vorzeitigen, übereilten „Versöhnungsversuche“.

Denn erstens wurde die polnische Bevölkerung dadurch über ihr Verhältnis zum preussischen Staate immer wieder irregeführt, die Träume von Losreissung oder doch Sonderstellung der Polen wurden immer von neuem rege und erschwerten die Befestigung der Verhältnisse. Politische Agitatoren gewannen dadurch Macht, und internationale Intriguen wurden zwischen Posen, Krakau und Warschau angezettelt.

Bedenklicher noch ist die zweite Wirkung der Versöhnungsversuche:

Polnische Führer insbesondere aus der Aristokratie und polnische Organisationen, insbesondere solche mit geistlicher Leitung, fanden in Berlin bei den Ministerien und an noch höheren [219] Stellen einen Rückhalt, während die preussischen Lokalbehörden, die Regierungspräsidenten und die Landräte „um die Versöhnung nicht zu stören“ in ihrer Aktionsfreiheit gebunden wurden. So wurde die preussische Verwaltung mattgesetzt, eine Situation, die von den Polen stets politisch ausgenutzt worden ist.

Für die preussische Staatsverwaltung ergibt sich hieraus dieselbe. Lehre, die Österreich in schlimmen Erfahrungen erkennen musste: In den Gebieten des Nationalitätenkampfes treten die nationalen Differenzen heute mit solcher Wucht auf, dass sie alle Kräfte und Einrichtungen in ihren Dienst zwingen. Weder Staat noch Kirche können sich dem entziehen. Mit friedfertigen und menschenfreundlichen Phrasen ist solche Situation nicht zu überwinden, vielmehr hat die Staatsverwaltung nur die Wahl, ob sie beherrschend in den Kampf eingreifen oder – ein Popanz der Parteien werden will. In beiden Fällen ändert die Staatsverwaltung ihr normales Aussehen: sie erweicht entweder wie in dem Kampfgebiete Österreichs oder sie muss hart und scharf werden.[5]

II. Der wirtschaftliche Kampf um die Ostmarken und die Ansiedelungspolitik.

1. Der Tiefstand der polnischen Wirtschaft.

Bis zum Anfang der 80er Jahre hielt niemand für möglich, dass die Polen einen wirtschaftlichen Kampf mit den Deutschen wagen könnten. Die „polnische Wirtschaft“ war sprichwörtlich geworden für Unordnung und Schlaffheit. Über „das unordentliche Polenzeug“ hatte schon Friedrich der Grosse geklagt, als er die wirtschaftlichen Verhältnisse in den neu erworbenen Landesteilen kennen lernte. Und noch 1870 schrieb ein kluger Beobachter: „Es ist eine Schmach zu sehen, so eine polnische Bauernwirtschaft!“[6] Ungenügende Bestellung des Bodens und jammervolle Ernten, Wucher, Trunkenheit und Verfall. Nicht anders der polnische Grossgrundbesitz, der zum Teil versumpft oder verdorrt dalag, wenn nur der Rest genügte, um die Kosten der jährlichen Reise nach Paris zu bezahlen. Kein Wunder, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts der Grundbesitz allmählich in deutsche Hände überging und die Deutschen, die kaum ⅓ der Bevölkerung ausmachten, Anfang der 80er Jahre etwa des Bodens in Händen hatten. Ebenso wurde der Handel und die junge Industrie von Deutschen geleitet; Deutsche, die im Gegensatz zu den Polen meist zweisprachig waren[7], beherrschten das Wirtschaftsleben.

[220]

