Die elektrischen Kräfte/Zusammenstellung:§22

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§. 22. Allgemeine Erörterungen über das Princip der lebendigen Kraft.


Bei diesen Erörterungen mögen der Reihe nach verschiedene Fälle| in Betracht gezogen werden, je nach Beschaffenheit des gegebenen materiellen Systems und je nach Beschaffenheit der vorhandenen äusseren Umstände.
Erster Fall.

     „Das System besteht aus unveränderlichen ponderablen Massenpuncten, und die vorhandenen inneren Kräfte sind durchweg ordinären Ursprungs, analytisch also ausgedrückt[1] durch irgend welche Functionen der Entfernungen. “      „Gleichzeitig stehen uns irgend welche ordinären Kräfte zur Verfügung, vermittelst deren wir von Aussen her in beliebiger Weise auf das System einwirken können.“

     In diesem Falle sind nur ponderomotorische Kräfte vorhanden; und wir gelangen daher, auf Grund der bekannten Fundamentalgleichungen



und durch bekannte Deductionen, zu dem Theorem:


Hier bezeichnet die lebendige Kraft des Systemes, eine von der augenblicklichen Beschaffenheit des Systemes abhängende Function[2], und diejenigen Zuwüchse, welche erfahren während der Zeit andererseits repräsentirt diejenige Arbeit, welche während dieser Zeit auf das System ausgeübt worden ist speciell von den äusseren Kräften.

     Die von ponderomotorischen Kräften ausgeübte Arbeit ist (vergl. pag. 12) nichts Anderes, als das von denselben hervorgebrachte Quantum lebendiger Kraft. Bezeichnet man also die inneren Kräfte des Systemes mit und die von Aussen her einwirkenden mit so wird, was die in enthaltenen Quantitäten und betrifft, nicht nur die Zerlegung zu bemerken sein:



sondern gleichzeitig auch zu bemerken sein, dass


| ist. Dabei sind selbstverständlich unter und diejenigen Quanta lebendiger Kraft zu verstehen, welche im gegebenen Systeme während der Zeit hervorgerufen werden speciell durch die äussern, und speciell durch die innern Kräfte. Die Forniel kann daher auch so geschrieben werden:



oder auch so:



     In dem hier betrachteten ersten Falle haben wir ein materielles System vor uns, welches — mag es in der Natur existiren oder nicht — seiner Beschaffenheit nach bestimmten mathematischen Definitionen unterworfen ist, und die gefundene, durch oder oder dargestellte Formel spiegelt nur wieder, was durch diese Definitionen von uns selber in das System hineingelegt war; denn sie entspringt aus diesen Definitionen durch streng mathematische Deductionen. Mit vollem Recht wird sie also zu bezeichnen sein als ein auf Grund dieser Definitionen sich ergebendes Theorem. — Dem gegenüber werden diejenigen Formeln, welche in den folgenden Fällen, von gewissen allgemeinen Gesichtspuncten aus, sich ergeben, als Axiome zu benennen sein.

Zweiter Fall.

     „Das zu betrachtende materielle System ist von unbekannter Beschaffenheit, nur sei vorausgesetzt[3], dass sämmtliche in ihm vorhandenen inneren Kräfte theils ordinären, theils elektrostatischen, theils elektrodynamischen Ursprungs sind.“

     „Es stehen uns zur Verfügung äussere Kräfte, die ebenfalls ordinären, elektrostatischen und elektrodynamischen Ursprungs sind, ferner äussere Wärmequellen, d. i. irgend welche Körper von beliebigen Temperaturen. Wir können also diese äusseren Kräfte und Wärmequellen in willkührlicher Weise auf das gegebene System einwirken lassen, sodass wir durch die erstern irgend welche Quanta von lebendiger Kraft und Wärme im Innern des Systems hervorzubringen, andererseits durch Application der letztern irgend welche (positiven oder negativen) Wärmequanta in das System hineinzuleiten im Stande sind.“|      Um für lebendige Kraft und Wärme eine Collectivbenennung zu gewinnen, mag (nach dem Vorgange namhafter Physiker) erstere als kinetische, letztere als thermische Energie bezeichnet sein. Jene Quanta von lebendiger Kraft und Wärme, welche wir vermittelst der äusseren Kräfte im Systeme hervorrufen, und jene Wärmequanta, welche wir vermittelst der äusseren Wärmequellen in das System hineinleiten, können alsdann zusammengenommen bezeichnet werden als die dem System von Aussen her zugeführten Quanta von Energie.

