Die elektrischen Kräfte/Zusammenstellung:§8

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Die elektrischen Kräfte
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Zweiter Abschnitt.


Ueber die gegenseitige ponderomotorische Einwirkung zwischen zwei linearen Leitern, welche durchflossen sind von elektrischen Strömen.


Das von Ampère für diese Einwirkung aufgestellte Elementargesetz und die auf dieses Gesetz basirte Theorie werden, in etwas erweiterter Gestalt, von Neuem dargelegt.




§. 8. Darstellung der von Ampère gegebenen Theorie in etwas erweiterter Gestalt.

     Ampère stellte sich die Aufgabe, die ponderomotorische Einwirkung zweier elektrischer Stromelemente auf einander zu ermitteln, und ging dabei aus von gewissen Prämissen, die theilweise allerdings eine Stütze finden in den Ergebnissen seiner experimentellen Untersuchungen, strenge genommen aber als mehr oder minder hypothetisch zu bezeichnen sind. Diese Ampère’schen Prämissen oder Hypothesen mögen alle, mit Ausnahme einer einzigen [1], adoptirt werden. Es mögen nämlich unsere Betrachtungen ihren Ausgang nehmen von folgenden Annahmen:

     (1.) Erste Hypothese. Die ponderomotorische Kraft, mit welcher zwei Stromelemente und auf einander einwirken, fällt ihrer Richtung nach zusammen mit der Ver| bindungslinie der beiden Elemente. Sie ist proportional mit den Längen und der beiden Elemente, und abgesehen von diesen Factoren nur noch abhängig von der relativen Lage der beiden Elemente und von ihren Stromstärken.

     (2.) Zweite Hypothese. Sie ist mit jenen Stromstärken und proportional, und schlägt also in ihr Gegentheil um, sobald in einem der Elemente die Stromrichtung umgekehrt wird. Sie ist für zwei zu ihrer Verbindungslinie senkrechte und zu einander parallele Stromelemente attractiv im Falle gleicher, repulsiv im Falle entgegengesetzter Stromrichtung.

     (3.) Dritte Hypothese. Ein Stromelement kann, was seine ponderomotorische Wirkung auf ein anderes Stromelement betrifft, ersetzt werden durch seine rechtwinkligen Componenten

     (4.) Vierte Hypothese. Die Wirkung eines geschlossenen Stromes auf ein einzelnes Stromelement steht gegen letzteres senkrecht.

     Es seien und zwei Stromelemente; stehe senkrecht gegen die gegebene Ebene und habe seinen Mittelpunkt in derselben; andererseits besitze eine beliebige Lage. Zwei zu und in Bezug auf symmetrisch gelegene Stromelemente seien bezeichnet mit
und so dass also z. B. abgesehen von der entgegengesetzten Richtung, identisch ist mit selber. Alsdann wird offenbar die Kraft zwischen den Elementen gleich gross sein mit derjenigen Kraft welche stattfindet zwischen was angedeutet sein mag durch die Formel:



Nimmt man statt ein in der Ebene gelegenes Element so fällt gleichzeitig auch zusammen mit und man erhält also:



Nun ist aber nach der Hypothese (2.):



| Aus diesen beiden Formeln (6.), (7.) folgt sofort:



D. h. die Wirkung zwischen zwei Stromelementen ist immer Null, wenn das Eine in einer Ebene sich befindet, die durch das andere senkrecht hindurchgeht [2]. Oder anders ausgedrückt:

… Bezeichnet die Verbindungslinie zweier Stromelemente, so wird die Einwirkung der beiden Elemente auf einander immer Null sein, sobald das eine senkrecht steht gegen die durch das andere und durch sich bestimmende Ebene.

     Vermöge dieses Satzes (9.) und der Hypothesen (1.), (2.), (3.), (4.) wird es nun möglich sein, die von zwei beliebig gegebenen Stromelementen auf einander ausgeübte Wirkung näher zu bestimmen.