2. Wirtschaftliche und soziale Arbeit im polnischen Volke.

Doch im polnischen Volke arbeiteten seit Jahrzehnten weitblickende Männer an wirtschaftlicher und sozialer Hebung. Jede Enttäuschung politischer Hoffnungen, jede misslungene Verschwörung, jede fehlgeschlagene Revolution schob die einst verachtete, nüchterne wirtschaftliche Arbeit stärker in den Vordergrund und nach der politischen Niederlage von 1863 entstand unter Führung Maximilian Jackowskis eine Gruppe der „positiven Arbeit“, durchdrungen von dem Gedanken, dass die Polen sich nur entwickeln könnten, wenn sie bis in die Tiefen ihres Volkes soziale Organisationen führten, um die ziellose und stumpfe Masse zu bewusster Arbeit zu wecken. Jedoch noch ein Jahrzehnt dauerte es, ehe die Gruppe der „positiven Arbeit“ gegenüber den phantastischen Politikern zur Wirkung kam. Erst nach der Gründung des Deutschen Reiches, als die Hoffnungen auf Losreissung und Selbständigkeit allmählich erlahmten, wendeten sich die Polen in grösserer Zahl der wirtschaftlichen Reorganisation zu und man kann als den Anfang dieser neuen Zeit den Februar 1873 bezeichnen, da auf der Generalversammlung des Zentralvereins polnischer Grundbesitzer beschlossen wurde, polnische Bauernvereine zu begründen. Kurz vorher hatten sich einige Wirtschaftsgenossenschaften zusammengetan, um den Kredit der Polen zu entwickeln und bald zeigte sich, dass die wirtschaftlichen Organisationen der Polen auch Träger des polnischen Nationalismus wurden.

Während diese Umbildung vor sich ging, war der Kampf um die Verwaltung der Provinz in die Epoche der Schulpolitik getreten und die Regierung hatte wohl erkannt (wenn sie das offiziell auch niemals zugab), dass die grossen Hoffnungen, welche man an die germanisierende Wirkung der deutschen Schule knüpfte, sich nicht verwirklichten. Im Gegenteil hatte die germanisierende Schulpolitik bis in die letzte Hütte einen Agitationsstoff getragen, der die bis dahin in Dumpfheit lebende Masse politisch erregte. Hiermit verband sich[8] in einer sehr geschickten und unangreifbaren Weise die polnische Bauernorganisation, die Anfang der 80er Jahre in etwa 120 Vereinen den Kern der polnischen Bauernschaft umfasste. Zwar war „Politik“ in den Bauernvereinen verpönt, aber die Pflege des polnischen Nationalgefühls galt nicht als Politik. Den Boden nicht in deutsche Hände gelangen zu lassen, sich gemeinsam gegen Massregeln der preussischen Regierung zu wehren, die Vorherrschaft der Deutschen im Handel zu bekämpfen, das wurde ein Hauptzweck der nationalen Organisation.

Da also die Schulpolitik versagte und die polnische Bevölkerung sich bewusster und wirksamer gegen die Deutschen organisierte, griff die Regierung zu einem Mittel, das sich in der preussischen Geschichte seit Jahrhunderten wohl bewährt hatte: zur Kolonisation.

3. Die Begründung der Ansiedlungskommission.

Am 26. April 1886 erging ein Gesetz, welches der Regierung einen Fonds von 100 Millionen Mark zur Verfügung stellte, um zur Stärkung des deutschen Elementes in den Provinzen Westpreussen und Posen deutsche Bauern und Arbeiter anzusiedeln. Die Ausführung des Gesetzes wurde einer besonderen Kommission (Ansiedlungskommission) übertragen, welche dem Staatsministerium unterstellt wurde.

Um der neuen Behörde eine möglichst selbständige, von bureaukratischen Reibungen befreite Wirksamkeit zu sichern, vereinigte der König die Ämter des Präsidenten der Ansiedlungskommission und des Oberpräsidenten von Posen in einer Person.[9]

Als die Ansiedlungskommission ans Werk ging, zeigte sie sich den Polen so überlegen, dass sie mit Leichtigkeit verschuldete Güter des polnischen Adels kaufte und im ersten Jahrfünft über 45 000 Hektar aus polnischer Hand gewann. Zugleich meldeten sich deutsche Ansiedler in steigender Zahl, um in unseren Osten einzurücken.

Nach diesem energisch und zielbewusst geführten Eröffnungsspiel bot sich Anfang der 90er Jahre eine glänzende Gelegenheit, die Ansiedlungspolitik mit wenigen grossen Zügen für die Dauer zu [221] sichern. Denn infolge der Sinkens der Getreidepreise und der Notlage der Landwirtschaft waren zahlreiche Güter zu billigen Preisen zu haben und der Staat konnte sich, wenn er nur zugriff, zusammenhängende Gebiete in so grossem Umfange verschaffen, dass kein polnischer Widerstand fähig gewesen wäre, die Durchführung der Ansiedlungspolitik zu hindern.

