Textdaten
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Autor: Dr. –r
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Titel: Die nervenkranken Damen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 177–179
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[177]
Die nervenkranken Damen.
Von einem gesuchten Damenarzte.

Kürzlich saßen wir einmal, zwölf befreundete Aerzte gleicher Schule (eine seltene, aber erfreuliche Erscheinung!), bei einem gemeinsamen Picknick beisammen. Die Unterhaltung drehte sich begreiflicherweise, da wir „unter uns Mädchen“ waren, viel um die Freuden und Leiden der Praxis. „Weiß der Himmel,“ sing einer an, „alle nervenschwachen Frauenzimmer hiesigen Orts hängen sich an mich!“ „Nein, an mich! – an mich! – an mich!“ rief es von allen Seiten der Tafel. Der Streit endete mit der Schlußfolgerung, daß die Zahl der Nervenpatientinnen wohl dutzendfach größer sein müsse, als sich die beschäftigtsten Aerzte selbst eingebildet hatten.

Wenn der geneigte Leser daraus schließen wollte, daß die Aerzte dieser Classe von Patienten überhoben zu sein wünschten, so würde er sich aber gewaltig irren. Denn dieselben machen die Würze der ärztlichen Praxis aus, welche ohne sie gar zu schaal oder handwerkerisch ausfallen würde. Dieser Wechsel von Klage und Freude, Hoffnung und Verzweiflung, Verehrung und Schmollen, Vergötterung und Hassen, diese immer neuen und immer gleichbedeutenden Zufälle und Anfälle gehören zu den Gemüthsbewegungen, welche dem praktischen Arzte endlich zum Bedürfniß werden und ihm seinen täglichen Rundlauf pikant machen. Dazu bilden diese Nervenkranken den lucrativeren Theil der Praxis und diese Damen selbst die Avantgarde zur Weiterempfehlung des Arztes, namentlich so lange sie im Stadium des ersten Enthusiasmus sind, wo sie ihren Arzt fast jeder Andern aufzwingen möchten. – Beide Theile sind einander gegenseitig unentbehrlich, mögen sie auch manchmal auf einander schmollen. Das kleine Gezänk erhöht ja die Liebe.

Was versteht man denn unter einer nervenschwachen Dame?“ fragt der Leser.

Eine nervenschwache Dame ist –ist – nein, so geht es nicht! Der Begriff ist nicht schulmäßig definirbar.

An den nervenkranken Frauenzimmern beobachtet man alle möglichen Nervenzufälle, welche überhaupt als Erscheinungen der gestörten Nervenfaser und in Nervenkrankheiten erfahrungsmäßig vorkommen können (also die verschiedenartigsten Störungen der Empfindung, der Bewegung und des Denkens), – und zwar an jeder Einzelnen solcher Nervenkranken ein gutes Theil von dergleichen Symptomen in den mannichfachsten Gruppirungen und Abwechselungen, – aber wohlgemerkt, ohne daß dabei ein wirkliches organisches Leiden des Nervenmarkes nachweisbar wäre. Das Gehirn, das Rückenmark, die Nervenstämme selbst, in der Regel auch alle zum Lebensbestand nöthigen Organe, sind dabei völlig oder verhältnißmäßig gesund. Die Nervenzufälle entstehen also hier durch bloße Nervenleitung, – durch Sympathie, wie man ehedem, durch Reflex und Irradiation, wie man jetzt sich ausdrückt.

