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6. Die Versöhnungspolitik Wilhelms II. und ihre Folgen.

Wie seine Vorgänger hat auch Wilhelm II. bald nach seinem Regierungsantritt vertrauensvoll den Versuch gemacht, zwischen den Deutschen und den Polen ein gutes Verhältnis herzustellen und den polnischen Wünschen entgegenzukommen.

Die Zugeständnisse, welche den Polen in der Versöhnungsära Wilhelm II. (1890–94) gemacht wurden, waren insbesondere folgende: Nach dem Episkopat des Deutschen Dinder wurde wieder ein Pole, der Abgeordnete von Stablewski, Erzbischof von Gnesen und Posen; ferner wurde die Bismarck’sche Ausweisungspraxis im Jahre 1891 gemildert; im April desselben Jahres wurden den Polen gestattet, in den Schulräumen polnischen Privatsprachunterricht erteilen zu lassen. Auch wirtschaftlich wurden die Polen, die sich nach dem scharfen Eingreifen der Bismarck’schen Ansiedlungspolitik in recht bedenklicher Lage befanden, jetzt von der Regierung gestärkt. So kamen z. B. die königlichen Generalkommissionen den jungen in Geldverlegenheiten befindlichen polnischen Wirtschaftsorganisationen zu Hilfe, ausserdem erhielten die polnischen Genossenschaften zu ihrer eigenen freudigen Überraschung das Revisionsrecht, das noch heute deren feste rechtliche Grundlage bildet. Ja man kann geradezu sagen, dass der Aufschwung der polnischen Genossenschaften, die zersplittert und schwach waren, von jener versöhnenden Verfügung des preussischen Handelsministers Freiherrn v. Berlepsch her datiert.

Trotz dieser Bemühungen aber musste man bald erkennen, dass der erwartete Friede nicht kam. Zwar gingen polnische Führer am Berliner Hofe und in den preussischen Ministerien freundschaftlich ein und aus, jedoch in der Provinz selbst erhob sich eine von Woche zu Woche anschwellende nationalpolnische Bewegung, welche die günstige Gelegenheit ausnutzen wollte, um die Provinzen Posen, Westpreussen und Schlesien nach Möglichkeit zu polonisieren. Insbesondere verlangte man die Beseitigung der Ansiedlungskommission und die Wiedereinführung der polnischen Schulsprache in Posen, Westpreussen und Schlesien, und solche Forderungen wurden nicht nur in der Presse und in Versammlungen gestellt, sondern von einflussreichen Mitgliedern des polnischen Adels und der Geistlichkeit.

Die deutsche Bevölkerung hatte mit wachsender Sorge beobachtet, wie die preussische Regierung vor den polnischen Ansprüchen zurückwich, und wie der polnische Einfluss sich infolgedessen auf allen Lebensgebieten immer stärker geltend machte. Wieder wie in den früheren Versöhnungsepochen zeigte sich, dass die preussischen Lokalbehörden einer polnischen Organisation nicht gewachsen waren, welche beim Berliner Hofe und in den Ministerien starke Stützen fand. Man befürchtete, dass die Regierung durch weiteres Entgegenkommen die Provinz politisch gefährden und das Land den deutschen Bewohnern verleiden könnte. So reifte bei den Deutschen der Plan, durch eine Wallfahrt zum Fürsten Bismarck gegen eine Politik der Zugeständnisse zu protestieren. Diese Bemühungen, die zur Gründung des deutschen Ostmarkenvereins führten, hatten den Erfolg, dass die Konservativen und die Nationalliberalen der Regierung in der Polenpolitik entgegentraten und weitere Zugeständnisse verhinderten.

Sobald den Polen klar wurde, dass die preussische Regierung die äusserste Grenze der Nachgiebigkeit erreicht hatte, erhob sich in der Provinz ein solcher Sturm, dass die polnische „Versöhnungspartei“ jeden Rückhalt verlor. Die polnischen Freunde der preussischen Regierung aber konnten sich vor der Wut ihrer Landsleute nur dadurch schützen, dass sie selbst jetzt in der schärfsten Weise der preussischen Regierung entgegentraten.

So ist es gekommen, dass in dem Kampf um die Verwaltung nichts so lähmend gewirkt hat als die vorzeitigen, übereilten „Versöhnungsversuche“.

Denn erstens wurde die polnische Bevölkerung dadurch über ihr Verhältnis zum preussischen Staate immer wieder irregeführt, die Träume von Losreissung oder doch Sonderstellung der Polen wurden immer von neuem rege und erschwerten die Befestigung der Verhältnisse. Politische Agitatoren gewannen dadurch Macht, und internationale Intriguen wurden zwischen Posen, Krakau und Warschau angezettelt.

Bedenklicher noch ist die zweite Wirkung der Versöhnungsversuche:

Polnische Führer insbesondere aus der Aristokratie und polnische Organisationen, insbesondere solche mit geistlicher Leitung, fanden in Berlin bei den Ministerien und an noch höheren

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/234&oldid=- (Version vom 14.9.2022)