     Zunächst ist diese Wirkung nach (1.) proportional mit den Längen und mit den Stromstärken der beiden Elemente; also



wo abhängt von der relativen Lage der beiden Elemente, d. i. von
ihrer Verbindungslinie von den Winkeln unter welchen sie gegen und von dem Winkel unter welchem sie gegeneinander geneigt sind. Somit ist zu schreiben:



     Bilden die Elemente mit ihrer Verbindungslinie zusammen ein und dieselbe gerade Linie, oder sind sie andererseits senkrecht gegen und parallel zu einander, so werden an der Stelle der unbekannten Function



folgende speciellere Fälle derselben zur Geltung kommen:|


Diese speciellen Functionen sind nur noch abhängig von und demgemäss bezeichnet mit und [3]


     Die allgemeine Function lässt sich reduciren auf die speciellen Functionen — Um solches darzuthun, führen wir ein rechtwinkliges Axensystem ein, dessen Axe mit der Linie zusammenfällt, während die und Axe beliebige Lagen haben, und bezeichnen die diesen Axen entsprechenden rechtwinkligen Componenten von und mit und Alsdann ist nach der Hypothese (3.)



und durch nochmalige Anwendung desselben Satzes:



Von den neun Kräften rechter Hand sind aber, wie aus (9.) folgt, alle Null mit Ausnahme der in der Diagonale stehenden; so dass man erhält:



Endlich lassen sich die drei Kräfte, welche jetzt noch auf der rechten Seite stehen, leicht ausdrücken vermittelst der speciellen Funtion Man erhält nämlich aus (11.) und mit Rücksicht auf (12.):



Somit folgt



oder:



wo und die Richtungscosinus von und be­zeichnen. Zufolge der Bedeutungen von ist nun offenbar:



| Somit folgt:



Der hier in stehende Ausdruck repräsentirt, wie aus (11.) zu ersehen, die zu ermittelnde allgemeine Function Die Reduction derselben auf die speciellen Functionen ist also vollendet.




     Die beiden Functionen und lassen sieh reduciren auf eine einzige, ebenfalls nur von abhängende Function. — Um solches zu zeigen, schreiben wir zunächst die Formel (18.) in folgender Weise:



wo um die Vorstellung mehr zu fixiren, diejenige repulsive Kraft vorstellen soll, welche von ausgeübt wird auf so dass also der Werth von positiv oder negativ sein wird, je nachdem diese Kraft die Entfernung zu vergrössern oder zu verkleinern strebt.


     Sind nun, mit Bezug auf ein beliebig gewähltes rechtwinkliges Axensystem und die Coordinaten von und so ergiebt sich:



wo und Differentiationen nach den Richtungen der beiden Elemente und vorstellen sollen. Aus diesen Formeln ergiebt aber sieh sofort:



| Somit folgt aus (19.):



Hiefür kann geschrieben werden:



wo neue Functionen von sind, welche mit zusammenhängen durch die Relationen:



Zur Abkürzung sollen nämlich die Differentialquotienten nach durch Accente angedeutet werden.

Um nun oder (was dasselbe ist) auf eine einzige Function zu reduciren, bringen wir die Formel (21.) in Anwendung auf diejenige Wirkung, welche ein geschlossener Strom auf ein einzelnes Stromelement ausübt.

Der geschlossene Strom habe die Stärke und sei, was seine Gestalt betrifft, repräsentirt durch die Peripherie eines Kreissegmentes, welches kleiner ist als der Halbkreis (Fig. 6). Mit diesem Strome in derselben Ebene liege das zu betrachtende Element Dasselbe besitze die Stromstärke befinde sich in irgend einem Puncte der mit den beiden Ecken jenes Kreissegmentes in gerader Linie ist, und bilde mit dieser geraden Linie einen rechten Winkel.

Fig. 6
Fig. 6

     Die von einem Elemente des Stromes auf ausgeübte Kraft hat nach (21.) den Werth



Sind nun und die Componenten der von auf ausgeübten Gesammtwirkung, parallel und senkrecht zu so ist:


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die Summation (oder Integration) hinerstreckt über alle Elemente von Hieraus ergiebt sich, wenn man für die Ableitung andererseits für den Werth (23.) substituirt:



oder was dasselbe ist:



wo für den Augenblick die beiden Ausdrücke und mit und bezeichnet sein sollen.

     Nun ist allgemein für beliebige Functionen



also wenn für die eben genannten Werthe substituirt werden:



Hieraus folgt weiter:



Denn es ist ja (vergl. pag. 39): Ausserdem ist zur Abkürzung der Ausdruck mit benannt worden.


     Somit folgt aus (26.):



Nun bemerkt man (Fig. 6 auf pag. 40), dass der hier unter der Summe befindliche Ausdruck für all’ diejenigen Elemente verschwindet, welche der geradlinigen Strecke angehören;| denn für all’ diese Elemente ist ein rechter Winkel. Es kann daher die Formel (27.) auch so geschrieben werden:



wo die Summation nur noch über den Kreisbogen hinerstreckt zu denken ist.