Der Leser erinnere sich aus früheren Nummern der Gartenl. (1855. Nr. 4. ), daß das Nervensystem ein großartiger, den elektrischen Telegraphen ähnlicher Leitungsapparat ist, in welchem Millionen von feinen Röhrchen die Eindrücke der Außenwelt und die eigenen Körpergefühle nach einem Central-(Sammel-)Organe hinleiten, während ebensoviel Millionen wieder die im Centralorgane (Hirn und Rückenmark) aufgespeicherten und verarbeiteten Anstöße hinausleiten in die Bewegungsorgane, die Muskeln, wo sie sich in der Form von Reden oder Handlungen oder in der weniger auffälligen Bewegung des Herzens, der Athmungs-, Verdauungs- und anderer innerer Werkzeuge entladen, gleichsam Luft machen oder austoben. Dieser Entladungsvorgang kann zum Theil gehemmt oder verzögert werden durch die Macht des Gehirns, durch Willkür. Zum Theil aber macht er sich trotz derselben Luft in den der Willkür entzogenen Bewegungen des Herzens, der Därme etc., oder auch in unwillkürlichen, sogenannten krampfhaften Bewegungen äußerer Muskelgruppen. Ein in’s Auge geflogenes Körnchen bewirkt Zusammenkneipen der Augenlider mit Thränenfluß, eins dergleichen im Kehlkopf heftigen Husten, ein Stich in den Finger macht den Arm zucken, und wer sich die Hand verbrannt, zappelt mit dem ganzen Leibe. Das sind Beispiele dieses „Nervenreflexes“, wie die ärztliche Sprache es nennt; sie lassen sich leicht zu Dutzenden vervielfältigen. In diesen Fällen springt ein Nervenreiz, der die Empfindungsnerven betroffen hat, durch Vermittelung der Centralorgane auf gewisse Bewegungsnerven über und erregt in den dazu gehörigen Muskeln Krampf. Dies ist der gewöhnlichste und bekannteste Fall. – Es kann aber der Reiz auch von einem Empfindungsnerven auf den andern dergleichen überspringen: ein heftiger Stoß gegen das Knie oder einen noch empfindlicheren Theil macht, daß wir die Ohren klingen und „die Engelchen singen“ hören; eine Gallenerregung oder Magenverderbniß weckt einen schlummernden Zahnschmerz; ein Gallensteinkranker fühlt Schmerzen in der Schulter; der Spulwurm im Dünndarm bewirkt Kribbeln in der Nase. – Ja, der Reiz kann sogar zur Hemmung und Lähmung für gewisse Bewegungen oder Empfindungen werden, wie wir sehen, daß eine heftige Angst unempfindlich gegen äußerliche Schmerzen macht oder ein heftiger Schreck das Herz zum Stillstehen bringt.

Diese vier genannten Grundformen der unwillkürlichen, durch Nervenreflex (Ueberstrahlung, Irradiation) bedingten Nerventhätigkeiten: Reizung der Empfindungen (Schmerz u. ähnl.) oder der Bewegungen (Krampf), Lähmung der Empfindungen (Unempfindlichkeit) oder der Bewegungen (Lähmung im engeren Sinne), sind es nun auch, welche bei den sogenannten nervenkranken Frauen auftreten, theils in den niederen, theils in den höheren (dem Denken dienenden) Gebieten des Nervensystems. Das Wesen der sogenannten Nervenschwäche besteht eben darin, daß diese unwillkürliche Nervenleitung, dieser Nervenreflex allzuleicht, allzurasch, allzuheftig erfolgt.

