Die deutschen Juden in London

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Titel: Die deutschen Juden in London
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[312]
Die deutschen Juden in London.
Der Berliner – Der Frankfurter – Der „eigentliche“ Jude.

Unter der ausländischen Bevölkerung Londons, zu der wohl alle Nationen der Welt ihre Contingente geliefert haben und die in runder Zahl auf 150,000 veranschlagt wird, dürfte es kaum eine interessantere, charakteristischer in sich abgeschlossene Individualität geben, als die des deutschen Juden. Die Classe ist sehr zahlreich, da alle nicht portugiesischen Juden, namentlich die holländischen und polnischen, dazu gerechnet werden und sich selbst dazu rechnen. Gleichwohl ordnen sich alle diese verschiedenartigen Elemente einem weiten, leicht zu definirenden und in seinen charakteristischen Zügen unverkennbaren Gattungsbegriff unter, der sich eine Lorgnette in das Auge klemmen und im modischen Frack auf der Straße herumlaufen oder in Kaftan und Synagogenbart hinter der Trödelbude stehen mag, aber in allen Lagen, in allen Trachten und in allen Sprachen seine bezeichnenden Eigenschaften bewahrt. Der Begriff ist weit und deckt daher die mannigfaltigsten Abstufungen von Respectabilität, Laster und Verbrechen, aber im Ganzen muß man gestehen, daß der deutsche Jude in London nicht zu der am wenigsten beachteten Classe der Fremdenbevölkerung gehört. Der ihm [313] innewohnende Trieb der Thätigkeit hebt ihn über manchen Abgrund hinweg, in welchem andere Ausländer versinken. Es mag ihm oft und lange schlecht gehen, er mag die plötzlichsten und härtesten Schicksalsschläge zu erdulden haben, heute in Reichthum schwelgen und morgen in Armuth darben: er wird nie ganz niedergeworfen, die halsbrechendsten Sprünge von Ueberfluß zu Mangel executirt er mit der größten Leichtigkeit, die Noth und er sind alte Bekannte, die sich vor einander nicht fürchten, er versteht gute Miene zum bösen Spiele zu machen und nimmt mit derselben Rührigkeit die Bandschachtel unter den Arm, mit der er noch vor Kurzem die Börsencourse studirte und alle Zonen in den Bereich seiner Speculationen zu ziehen suchte. Er weiß, daß Gott einen ehrlichen Deutschen nicht verläßt, zumal wenn dieser Deutsche Jude ist und es mit der Ehrlichkeit ebenso genau nimmt, als manche Christenseele, die in der schwülen Atmosphäre des Londoner Geschäftslebens treibt, blüht und wuchert. Er kommt immer wieder oben auf, weil er nie den Glauben an seine Thätigkeit verliert. Der deutsche Jude in London arbeitet zwar selten, aber er ist nie müßig, er sucht und findet immer Beschäftigung, er handelt, schachert, photographirt, ist Künstler und Lohndiener, Gelehrter und Stiefelwichser, Krämer und Großhändler, Banquier und Kommissionär, Diebshäscher und Schwindler, aber etwas ist und muß er sein, an der absoluten Faulheit, der so viele andere Ausländer hier obliegen, geht er nicht zu Grunde. Selbst wenn er liederlich wird, wozu er große Anlage besitzt, so betreibt er die Liederlichkeit geschäftsmäßig und regt seine physischen und moralischen Kräfte auf, ohne sie zwecklos zu vergeuden.