Leider hat man diese Gelegenheit verpasst, weil 1890 nach der Entlassung Bismarcks eine „Versöhnungspolitik“ inauguriert wurde, die das klug und gross angelegte Unternehmen plötzlich lahmlegte. Zwar fuhr der Präsident der Ansiedlungskommission fort Güter zu kaufen, jedoch unter dem Druck der neuen Politik konnte er die Marktlage nicht ausnutzen und musste ausserdem mit ansehen, wie die preussischen Behörden den polnischen Ansiedlungsbanken seit 1892 Rentengutskredit zur Verfügung stellten und so der Ansiedlungskommission eine gefährliche polnische Konkurrenz grosszogen.

4. Der Kampf um den Boden.

Als die Regierung im Jahre 1895 zum alten Kurse der Ansiedlungspolitik zurückkehrte, war die glänzende Gelegenheit verpasst und die Ansiedlungskommission stand einer weit schwierigeren Aufgabe gegenüber:

1. waren die brüchigsten Stellen aus dem polnischen Grossgrundbesitz durch die Ankäufe von 1886 bis 1895 und durch die neu erstandene polnische Parzellierungskonkurrenz beseitigt worden.

2. zogen die Preise der landwirtschaftlichen Produkte wieder an und die Not der Landwirtschaft liess nach.

Infolgedessen verringerte sich das Angebot von Gütern.

Hierzu kam die polnische Aktion: Die Polen hatten ihre wirtschaftlichen Kräfte jetzt gleichsam auf das eine Problem – Kampf um den Boden! – konzentriert. Sie hatten in dem seit 1886 verflossenen Jahrzehnt in mühevollen, an Enttäuschungen reichen Versuchen festgestellt, dass es möglich sei, das polnische Proletariat, das bis dahin nach Amerika auswanderte, in der Heimat anzusiedeln. Sie hatten festgestellt, dass diese bedürfnislosen Ansiedler fähig und bereit waren, ihr Stückchen Land der Frau zu überlassen, während sie selbst jahrelang in den westfälischen Bergwerken arbeiteten, um mit ihren Ersparnissen den hohen Kaufpreis hoch zu verzinsen und schnell zu amortisieren.

Einen Strom solcher Ansiedlungslustiger hatte man herangezogen, hatte die Art der Finanzierungen der neuen Aktion angepasst und das ganze System der Bauernvereine und Genossenschaften in den Dienst des Bodenkampfes gezogen. So wurde der Kampf um den Boden das kritische Moment, das alle Kräfte der Polen an sich riss, und den polnischen Führern stand sichtbar und aufdringlich vor Augen, dass sie alles auf diese Karte setzen mussten, um die bescheidene polnische Volkswirtschaft in diesem einen Punkt zu überragenden Leistungen fähig zu machen.

Sobald der Erfolg sich zeigte, griff die Spekulation ein: „Ein Fleckchen Erde in der Heimat“, Parzellen von 1 bis 6 Morgen kosteten damals 100 bis 800 Mark. Da jedoch der polnische Westfale aus seinen Lohnersparnissen das 1½fache und Doppelte aufbringen bezw. verzinsen konnte, wurde für die kleinen Parzellen das 1½fache und Doppelte des Wertes gefordert. Dabei trat nicht einmal notwendig eine Überschuldung ein, sondern der Pole, der für eine Parzelle von 300 Mark das Doppelte zahlen musste, gab zunächst 200 Mark aus seinen Ersparnissen und tilgte den Rest im Laufe der Jahre, und wenn er dabei zugrunde ging, trat ein anderer an seine Stelle. Es gab ja landhungrige Menschen genug, die bereit waren, die hypothekenbelastete Parzelle zu übernehmen und die Schulden in mühseliger Arbeit abzufrohnden. Die preussische Ansiedlungskommission zahlte mit Geld, die Polen zahlten – mit Menschen.