Die Ursachen und Quellen dieser krankhaft erhöhten Reflexreizbarkeit vieler Damen können sehr verschieden sein. An sich ist der weibliche Organismus geistig und körperlich (was wir Mediciner bekanntlich nicht trennen) zarter und empfindsamer eingerichtet und durch seine sociale Stellung gefühlvoller, d. h. mehr daran gewiesen, seine Gefühle in sich zu bergen und anzuhäufen. Bei den europäischen, sogenannten civilisirten Völkern ist die gesammte Erziehung und Lebensbahn der Frauen, wenigstens der gebildeteren und städtischen, dahin gerichtet, diese Empfindungsfähigkeit [178] über das natürliche Maß zu steigern und auf Kosten der Thatkräftigkeit zu überfeinern. Man will die Frauen und Mädchen einerseits so feinfühlend und empfindsam wie nur immer möglich machen und verhindert andererseits durch die übertriebenen Begriffe vom geselligen Anstand, besonders durch das unglückliche „es schickt sich nicht,“ die natürliche Ausströmung und Ableitung dieser Empfindungen in Bewegungsacte, d. h. in freie Tätigkeiten und Handlungen. Man verwechselt Thatkraft mit Rohheit, nützliche Beschäftigung mit erniedrigender Arbeit. Eine Menge der heutigen Frauen sind genöthigt, ihr Leben mit Unthätigkeit oder nutzlosen Tändeleien hinzubringen. Schon das Mädchen wird gewöhnt, die natürlichsten Regungen, sogar die unabweisbarsten Körpertriebe zu unterdrücken, während der Knabe, Jüngling und Mann immer (wenn er nur will und nicht von Haus aus feige ist) reiche Gelegenheit findet, sich auszuarbeiten, seinen Gefühlen Luft zu machen und seine Triebe (sogar bis zum schädlichsten Uebermaß) austoben zu lassen. Eine Menge Frauen sind genöthigt, zeitlebens der Ehe zu entsagen oder sich erst spät oder ohne Theilnahme des Herzens, oft ohne Aussicht auf Kindersegen zu verheirathen, also gerade in derjenigen Lebensaufgabe, welche das ganze Sein des Weibes beherrscht, zeitlebens unbefriedigte Gefühle in sich zu verschließen. Darf man sich nun wundern oder darüber spötteln, wenn man eine Unzahl von Frauenzimmern unserer Zeit und unserer Lande mit krankhaften Empfindungen (wie eine elektrische Batterie) überladen findet und diese Empfindungen sich beim leisesten Anstoß in krankhaften Nervenreflexen, in Krämpfen, Schmerzen, Lähmungen oder geistigen Verkehrtheiten Luft machen? Gewiß nicht!

Sehr oft aber ist die Quelle der übertriebenen Reflexreizbarkeit einer Nervenkranken örtlicher Art, indem ein Kranksein eines einzelnen Organes im Körper, gleich einem insgeheim fortwährend stachelnden Dorne oder Splitter, im Innern des Körpers die Nerven reizt, welche diese Eindrücke dem Centralorgan (Hirn und Rückenmark) zuströmen lassen. Man denke sich Jemand, der eine wunde, fortwährend schmerzende Stelle an sich hat und doch jede Schmerzensäußerung verbeißen muß, – oder ein Roß, das streng im Zügel gehalten wird, während ihm das lockere Geschirr fortwährend an die Beine schlägt oder ein Hufnagel in’s weiche Fleisch drückt; – wundert man sich, wenn in solchen Fällen die belästigende Empfindungsfülle plötzlich in Toben oder Krampf ausbricht? Nun, ähnlich ist der Zustand mancher Hysterischen, die ihr eigentliches Körperleiden nicht zur Schau tragen oder bekennen dürfen oder können.

Besagtes Körperleiden betrifft nun sehr häufig (aber keineswegs allemal) das innere Gebärorgan (den Uterus, die Hystera) und dessen Anhänge. Insofern hat die älteste Medicin nicht Unrecht, wenn sie die fragliche Nervenkrankheit Hysteria, d. h. die Mutterkrankheit, Mutterstaupe nannte, daher diese Classe von Damen noch heute allgemein den Namen „Hysterische“ erhalten. Die Art der organischen Krankheit kann hierbei eine sehr verschiedene sein: Blutanschoppung, schleichende Entzündung und deren Ausgänge (Katarrhe, Schleimflüsse, Geschwürchen, Verdickungen, Verhärtungen), Umbeugungen und Form- oder Lageveränderungen dieses Organes kommen am häufigsten und in den mannichfachsten Combinationen vor. Das Uebelste dabei ist, daß diese organischen Erkrankungen sämmtlich nur durch gewisse technische Untersuchungen, welche natürlicherweise jedem Frauenzimmer im höchsten Grade zuwider sind, erkannt werden können. Deshalb vertrauen sich solche Patientinnen gewöhnlich erst Jahre lang den Hebammen an, welche doch von diesen Krankheiten und ihrer Erkenntnis nicht das Geringste verstehen, ja sogar mit Willen in den Hebammenschulen darüber in Unwissenheit erhalten werden, um sie am Pfuschen zu verhindern; oder sie gehen erst zu jenen gewissenlosen Charlatanen (mit oder ohne Doctorhut und Titel), welche curiren, ohne untersucht zu haben. Natürlich wird dabei ihr organisches Uebel immer schlimmer und auch das Nervensystem immer reizbarer, da sowohl das Verfehlen der weiblichen Lebenszwecke, als das Grübeln darüber und die Notwendigkeit, dies Alles geheim zu halten, eine immer höher steigende Anhäufung von Empfindungsreizen in den Centralorganen herbeiführen muß.