Diese allgemeine Charakteristik könnten wir sehr leicht noch weiter ausdehnen; aber wir würden dadurch unserem Ziele, dem Leser ein lebenswahres Bild von der Gattung und Species des „deutschen Juden in London“ zu zeichnen, um kein Haar breit näher kommen. Im gewöhnlichen Leben pflegt man hier den deutschen Juden in drei Theile zu zerlegen: 1) den Berliner, 2) den Frankfurter und 3) den eigentlichen Juden, womit jedoch nicht gesagt sein soll, daß jene uneigentlich seien. Im Gegentheil, sie sind eigentlich genug, haben jedoch den Gattungscharakter zu einer bestimmten Specitalität ausgebildet, die oberflächlich mit „Berlinisch“ oder „Frankfurtisch“ bezeichnet werden kann. Ueberhaupt macht diese Eintheilung auf wissenschaftliche Gründlichkeit keine Ansprüche, aber für die praktische Orientirung genügt sie. Der „Berliner Jude“ kommt selten zu etwas in London; er ist zu sehr an das Berliner Zehnsilbergroschen-Börsenspiel gewöhnt, und das zieht hier nicht. Die Londoner Börse ist eine sehr ernsthafte Institution, die sich durch wuchtige Privilegien gegen die Zwickauerei verschließt und nur demjenigen ihre Thore öffnet, welcher Tausende von wohlerworbenen oder wenigstens wohlgezählten Pfunden einzusetzen vermag. Das Börsenspiel, wie es in Paris und in verkleinertem Maßstabe in Berlin betrieben wird, hat hier überhaupt keine Chancen und ist nur dann erfolgreich, wenn es großartigere Dimensionen annehmen kann. Dasselbe gilt vom Schwindel, Der kleine Schwindel, der meist von Ausländern betrieben wird, wirft gewöhnlich nicht viel ab und ist von kurzer Dauer. Um Erfolg zu haben, muß sich der Schwindler erst durch jahrelange ehrliche Geschäftsführung Respectabilität und Capital erworben haben. In England muß gearbeitet werden, selbst der professionirte Dieb hat Vorstudien, Plan, Capital und Energie nöthig, um sein Geschäft mit Erfolg zu betreiben.

Alles das geht über den Geschmack und die Fähigkeit derjenigen Juden, die man hier unter dem Namen „Berliner“ zusammenfaßt. Der Berliner Jude ist zu fanatischer Preuße und zu eingefleischter Berliner, um aus Abenteuerlust und Geschäftstrieb in die Welt zu gehen; daher ist seine Uebersiedelung nach London gewöhnlich unfreiwilliger Natur. Am liebsten pflegt er politischer Märtyrer zu sein. Reactionäre Gläubiger haben ihn vor den Bankerottgerichtshof gebracht, polizeiliche Werkzeuge einer despotischen Regierungsform haben seine Art der Wechselausstellung beanstandet, um die Volksfreiheit ihres wackersten Kämpen zu berauben u. f. w. Außerdem spricht er immer von Berlin, macht Erfindungen, später Gedichte, die er zu declamatorischen Abendunterhaltungen benutzt, geräth tiefer und tiefer in den Schmutz von Leicester-Square, bis endlich seine Schuhe darin stecken bleiben. Sein röthlicher Bart wird nicht mehr schwarz gefärbt, Demokratie, Gedichte, Erfindungen und Philosophie laufen bettelnd auf der Straße herum und suchen jeden Menschen in Contribution zu setzen, der ein ausländisches Gesicht trägt und wo möglich Berlinisch versteht. Der „Berliner Jude“ bildet eine Ausnahme von allen seinen Glaubensgenossen, er lernt nie seine eigene, geschweige denn eine fremde Sprache, ist durchaus unpraktisch, voll Selbstüberschätzung und passiver Selbstgefälligkeit, er speculirt, aber er arbeitet nicht und reibt sich mit seinen Berliner Mucken und Grillen so lange an den scharfen Ecken und Kanten des englischen Lebens wund, bis ihm nichts Anderes übrig bleibt, als religiös zu werden. Bekanntlich giebt es hier religiöse Gesellschaften, welche einen bestimmten Marktpreis für jede bekehrte Judenseele zahlen; ihnen fällt er gewöhnlich in die Hände, läßt sich zum Christen machen und unter die Judenmissionäre anwerben. Er trägt jetzt wieder ganze Schuhe, hält Vorträge über die Rechtfertigung durch den Glauben in den Vereinen „christlicher Arbeiter“, schreibt auch Tractate über seine „persönlichen Erfahrungen in Christo“, giebt seinem Haar einen gottseligen Scheitel in der Mitte, geht glatt rasirt und bekundet seine Wiedergeburt vor aller Welt, indem er nur noch Schinken und Bratwürste ißt. Aber lange dauert das auch nicht. Er wird des Christentums und die Engländer werden des Zahlens müde; und bald sieht man ihn wieder in Leicester-Square und in dem alten Aufzuge, ein trauriges Bild verkommener Großthuerei. Ihm ist nicht zu helfen, die passive Berliner Kritik, die von jeher seine Arme lähmte, fährt ihm schließlich in die Beine, er kann nicht mehr fort und sinkt an den Stufen eines Hospitals nieder, das ihn aufnimmt, sterben und von seinen medicinischen Prakticanten seciren läßt.