Natürlich liess sich das spekulative deutsche Kapital diese Gewinnchance auch nicht entgehen und jeder, der im östlichen Güterhandel Geld verdienen wollte, kannte bald den Erfahrungssatz: „An Polen zu parzellieren ist rentabel; an Deutsche zu parzellieren ist unrentabel“, denn der Deutsche steht wirtschaftlich und kulturell zu hoch, um, wie der kleine Pole, um ein Stückchen Erde zu fronden. Den Deutschen zieht es nicht in den Osten, den der Pole so liebt; der Deutsche ist daher nicht so landhungrig in unserem Osten, er lässt sich nicht ausbeuten, begnügt sich nicht mit jammervollen Gebäuden oder Gebäuderesten. In der Tat: An Deutsche zu parzellieren war unrentabel; an [222] Polen zu parzellieren rentabel, und den Kennern blieb nicht verborgen, wie sich deutsche Güterhändler und auch deutsche Grundbesitzer immer eifriger daran beteiligten, deutschen Besitz an Polen aufzuteilen. So gingen die Polen vor und bald erkannte man, dass die deutsche Aktion machtlos war gegenüber dem Ansturm der kleinen landhungrigen Polen, die um ein Stückchen Erde jahrelang Frondienste leisteten. Es zeigte sich, dass trotz aller Ankäufe der Ansiedlungskommission die Deutschen seit 1896 Jahr für Jahr Verluste an Grund und Boden erlitten, sodass sie von 1896 bis 1904 über 58 000 Hektar in Posen und Westpreussen an die Polen verloren haben.

5. Das Ausnahmegesetz gegen polnische Siedlungen (Ansiedlungsnovelle).

Deshalb entschloss sich die preussische Regierung im Jahre 1904, ein Ausnahmegesetz zu schaffen, welches die Errichtung von Wohnhäusern auf dem Lande von der Genehmigung des Regierungspräsidenten abhängig machte. Man war der festen Überzeugung, dass die Überlegenheit der polnischen Siedlungen damit gebrochen sei, denn jetzt konnten, so meinte man, gegen den Willen der Regierung polnische Siedlungen im Kampfgebiete überhaupt nicht entstehen. Jedoch die Polen umgingen das Gesetz, indem sie deutsche Güter teils unter Benutzung alter Insthäuser, teils unter Benutzung benachbarter Gebäude aufteilten, und das Oberverwaltungsgericht erkannte in einer Sitzung vom 5. Oktober 1905 für Recht, dass diese Umgehung zulässig sei. Also war die Ansiedlungsnovelle ein Schlag ins Wasser, und es war nicht zu verwundern, dass im Jahre 1905 wiederum über 4000 Hektar an die Polen verloren wurden, im Jahre 1906 sogar über 12 000 Hektar und 1907 fast 6000 Hektar. Die Kraft der Polen war nicht gebrochen.

6. Das Enteignungsgesetz.

Weitblickende Beamte hatten schon seit einem Jahrzehnt als Fundamentalfehler der Ansiedlungspolitik den Mangel des Enteignungsrechts bezeichnet und darauf hingewiesen, dass eine Behörde unmöglich auf die Dauer mit skrupellosen Spekulanten konkurrieren könne. Sie hatten gezeigt, dass die Ansiedlungskommission durch das Dazwischentreten gewandter und rücksichtsloser Privatunternehmer notwendig zu einem Spielball der Grundstücksspekulation werden müsse, solange sie gezwungen sei, sich den erforderlichen Grund und Boden durch freihändigen Kauf zu verschaffen. Jedoch die Regierung hielt den Gedanken, Güter aus politischen Gründen zu enteignen, für so radikal, dass es dauernder und schwerer Enttäuschungen bedurfte, bis endlich der Ministerpräsident Fürst Bülow sich entschloss, vom Landtag das Enteignungsrecht zu verlangen.

Durch das Gesetz vom 8. März 1908 wurde der Ansiedlungskommission das Enteignungsrecht verliehen.