Von anderen Organen, welche zu hysterischen Zufällen Anlaß geben, sind am häufigsten die der Verdauung schuld; mancherlei Störungen derselben, am häufigsten Obstruction, Gasanhäufung (woher der alte Name Vapeurs für diese Nervenzufälle), Würmer, manchmal Magengeschwüre, Leberschwielen, Gallensteine und andere Leberübel. – Sehr oft sind die ausbrechenden Krämpfe nur durch allzulange, willkürlich zurückgehaltene Ausleerungen hervorgerufen! – Seltener geben die Brustorgane Anlaß: Herzübel, Lungentuberculose. – Daß das Rückenmark selbst mit jenen Nervenzufällen in inniger Beziehung steht, wurde schon oben erwähnt. In neuerer Zeit fand man, daß bei solchen nervenkranken Damen in der Regel ein oder mehrere Wirbel (am häufigsten der vierte bis sechste Rückenwirbel) beim Druck auf dessen Dornfortsatz schmerze: man nannte dies Spinalirritation und hielt es für ein Zeichen einer bestimmten Art von Rückenmarksaffection, welche mit Hysterie gleichbedeutend sein sollte. Letzteres hat sich nicht bestätigt, aber die Thatsache der Wirbelempfindlichkeit kann man fast bei allen Hysterischen auffinden. – Ein unkräftiges, wässeriges Blut (Bleichsucht) ist hier oft vorhanden und beeinträchtigt jedenfalls die Ernährung und Kraft der Nervenmasse selbst.

Die Zufälle, durch welche sich jene übermäßige Reflexreizbarkeit äußern und entladen kann, sind, wie schon oben berührt, äußerst mannichfach. Sie ahmen eine Menge anderer, wirklicher Krankheiten nach. Derartige „hysterische Scheinkrankheiten“, wie man sie wohl mit gewissem Rechte nennen kann, sind z. B.: fallsüchtige oder starrkrampfartige Krämpfe, Athemnoth und Stillstand der Athmungsmuskeln, Zuschnürungen in der Kehle (dahin die allbekannte „hysterische Kugel“ im Hals, der Globus hystericus), schlagähnliche Anfälle, Ohnmächten bis zu Scheintod, Lähmung einzelner Glieder (oft von großer Hartnäckigkeit und später doch einer Bagatelle weichend), Unempfindlichkeit der Haut (oft auf großen Strecken und so völlig, daß man selbst Nadeln durchstechen[1] und starke elektrische Funken hindurchschlagen kann, ohne den geringsten Schmerz zu erregen), geistige Verzückungen und somnambule Zustände, Schmerzen in den verschiedensten Organen (so daß selbst der geübte Arzt in Zweifel gerathen kann, ob nicht z. B. ein Magengeschwür, eine Brust- oder Bauchfellentzündung im Entstehen sei), hartnäckige, krampfhafte Hustenanfälle bis zur Schwindsuchtsähnlichkeit (die Wahnschwindsüchtige, Gartenlaube 1857. Nr. 19.), Herzklopfen und andere Herzzufälle bis zur täuschenden Ähnlichkeit eines organischen Herzfehlers u. dgl. m. Um diese hysterischen Zufälle, und besonders die häufigsten derselben, die hysterischen Krämpfe, von den ihnen täuschend ähnlichen wirklichen Krankheiten (z. B. wirklicher Fallsucht, wirklichem Brustleiden) zu unterscheiden, achtet man darauf, daß selten bei ihnen alles Bewußtsein ganz fehlt („der Hecht war blau!“ und die Scheintodte erwacht mit einem Male!), daß schon beim Eintreten des Anfalles Bewußtsein und Ueberlegung (z. B. mit Anstand zu fallen) deutlich obwaltet, daß die Pupille gegen Licht, die Nase gegen Riech- und Niesmittel empfindlich bleibt (darum hält man verbrannte Federn vor die Nase, zur Abkürzung des Krampfanfalles), daß trotz des allgemeineren Krampfes einzelne Muskeln (und wären es auch nur die der Augäpfel) dem Willen noch gehorsam bleiben, daß die Symptome oft schnell wechseln, ohne solch’ eine regelmäßige Reihenfolge, wie bei den ähnlichen Krankheiten nichthysterischer Personen, daß heute Krämpfe, morgen Nervenschmerzen obwalten, daß Gemüthsstimmungen (der verweigerte und der gekaufte Kaschemirshawl!), Witterung, Körperdisposition (z. B. Eintritt oder Vorhandensein gewisser Ausscheidungen) vom entschiedensten Einfluß auf das Entstehen und das Vergehen dieser Anfälle sind – und dazwischen Tage, Wochen und Monate lang treffliche Gesundheit bestehen kann. Ueberdies merkt jeder Geübte, auch außer den hysterischen Anfällen, einer solchen Person wohl an, daß sie sehr reizbar und impressionabel, mit Krankheitsgefühlen oder Gemüthserregungen überladen und zu ausführlichen Beschreibungen ihrer verschiedenen Leiden geneigt ist. In der That ist das sich Ausklagen, auch wohl sich Ausweinen das beste Mittel, womit solche Patientinnen sich Luft machen können; daher ihr Arzt auch große Geduld im Zuhören besitzen muß. Schreibt man die gehörten Klagen Tag für Tag auf, so gelangt man oft schnell zu der Ueberzeugung, daß es immer neue und unbeständige, daher unmöglich auf ein bestimmtes Einzelleiden zurückführbare sind. Wenn überhaupt nach dem Ausspruche eines alten Dichters Wandelbarkeit [179] der Charakter des Weibes ist (varium et mutabile semper femina!), so besitzen die Hysterischen diese Eigenschaft jedenfalls in gesteigertem Maße.