     Eine nähere Untersuchung über die Zustandsänderungen des gegebenen Systems anstellen zu wollen auf Grund der speciellen Beschaffenheit des Systems, ist unmöglich; denn diese specielle Beschaffenheit ist uns unbekannt. Ausführbar hingegen erscheint eine solche Untersuchung auf Grund gewisser universeller Ideen, welche durch die Arbeiten von S. Carnot, J. R. Mayer, Colding, Joule, Helmholtz, Clausius allmählig sich Bahn gebrochen, und (in Folge vielfältiger experimenteller Bestätigungen) allmählig einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit erlangt haben. Diese universellen Ideen, näher determinirt mit Bezug auf den vorliegenden Fall, dürften ihren Ausdruck finden in folgenden beiden Sätzen:

     (a.) Erster Grundsatz. Dasjenige Quantum von kinetischer und thermischer Energie, welches dem gegebenen System von Aussen her zuzuführen ist, damit dasselbe, von einem gegebenen Anfangszustande aus, eine gegebene Reihe von Zuständen durchlaufe, ist lediglich abhängig von der Beschaffenheit dieser Zustände.

(b.) Zweiter Grundsatz. Dasjenige Quantum von kinetischer und thermischer Energie, welches dem System von Aussen her zuzuführen ist, damit dasselbe, von einem gegebenen Anfangszustande aus, irgend welche Reihe von Zuständen durchlaufe, schliesslich aber in jenen anfänglichen Zustand wieder zurückkehre, ist immer gleich Null.

     Die charakteristischen Constanten und die charakteristischen Variablen[4] des gegebenen Systems mögen benannt sein, die einen mit die andern mit Gegeben seien irgend zwei unendlich wenig von einander verschiedene Zustände und mit einander verbunden durch die Zwischenzustände| , wo eine von 0 bis 1 wachsende Zahl vorstellt.

     Wir wollen annehmen, durch geeignete Verwendung und Regulirung der uns zur Disposition stehenden äusseren Kräfte und Wärmequellen sei es möglich, das gegebene System zunächst in den Zustand zu versetzen, und sodann dasselbe aus diesem Zustande längs des Weges übergehen zu lassen in den Zustand ; zugleich sei dasjenige Quantum von theils kinetischer theils thermischer Energie, welche dem Systeme, während eines solchen Ueberganges von in , von Aussen her zuzuführen ist. Dieses Quantum muss alsdann, nach dem Grundsatze (a.), in folgender Weise darstellbar sein:

(c.)

wo einen Ausdruck bezeichnet, welcher lediglich zusammengesetzt sein darf aus den beigefügten Argumenten. Hieraus folgt durch Entwicklung nach dem Taylor’schen Satz:

(d.)

wo die . . nur noch abhängig sind von den ,.. und den ,...

     Der Formel (d.) zufolge repräsentirt der Term

(e.)

denjenigen Werth, welchen annehmen würde für , also dasjenige Quantum von Energie, welches dem System von Aussen her zuzuführen ist, um dasselbe aus dem Zustande übergehen zu lassen in eben denselben Zustand . Ist mithin t der Zeitaugenblick dieses Zustandes , so kann jener Term (e.) bezeichnet werden als dasjenige Quantum Energie, welches dem Systeme zugeführt wird vom Augenblick bis zum Augenblick . Hieraus folgt, dass jener Term (e.) gleich Null ist, dass mithin die Formel (d.) die einfachere Gestalt annimmt

(f.)