Dann zögerte die Regierung, von der Waffe, die sie gefordert hatte, Gebrauch zu machen. Man fürchtete, dass eine Enteignung aus politischen Gründen ernste Bedenken hervorrufen werde, und nach den schlimmen Überraschungen im Kampf um den Boden zweifelte man, ob die Enteignung überhaupt einen nationalpolitischen Erfolg sichern werde. Man wies auf die Erfahrungen hin, die bisher mit Enteignungen der Eisenbahnen, der Kommunen usw. gemacht waren, und erinnerte daran, dass nach der gerichtlichen Praxis mehrerer Jahrzehnte den Enteigneten ein „reichlich bemessener Ersatz“, oft sogar der volle Spekulationspreis erstattet worden war. Die Anwendung der Enteignung werde daher, so meinte man, den Gütermarkt nur von neuem beunruhigen, werde den Polen grosse Summen zuführen, werde die deutschen Besitzer, die solche Gewinne nicht erhielten, zum Verkauf an Polen verführen, ein neuer Circulus vitiosus werde entstehen, in welchen dann die Regierung wieder hilflos gebannt sei.

Und doch gibt es eine Möglichkeit, die Enteignung anzuwenden, ohne in den neuen Circulus vitiosus zu geraten; wenn man sich entschliesst, zwei Grundsätze mit eiserner Konsequenz zu befolgen.[10]

[223] Erstens nur selten zu enteignen (etwa alle zwei Jahre einmal).

Zweitens nur solche Besitzungen zu treffen, deren Bewertung für die umliegenden Güter wenig oder garnicht massgebend ist.

Beide Grundsätze lassen sich vereinigen. Die polnische Aristokratie besitzt nämlich in Posen Latifundien von gewaltiger Ausdehnung, Herrschaften von je 2000 bis 15 000 Hektar Grösse.

Wegen ihrer Eigenschaft als Familiengüter und wegen ihrer ungewöhnlichen Grösse haben solche Besitzungen „keinen Kurs“ auf dem Gütermarkt. Sie können weder von einer vorahnenden Spekulation erworben werden, noch lassen sich die Abschätzungen dieser Herrschaften auf die Menge der Durchschnittsgüter übertragen. Sie bilden mithin eine Klasse für sich, die enteignet werden kann, ohne dass der übrige Gütermarkt dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird.

Hierzu kommt ein weiterer Vorteil: die grossen Latifundienherrscher, die ihren Besitz meist einem „Generalbevollmächtigten“ überlassen, um fern von den Ostwinden Posens zu leben, werden nach ihrer Enteignung den Erlös nur selten wieder im deutschen Osten anlegen. Und selbst, wenn sie den Wunsch haben, werden sie schwerlich auf dem Gütermarkte einen ihren Ansprüchen genügenden Ersatz finden.

Entschliesst die Regierung sich, auf dieser Grundlage zu bauen, so wird sie das deutsche Siedlungswerk durchführen können. Nur alle zwei Jahre braucht sie dann in die polnischen Latifundien einzugreifen, um sich mit einem Schlage 20- bis 30 000 Hektar zu sichern. Da sie bei solcher Politik auf die Enteignung mittlerer Güter vollkommen verzichten könnte, wäre der Fiskus aus der Unruhe des Gütermarktes befreit.

Und welchen Segen würde die Regierung stiften, indem sie die polnischen Latifundien in deutsches Bauernland und kleine deutsche Güter verwandelte. Sind doch heute noch Herrschaften von so ungesunder Ausdehnung vorhanden, dass ihre Existenz allein hinreicht, um auf dem Lande und in den eingeschlossenen Landstädten das wirtschaftliche Leben stocken zu lassen. Hier bietet sich eine Gelegenheit, Grosses für unseren Osten zu leisten und zugleich die Zukunft der deutschen Siedlungen zu sichern.

Noch 30 Jahre Siedlung und Besitzfestigung in unserem Osten; dann mag man getrost die Zügel locker lassen, dann ist der deutsche Stempel unseren Grenzprovinzen fest aufgeprägt.