Wie heilt die Hysterie? Sie verschwindet in der Regel von selbst nach erreichtem Schwabenalter, d. h. um das 45. bis 50. Lebensjahr. Wenn Frauen in Lebensverhältnisse kommen, die sie nöthigen, sich tüchtig in praktischen Geschäften abzuarbeiten, oder wenn sie in befriedigender Ehe reichen Kindersegen haben und damit die Nothwendigkeit eintritt, Tag für Tag für Erziehung, Kost, Kleidung und Zusammenhalten des Hausstandes zu sorgen, so hören die Nervenzufälle gewöhnlich auf. Auch auf kürzere Fristen schweigen dieselben, z. B. wenn die Patientin eine Reise, bezüglich Badereise macht, von außergewöhnlichen Ereignissen in Anspruch genommen wird, einen neuen Doctor angenommen, ein neues Logis be- oder ein neues Kleid angezogen hat. Reichlicher dargebotene Gelegenheit, sich auszusprechen (z. B. eine Kaffeegesellschaft) oder sich durch Schelten Luft zu machen (z. B. gegen ein Dienstmädchen, das keine schnippischen Antworten bereit hat), erleichtern gleichfalls das Uebel, weil sich die Nerven durch die Sprache Luft machen können. Wo ein bestimmtes Einzelorgan durch seine Krankheit jene Nervenzufälle veranlaßte, da verschwinden dieselben begreiflicherweise, sobald das Organ wieder in gesunden Zustand zurückgekehrt ist.