     Lässt man daher das System, unter Anwendung der äusseren Kräfte und Wärmequellen, während eines Zeitintervalles irgend welche Zustände .... durchlaufen, so wird das dem Systeme während dieses Zeitintervalls von Aussen her zugeführte Quantum Energie , auf Grund der Formel (f.), den Werth haben:

(g.)

die Integration hinerstreckt über die durchlaufenen Zustände.

|      Nach dem Grundsatze (b.) muss nun das Quantum immer Null sein, sobald der erste von jenen Zuständen identisch ist mit dem letzten, also identisch mit . Das in (g.) stehende Integral

muss daher jederzeit verschwinden, sobald es hinerstreckt ist über eine in sich zurücklaufende Reihe von Zuständen. Hieraus folgt – wenigstens mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit[5] –, dass das unter dem Integralzeichen stehende Aggregat

ein vollständiges Differential ist. Hieraus aber ergiebt sich, weil (wie schon bemerkt) die A, B,.. nur von den ,.. und ,.. abhängen, dass dieses Aggregat die Form besitzen muss:

(h.)

wo einen Ausdruck vorstellt, welcher lediglich zusammengesetzt sein darf aus den beigefügten Argumenten. Aus (f.) und (h.) ergiebt sich:

(i.)

in Worten ausgedrückt:

     Das dem gegebenen System während der Zeit dt von Aussen her zugeführte Quantum von kinetischer und thermischer Energie wird immer das vollständige Differential irgend einer Function sein, welche lediglich abhängt von der augenblicklichen Beschaffenheit des Systemes, deren analytischer Ausdruck also lediglich zusammengesetzt ist aus den charakteristischen Variablen und Constanten des Systemes.

     Die Formel (i.) kann auch so geschrieben werden:

(k.)

wo die lebendige Kraft des Systemes vorstellen soll. Zur Abkürzung werde gesetzt:

(l.) ;

alsdann wird (ebenso wie und ) eine Function sein, die lediglich abhängt von der augenblicklichen Beschaffenheit des Systemes. Ferner mag das in (k.) enthaltene in folgende Theile zerlegt werden:

(m.) ;
| hier sollen und diejenigen Quanta von lebendiger Kraft und Wärme bezeichnen, welche im System hervorgerufen werden durch die äusseren Kräfte; andererseits soll das aus den äusseren Wärmequellen in das System übergehende Wärmequantum vorstellen, so dass also diejenige Wärmemenge repräsentirt, welche umgekehrt vom System an jene Quellen abgegeben wird. — Durch Substitution von (l.) und (m.) erlangt die Formel (k.) folgendes Aussehen:
(n.)


Dritter Fall.

     „Die Verhältnisse mögen dieselben sein, wie im vorhergehenden Fall, nur soll die Beschaffenheit und Application der äusseren Wärmequellen der Art gedacht werden, dass das System fortdauernd in constanter Temperatur erhalten bleibt."

     Das gegebene System ist also etwa eingebettet zu denken in eine unendlich grosse Wärmequelle von unveränderlicher Temperatur, so dass jede durch die innern und äussern Kräfte im System hervorgebrachte Wärmequantität augenblicklich in die umgebende Quelle abfliesst. Alsdann wird die durch bezeichnete, d. h. die während der Zeit vom System an jene Quelle abgegebene Wärmemenge identisch sein mit derjenigen, welche während dieser Zeit durch die innern und äussern Kräfte im Systeme hervorgebracht wird. Die in der Gleichung (n.), d. i. in der Gleichung:

(o.)

enthaltenen einzelnen Glieder lassen sich also im vorliegenden Fall folgendermassen charakterisiren:

und die während der Zeit im Systeme durch die innern und äussern Kräfte hervorgebrachten Quantitäten von lebendiger Kraft und Wärme;
und diejenigen Theile der Quantitäten und , welche speciell herrühren von den äussern Kräften;
eine im Allgemeinen unbekannte Function, welche lediglich abhängt von der augenblicklichen Beschaffenheit des Systemes;
das der Zeit entsprechende Differential von .