In diesem Schicksale, das unter der Klasse von Ausländern, die man hier der Kürze halber als „Berliner Juden“ bezeichnet, leider zu gemein ist, liegt nun freilich durchaus nichts Jüdisches. Wenn er mehr Jude und weniger Berliner wäre, so würde es ihm in London viel besser ergehen. Er würde dann arbeiten können und sich nicht bis zum Hospital durchzubetteln brauchen, er würde sich zu fügen und zu schicken wissen, er würde den rauhen Stößen des englischen Lebens geschickt auszuweichen verstehen, anstatt sich von ihnen zerschlagen zu lassen, er würde einen guten Puff vertragen können, wie seine anspruchsloseren Glaubensgenossen, die in den polnischen Landstädtchen oder im Verkehr mit süddeutscher Intelligenz dieses gelernt haben, er würde vor die Füße und in die Zukunft sehen, anstatt für die Berliner Oper zu schwärmen und in sentimentaler Erinnerung an die verschwundenen Genüsse des Kroll’schen Etablissements dahin zu leben, er würde keine Gedichte machen und keine Abhandlungen über hohe Politik schreiben, sondern beobachten und lernen, daß das Preußenthum, über das er nicht hinauszublicken vermag, in seiner jetzigen Gestalt außerordentlich klein ist und mit der hohen Politik ebenso wenig zu schaffen hat, wie Zwickauer mit den riesenhaften Proportionen des englischen Geldmarktes. Wollen wir nun noch eine Moral daraus ziehen, so ist es die, daß sich der auswandernde Berliner vor zwei ererbten Vorurtheilen zu hüten hat, die mehr als alles Andere dazu beitragen, um den „Berliner Juden“ in England erfolglos zu machen. Diese sind 1) die durchaus ungegründete, aber zur süßen Gewohnheitsphrase gewordene Ansicht, daß das Berlinerthum witzig sei und daher jeder Berliner das angeborene Talent und Privilegium des Witzes besitze. Das Berlinerthum ist nicht witzig. Der Eckensteherwitz wurde von Glaßbrenner erfunden, der kein Berliner ist, und die Gelehrten des Kladderadatsch sind unseres Wissens zum größten Theile nach Berlin übergesiedelte Schlesier. Die Witzelei, zu der sich jeder specifische Berliner gedrungen fühlt, ist einfach unausstehlich und bedarf einer starken Portion Unverschämtheit, um nur einige Würze zu haben, sie gewinnt nicht, sondern sie entfremdet und ist die schlechteste Empfehlung, mit der ein Mensch in ein neues Leben eintreten kann. Ebenso verkehrt ist 2) die Annahme, daß Niemand, der den Accusativ von dem Dativ zu unterscheiden und die Präpositionen richtig zu construiren vermöge, sich an Genialität und Geistestiefe mit demjenigen messen könne, der in glücklicher Unkenntniß über solche grammatische Pedanterien schwebt. Es heißt zwar, daß nur die Lumpe bescheiden seien; aber es ist auf der andern Seite ebenso wahr, daß ein großer Theil von Bescheidenheit dazu gehört, um den Menschen vor der Verlumpung zu bewahren. Der Berliner Jude besitzt diese Bescheidenheit nicht. Daher ist es eine durchaus nicht auffallende Thatsache, daß sich fast keine der vielen jüdischen Firmen der City, die es zu Wohlhabenheit und Ansehen gebracht haben, auf einen Berliner Ursprung zurückführen läßt, während die Vertreter der beiden andern Classen des „deutschen Juden in London“ ein sehr gewichtiges Wort in [314] der City von London, d. h. auf dem Weltmarkte, mitzusprechen haben.