  1. Nach der Ansicht der Polen müssen die zitierten Dokumente dauernd für die staatsrechtliche Stellung der Polen in Preussen massgebend sein.
    Im Gegensatz hierzu hat die preussische Regierung sich auf den Standpunkt gestellt, dass die Polen durch ihre Verschwörungen und Revolutionen von 1830, 1846, 1848 und 1861 jene staatsrechtliche Grundlage selbst vernichtet haben. Bismarck erklärte in seiner Landtagsrede am 29. Januar 1886: „Eine Verpflichtung, diese Grundsätze niemals zu ändern, wie auch immer seine polnischen Untertanen sich benehmen könnten, ist der König in keiner Weise eingegangen (Oho! bei den Polen) und die Versprechungen, die ehrlich vom Könige gegeben, von seinen Dienern vielleicht nicht ganz in derselben Stimmung gemeint worden, sind seitdem durch das Verhalten der Bewohner dieser Provinz vollständig hinfällig und null und nichtig geworden. (Lebhafter Widerspruch bei den Polen, sehr wahr rechts.) Ich gebe meinesteils keinen Pfifferling auf irgend eine Berufung auf die damalige Proklamation.“ (Grosse Unruhe bei den Polen und im Zentrum.)
  2. Kattner: Ist Polen ein Bollwerk Deutschlands? Bromberg 1862.
  3. Vgl. „Die Protokolle des Polenprozesses von 1864.“ Culm 1864.
  4. Wenn einmal die Archive jener Zeit der Forschung geöffnet werden, wird sich zeigen, dass die Jahre 1864 bis 1872 nicht, wie man heute wohl allgemein annimmt, eine „Ära der Duldung“ waren, sondern geradezu Versöhnungspolitik getrieben wurde, die Bismarck selbst damals gewünscht hat. Die später im Interesse einer „Continuität“ der Bismarck’schen Polenpolitik konstruierte Legende, als habe Bismarck sich von 1864 bis 1872 „aus Mangel an Zeit“ mit der Polenfrage nicht beschäftigen können, wird den in den Akten festgestellten Tatsachen nicht standhalten können.
  5. In dieser Überzeugung hat Bismarck noch im Jahre vor seiner Entlassung dafür Sorge getragen, dass die Posener Provinzialverfassung mit Kautelen versehen wurde. Sie sind im Gesetz über die Allgemeine Landesverwaltung und Zuständigkeit der Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbehörden in der Provinz Posen vom 19. Mai 1889 enthalten und lauten:
    In Artikel III: Die gewählten Mitglieder des Provinzialrates und des Bezirksausschusses bedürfen der Bestätigung des Ministers des Innern resp. des Oberpräsidenten.
    Wird die Bestätigung versagt, so wird zu einer neuen Wahl geschritten.
    Wird auch diese Wahl nicht bestätigt, so hat die zur Bestätigung berufene Behörde das Mitglied zu ernennen.
    In Artikel IV: Der Kreisausschuss besteht aus dem Landrate als Vorsitzenden und sechs Mitgliedern, welche von dem Oberpräsidenten aus der Zahl der Kreisangehörigen ernannt werden.
    Die Ernennung erfolgt auf Grund von Vorschlägen des Kreistages. Lehnt der Kreistag die Aufforderung des Oberpräsidenten zur Vervollständigung dieser Vorschläge ab, so hat der Provinzialrat auf Antrag des Oberpräsidenten darüber zu beschliessen, ob und welche Personen nachträglich in die Vorschlagsliste aufzunehmen sind.
    Lehnt der Provinzialrat die Zustimmung ab, so kann dieselbe auf Antrag des Oberpräsidenten durch den Minister des Innern ergänzt, werden.
    In Artikel V: Die Mitglieder des Provinzialausschusses und deren Stellvertreter bedürfen der Bestätigung des Ministers des Innern.
    Wird die Bestätigung versagt, so schreitet der Provinziallandtag zu einer neuen Wahl.
    Wird auch diese Wahl nicht bestätigt, so kann der Minister des Innern die kommissarische Verwaltung der Stelle auf Kosten des provinzialständischen Verbandes anordnen.
  6. H.(undt) von H.(afften): Das Verhältnis der Provinz Posen zum preussischen Staatsgebiete. – 1870.
  7. Leo Wegener, I. e. S. 76.
  8. Vgl. die Schilderung in meiner „Polenfrage“ S. 85ff.
  9. Graf Robert von Zedlitz u. Trützschler. Diese Personalunion, die sich bewährt hat, ist leider nach der Entlassung Bismarcks wieder aufgegeben worden.
  10. Vgl. zum Folgenden: „Die Anwendung des Enteignungsgesetzes in den Ostmarken“ von – – – Konservative Monatsschrift November 1911, ferner: „Die preussische Polenpolitik“ von Ludwig Bernhard im „Tag“ Nr. 21, 1912.