     Die vom Strome auf das Element ausgeübte Gesammtwirkung steht, zufolge der Hypothese (4.), senkrecht gegen Die Componente muss also Null sein. Somit ergiebt sich aus (28.) die Relation:



Das Product ist für sämmtliche Elemente des Bogens von positivem Werth und verschieden von Null [4] (vergl. Fig. 6 auf pag. 40). Mit Rücksicht hierauf aber folgt aus der Formel (29.), dass die Function identisch mit Null ist. Es mag solches näher dargelegt werden:

     Die durch definirte Grösse ist, ebenso wie selber, eine vorläufig unbekannte Function von Wie nun diese Function auch beschaffen sein mag, immer wird sich das von bis reichende (lineare) Werthgebiet des Argumentes in einzelne Intervalle zerlegen lassen von solcher Beschaffenheit, dass in jedem einzelnen Intervalle entweder überall positiv, oder überall negativ ist. Irgend eines unter diesen Intervallen werde bezeichnet mit und mit Bezug auf dieses werde die Gestalt des Stromes und der Ort des Elementes so eingerichtet, dass ist. Die Summe (29.) besteht alsdann aus Gliedern: welche (ebenso wie die dem Intervall entsprechenden Werthe von ) entweder sämmtlich positiv oder sämmtlich negativ sind. Aus dem durch die Formel (29.) constatirten Verschwinden der Summe folgt also, dass der Ausdruck längs des Bogens überall verschwindet; dieses Verschwinden aber kann, weil einen durchweg von Null verschiedenen Werth besitzt, nur im Factor seinen Grund haben. Somit ist dargethan, dass die Function längs des Kreisbogens überall verschwindet, oder (anders ausgedrückt), dass sie verschwindet für alle dem betrachteten Intervall angehörenden Argumente — Analoges wird nun offenbar sich beweisen lassen für jedes andere der genannten Intervalle. — Folglich ist die Function identisch mit Null, w. z. b. w.

|      Substituirt man für seine eigentliche Bedeutung (29.), so verwandelt sich die eben erhaltene Gleichung in



Hieraus aber folgt successive:



wo Constanten sind.

     Das Vorzeichen der Constanten lässt sich leicht bestimmen. Wir betrachten zu diesem Zwecke irgend zwei Stromelemente welche gegen ihre Verbindungslinie senkrecht, und beide von gleicher Richtung sind. Die zwischen diesen Elementen vorhandene repulsive Kraft hat nach (19.) den Werth:



weil und ist. Die Formel (33.) aber kann mit Rücksicht auf (22.) auch so geschrieben werden:



also mit Rücksicht auf (31.) auch so:



Zufolge der Hypothese (2.) muss aber die repulsive Kraft einen negativen Werth haben, weil in Wirklichkeit Anziehung stattfindet. Somit folgt aus (35.), dass die Constante positiv ist. Sie mag demgemäss mit oder besser mit benannt werden; so dass also z. B. die Gleichung (31.) das Aussehen gewinnt:



Schreiben wir nun die Formeln (10.), (19,), (21.), (22.) von Neuem hin, indem wir überall an Stelle von den gefundenen Werth (36.) substituiren, so erhalten wir:


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Bezeichnen wir also die Differenz schlechtweg mit so gelangen wir schliesslich zu folgendem Resultat:

     Die (repulsiv gerechnete) ponderomotorische Kraft elektrodynamischen Ursprungs mit welcher zwei Strom­elemente und auf einander einwirken, besitzt den Werth:



wo die Function nach Belieben dargestellt werden kann durch:



oder auch durch:



Dabei ist zur Abkürzung gesetzt, wo diejenigen Winkel bezeichnen, unter welchen geneigt sind gegen die Linie letztere gerechnet von nach hin, während den Neigungs­winkel von gegen repräsentirt. Endlich ist unter eine allein von abhängende Function zu verstehen.

     Im Folgenden mögen diese Formeln (38.a, b, c) kurzweg bezeichnet werden als das von Ampère aufgestellte Elementargesetz, in etwas erweiterter Gestalt. In der That lässt sich leicht zeigen, dass diese Formeln in das genannte Gesetz übergehen, sobald man macht.

|      Für wird nämlich



Hierdurch aber nehmen die Formeln (38.a, b, c) folgende Gestalt an:



     Vergleicht man diese Formeln (39.a, b, c) mit dem von Ampère [5] für die in Rede stehende ponderomotorische Kraft gegebenen Ausdruck:



so zeigt sich, abgesehen vom entgegengesetzten Vorzeichen, in der That vollständige Uebereinstimmung, sobald unsere Constante gesetzt wird. Das entgegengesetzte Vorzeichen erklärt sich daraus, dass Ampére [6]die attractiven Kräfte als positiv rechnet, während wir umgekehrt die repulsiven Kräfte als positiv aufgefasst haben, und an dieser Auffassung auch weiterhin festhalten wollen.