     Nun kann offenbar gesetzt werden:

wo alsdann unter und diejenigen Theile von und zu verstehen sind, welche speciell herrühren von den innern Kräften des Systemes. Hiedurch geht die Formel (o.) über in:|
(q.)

oder, kürzer geschrieben, in:

(r.) ;

sodass wir also folgenden Satz erhalten:

     Sind die in einem materiellen System vorhandenen innern, ebenso wie die auf dasselbe einwirkenden äussern Kräfte, theils ordinären, theils elektrostatischen, theils elektrodynamischen Ursprungs, und denkt man sich das System (durch geeignete Wärmeableitungen) in constanter Temperatur erhalten, so wird dasjenige Quantum lebendiger Kraft und Wärme, welches im Systeme während der Zeit , speciell in Folge der innern Kräfte, sich entwickelt, immer das vollständige Differential irgend einer Function sein, welche lediglich abhängt von der augenblicklichen Beschaffenheit des Systemes.

     Da die innern Kräfte theils ord., theils elst., theils eldy. Ursprungs sind, so zerfällt das Quantum in drei entsprechende Theile; so dass die Formel (r.) die Gestalt annimmt:

(s.)

Aus früheren Untersuchungen ergeben sich aber die Relationen[6]:

(t.)

wo das ordinäre, und das elektrostatische Potential des gegebenen Systemes auf sich selber bezeichnet. Aus (s.) und (t.) folgt sofort:

(u.) ;

in Worten ausgedrückt:

     Sind die in einem materiellen System vorhandenen innern, ebenso wie die auf dasselbe einwirkenden äussern Kräfte, theils ordinären, theils elektrostatischen, theils elektrodynamischen Ursprungs, und denkt man sich das System (durch geeignete Wärmeableitungen) in constanter Temperatur erhalten, so wird dasjenige Quantum lebendiger Kraft und Wärme, welches im Systeme während der Zeit , speciell in Folge der innern elektrodynamischen Kräfte, sich entwickelt, immer das vollständige Differential irgend einer Function sein, welche lediglich abhängt von der augenblicklichen Beschaffenheit des Systemes.

     Hiedurch ist die im vorhergehenden §. [in (A.) pag. 133] aufgestellte Behauptung gerechtfertigt.


  1. Die Kräfte ordinären Ursprungs sind diejenigen, welche den ponderablen Massen inhärent sind; diese Kräfte aber sollen, wie auf pag. 10 ausdrücklich angenommen wurde, nur von den Entfernungen abhängen.
  2. Beispielsweise wird diese Function falls die innern Kräfte des Systems dem Newton'schen Anziehungsgesetz entsprechen, dargestellt sein durch:


    wo unter irgend zwei Massenpuncte des Systems zu verstehen sind, unter ihre gegenseitige Entfernung, endlich unter eine Constante.

  3. Hinsichtlich dieser Voraussetzung ist im Auge zu behalten, dass über die Kräfte ordinären, elektrostatischen und elektrodynamischen Ursprungs ein für alle Mal (pag. 10—18) gewisse Determinationen, z. B. gewisse (ponderomotorische und elektromotorische) Fundamentalgleichungen aufgestellt worden sind.
         An diesen Determinationen soll, wo von Kräften ordinären, elektrostatischen und elektrodynamischen Ursprungs die Rede ist, durchweg festgehalten werden.
  4. Es sollen diese Namen hier in dem Sinne verstanden werden, wie früher (pag. 124).
  5. Wirkliche Sicherheit würde dieser Schluss (vergl. pag. 96) nur dann besitzen, wenn wir vermittelst der äusseren Kräfte und Wärmequellen jedes beliebige Werthsystem der ,.. hervorzurufen im Stande wären. Hierüber aber kann im Allgemeinen nichts Bestimmtes gesagt werden.
  6. In der That sind die Formeln (t.), abgesehen von einer etwas andern Bezeichnungsweise, identisch mit den Formeln (31.) pag. 24 und (61.) pag. 32.