Die ärztliche Behandlung der weiblichen Nervenschwäche folge diesen Fingerzeigen der Natur. Zuvörderst versteht es sich vor Allem, daß untersucht, auf’s Genaueste untersucht werde, ob nicht ein bestimmtes Organ, insbesondere im Uterus-System krank sei, und wenn dies der Fall, daß es auscurirt werde. Dies dauert aber, wohlgemerkt, oft Monate lang, ehe man bei eingewurzeltem Uebel zu Stande kommt. Und weil eben so viele Frauenzimmer sich den dazu nöthigen unerläßlichen Proceduren (Instrumenten, Aetzmitteln etc.) nicht unterwerfen oder doch derselben sehr bald überdrüssig werden, eben deshalb gibt es soviel Hysterische, mit ungeheilten, widerwärtigen Uebeln innerer Theile behaftete und dadurch zu ewiger Welkheit, Siechheit und Gemüthsverstimmtheit verdammte Frauenzimmer. An dieser Behauptung ist nicht ein Pünktchen übertrieben! – Gestörte Darmfunctionen fordern ebenfalls stete Berücksichtigung bei solchen Kranken. Dazu dienen besonders die Klystierspritze (s. Gartenlaube Jahrg. 1855. Nr. 21.) und eine geeignete Körperbewegung. Den Damen, welche an Vapeurs leiden, pflege ich anzurathen, daß sie nach Tisch ein Stündchen spazieren gehen, aber ohne Begleitung. – Auch für die andern Ausscheidungen ist regelmäßig Sorge zu tragen. – Eine Hauptsache ist und bleibt sicherlich die psychische (seelische) Behandlung der Hysterischen. Man muß daher streben, solchen Frauenzimmern einen inneren moralischen Halt, einen Lebensmuth und eine Willensenergie zu verschaffen, damit sie die krankhaften Gefühle und allmählich die krankhafte Empfindlichkeit darnieder halten und sich des ewigen Bimbelns und Erbärmlichthuns (welches zuweilen förmlich zur Monomanie wird) schämen lernen! Dies ist freilich leichter gesagt, als gethan. Das bloße Predigen: „Sie müssen Selbstbeherrschung lernen!“ thut es nicht. Wo eine innere Hohlheit zu Grunde liegt, die eben kein anderes Mittel kennt, um sich der Welt bemerklich und merkwürdig zu machen, als das ewige Kranksein und Klagen, da scheitern wohl alle Besserungs-Versuche des Arztes, welcher hier gleichsam als zweiter Erzieher, Nacherzieher auftritt. So lange noch innere organische Krankheitszustände (am gewöhnlichsten Uterinkatarrhe) das Nervenleiden unterhalten, wie ein steter innerer Dorn, da ist es auch schwer, Selbstbeherrschung auf die Dauer zu erzielen. Aber bei Frauen, welche noch einigen Kern und Fond in ihrem Geiste besitzen, vielleicht nur durch fehlende oder unpassende Beschäftigung nervös wurden und deren organische Uebel ganz oder größtentheils beseitigt sind, da vermag das consequente Zureden und Ermuthigen eines Arztes, welcher ihr Vertrauen genießt, doch recht sehr viel. Und wenn es auch eine schwere Arbeit ist, so erscheint sie mir doch lohnender und die Patientinnen selbst liebenswürdiger, als die Aufgabe, die hypochondrischen Männer (welche das Analogon der hysterischen Frauen bilden) von ihrer unleidlichen Selbstsucht und dem steten ängstlichen Beobachten ihres lieben körperlichen Ichs zu curiren! Vor Allem sorge man, daß die Patientin reichliche und regelmäßige praktische Beschäftigungen habe: im Hauswesen oder mit Garten- und Blumencultur, Landwirthschaft, Fegen, Räumen, Ordnen u. dgl.; zur Vermehrung der körperlichen Bewegung sind auch (falls nicht etwa Uterinleiden es verbieten) Turnen, Schwimmen, Schlittschuhlaufen, Ball- und Reifenspiele, selbst ein Tänzchen, weniger gern Reiten zu empfehlen. Aber auch der Geist muß sich austurnen; sei es, auf der niederen Stufe, durch’s Ausschwatzen, Scherzen und Lachen, auch wohl Schelten unter die Dienstboten hinein, sei es, in höherer Sphäre, durch Beschäftigung mit Kunst (Singen vor Allem, auch wohl Clavierspielen, was jedoch leicht übertrieben wird, oder Malen, am liebsten Landschaftszeichnen in der freien Natur u. s. w.) oder mit der Wissenschaft (praktische Botanik und andere Naturwissenschaften, Geographie, Astronomie, Geschichte u. s. w.). Stets aber muß dies auf ernste Weise, nicht tändelnd geschehen. Es ist ganz falsch, unsere Damen durch das Schreckwort „Blaustrumpf“ davon abzuhalten; denn bei dem heutigen Bildungsgrade sind viele derselben befähigt zu solchen Studien, namentlich wie sie heutzutage popularisirt sind, und fühlen durch dieselben eine heilsame geistige Befriedigung. Auch Sprachstudien (besonders mit vorwaltender Conversation) sind zu diesem Zwecke zu empfehlen. Noch mehr oft Reisen, welche den Menschen geistig wie körperlich ausarbeiten und verjüngen, mit neuem Stoff füllen. (Freilich taugt das Fahren und Klettern nicht für Uterinkranke!) – Die Hauptsache bleibt immer, eine solche Thätigkeit für unsere Patientinnen zu finden, welche das Gemüth befriedigt, daher die beste eine solche ist, welche der Welt oder der Familie Nutzen bringt und Freude am eigenen Tagewerk hinterläßt!