     Vergleicht man andererseits die Formeln (39.a, b, c) mit der von meinem Vater gebrauchten Formel [7]:



so zeigt sich ebenfalls, sobald genommen wird, völlige Ueber­einstimmung.

     Die Constante in den vorliegenden Untersuchungen zu setzen, erschien mir nicht rathsam. Ich habe es vorgezogen, sie un| bestimmt zu lassen (abhängig von den noch festzusetzenden Maass­einheiten), übrigens aber dieselbe in genau demselben Sinne eingeführt, wie es von Helmholtz [8] geschehen ist.

     Diese Bemerkungen mögen dienen als eine Erleichterung für die Vergleichung der hier anzustellenden Untersuchungen mit denen der genannten Autoren.

Ebenso wie das Newton’sche Gesetz mit einer Function der Entfernung behaftet ist, welche nur für beträchtliche identisch mit für sehr kleine aber von noch unbekannter Beschaffenheit ist [9], ebenso erscheint es sehr möglich, dass Analoges auch anzu­nehmen ist beim Ampère’schen Gesetz.

     Der grösseren Sicherheit willen mag daher im Folgenden den Formeln (39.a, b, c) nur dann Gültigkeit zuerkannt werden, wenn die Entfernung von beträchtlichem Werthe ist, im Allgemeinen aber festgehalten werden an den Formeln (38.a, b, c). Mit andern Worten: Der grösseren Sicherheit willen mag im Folgenden unter



eine Function verstanden werden, welche allerdings für beträchtliche identisch mit für sehr kleine hingegen von noch unbekannter Beschaffenheit ist.


  1.      Diejenige der Ampère’schen Hypothesen, welche hier noch fehlt, kann am Einfachsten so ausgesprochen werden:
         Hypothese. Die ponderomotorische Wirkung zweier elektrischen Stromelemente aufeinander ist, falls man die Winkel, welche die Elemente mit ihrer Verbindungslinie und mit einander einschliessen, constant erhält, umgekehrt proportional mit dem Quadrate ihrer Entfernung.
         Es erscheint sehr möglich, dass diese Hypothese — ähnlich dem Newtonschen Gesetz — nur annehmbar ist für beträchtliche Entfernungen, nicht aber in solchen Fällen, wo die Entfernungen äusserst klein sind. Hierin liegt der Grund dafür, dass wir diese Hypothese vorläufig ausgeschlossen haben.
  2. Es ist nämlich (mit Bezug auf Figur 4) wohl zu beachten, dass das Element eine beliebige Lage im Raume, und folglich das Element eine beliebige Lage in der Ebene besitzt. Denkt man sich also in der Ebene die Verbindungslinie der beiden Elemente und construirt, so wird die Richtung von keineswegs zusammenfallen mit sondern im Allgemeinen gegen unter irgend welchem Winkel geneigt sein.
  3. WS: Errata eingearbeitet: Seite 38, Zeile 4 v. o. setze man statt
  4. Allerdings ist jenes Product gleich Null im Puncte und im Puncte Doch wird hierdurch das Resultat der anzustellenden Erörterungen nicht afficirt werden.
  5. Ampère: Théorie des phénomènes élektrodynamiques uniquement déduite de l’expérience. Paris. 1826. pag. 60.
  6. l. c. pag. 28.
  7. F. Neumann: Die mathematischen Gesetze der inducirten elektrischen Ströme, vorgelesen in der Berliner Akad. der Wissensch. am 27. Octcober 1845, pag. 24; und ferner: Ueber ein allgemeines Princip der mathematischen Theorie inducirter elektrischer Ströme, vorgelesen in der Berliner Akad. der Wissensch. am 9. August 1847, pag. 6.
  8. Helmholtz: Ueber die Bewegungsgleichungen der Elektricität für ruhende leitende Körper (Borchardt’s Journal, Bd. 72. pag 72).
  9. Es mag dabei (was auch schon auf pag. 23 und 25 am Platze gewesen wäre) erinnert werden an folgende Worte von Gauss: „Attractio vulgaris quadrato distantiae reciproce proportionalis, quae omnes motus coelestes tam felici successu explicat, nullius usus est nec in phaenomenis capillaribus, nec in phaenomenis adhaesionis et cohaesionis explicandis – – – Recte – – concluditur, illam attractionis legem in distantiis minimis naturae haud amplius consentaneam esse, sed modificationem quandam postulare – –“ (Gauss’ Werke. Bd. 5. pag. 31.)