Ebenfalls aus psychischen Gründen ist es nothwendig, daß der Arzt auch gegen die hundertfältigen Beschwerden und Zufälle solcher Nervenkranken immer lindernde Mittelchen bereit hat; denn er erhält sich damit im Vertrauen und darf nur nach und nach dazu schreiten, sie entbehren zu lehren. Und es müßte ein Arzt (von welcher Schule er auch sei) doch ganz ohne Erfindungsgabe und Routine sein, wenn er nicht immer etwas – und am liebsten immer wieder etwas Neues – für seine Hysterischen zu verordnen wüßte! –

In diesem Umstände liegt auch der große Einfluß, welchen die Homöopathie bei solchen Kranken gewonnen hat. Abgesehen von der sublimen Idee, Krankheitsnullitäten durch Arzneinullitäten (Aehnliches mit Aehnlichem) zu bekämpfen, so bringt die Art der homöopathischen Praxis mit sich, daß auf jedes Symptom großer Werth gelegt wird, was der wissenschaftliche, mit der Diagnose „Hysterie“ sich begnügende Arzt oft verabsäumt, und daß für jedes Symptom auch wieder ein besonderes Mittelchen gefunden wird. Da nun die meisten hysterischen Zufälle früher oder später von selbst verschwinden: so hat hier das Mittelchen „geholfen.“ Treten nun auch neue Zufälle ein, nun, so paßt eben wieder ein anderes Mittelchen! Und so kann es Jahre lang fortgehen, ehe beide Theile es überdrüssig werden. Die Homöopathie ist für diese (und manche ihnen entsprechende) Kranke eine ganz weltkluge, schier geistreiche Erfindung. Sie gehört freilich nicht zur wissenschaftlichen Medicin, sondern zur praktischen Anthropologie (angewandten Menschenkunde), als eine Kunst, mit kranken Menschen umzugehen und sie zu trösten und hinzuhalten. Aber so lange nicht alle Menschen so vernünftig sind, wie sie Herr College Bock haben will, und wie etwa die meisten Leser der Gartenlaube sein mögen; – so lange neunzig vom Hundert mehr von Gemüthseindrücken und Einbildungskraft, als von verständigen Erwägungen sich leiten lassen; – so lange noch Unzählige das Kranksein als etwas von Außen Angeflogenes ansehen, was durch einen ärztlichen Bonzen und Sündenabnehmer hinweggezaubert werden soll: – so lange hat die Homöopathie gerade so viel Recht, wie jede andere Kunst, die Leute an der Nase herumzuführen. Nun, und solcher Künste gibt es heut zu Tage noch viele andere. Wer ihnen nicht verfallen will, der muß sich selbst zusammennehmen und auf eigenen Füßen stehen lernen!

Nun lebe wohl, geliebter Leser. Ich schreibe nicht gern anonym, aber heute muß ich es. Denn wenn meine Damen erführen, daß Ich es bin, der so aus der Schule geschwatzt hat: da möchte mir’s übel ergehen!

Dr. –r.





  1. Hierher jene mehrfachen berühmten Fälle von Betrügerinnen, welche sich Hunderte von Nähnadeln unter die Haut einbrachten.