Mit viel größerem Geschick und lohnenderem Erfolge pflegt sich der „Frankfurter Jude“, der seinen Namen für alle süddeutschen, österreichischen und ungarischen Glaubensgenossen hergeben muß, hier zu acclimatisiren. Er besitzt ein erstaunliches Sprachtalent, sowie er denn überhaupt weniger Individualität, als Gattungsbegriff ist und sich fremden Sitten und Vorurtheilen mit wunderbarer Leichtigkeit anbequemt. In Paris spricht er von allen Ausländern das beste Französisch und in London das beste Englisch, obgleich dieses dem süddeutschen Organ viel größere Schwierigkeiten entgegensetzt, als dem norddeutschen. Das charakteristische seiner Erscheinung liegt zwischen Banquier und Lotteriecollecteur. Hieraus entspringt eine gewisse Zweitheiligkeit des Bewußtseins, die jedoch der Einheit seines geschäftlichen Strebens keinen Abbruch thut. In beiden Eigenschaften verwendet er ängstliche Sorge auf seinen Anzug und besitzt eine consistente Vorliebe für dicke Uhrketten und Siegelringe, selbst wenn dieselben auch nur aus sorglich gebürstetem Messing bestehen sollten. Je nachdem das Lotteriecollectoren- oder Banquierbewußtsein bei ihm vorwaltet, ist er zuvorkommend höflich oder würdevoll herablassend, aber er ist nie zudringlich oder anmaßend, gleichviel, ob er von Dir einen Schilling zu verdienen beabsichtigt, oder ob er Dir eine Prise aus seiner mehr in den Händen als in der Tasche getragenen silbernen Tabaksdose offerirt. Er spricht immer von Geschäften, aber er bettelt nie. Im Gefühle seiner Lotteriecollectorennatur lebt er von „seines Nichts durchbohrendem Gefühle“ und erklärt sich mit bescheidener Resignation zu jedem Geschäfte bereit, das nur die entfernteste Beziehung mit Courstabellen, Preiscouranten und dem Bureaustyle hat. Wenn dagegen das Bewußtsein seines Banquierberufs in ihm vorwaltet, so pflegt er seine Unterhaltung mit hoher Politik zu würzen und die Chancen der verschiedenen großen und kleinen Mächte auf Procent zu berechnen; aber auch in dieser Rolle treibt er das Gefühl seiner Bedeutung nie bis zur Anmaßung, sondern begnügt sich damit, vor seinen Namen ein „von“ zu setzen und das etwas indiscrete „er“ am Schlusse verschwinden zu lassen, sodaß aus „Northeimer“ ein Herr von Northeim, aus „Erlanger“ ein Herr von Erlangen, aus „Buchheimer“ ein Herr von Buchheim wird.

Wenn der „Frankfurter Jude“ aus Wien oder Preßburg gebürtig ist, so wird diese Namensverzierung auch schon im Lotteriecollcetorenstadium vorgenommen. Seine Laufbahn in London beginnt er regelmäßig mit der Gründung eines Commissions- und Speditionsgeschäfts. Der verhängnißvolle Wendepunkt für ihn ist der Augenblick, wo der erste Brief ohne Lotterieloose und Ziehungstabellen in seinem verwaisten und unbezahlten „Office“ ankommt. Wenn sich derselbe auf irgend eine seiner vielseitigen Annoncen in der deutschen Presse bezieht und eine entfernte Hinweisung auf Spedition und Commission verräth, so wird Itzig u. Comp. eine großbritannische Wirklichkeit, rasirt sich den bisher noch rund getragenen Bart in der Mitte durch, stülpt sich die Vatermörder steif in die Luft und behauptet, kein Deutsch zu verstehen, wenn er auf der Straße von einem unbekannten Landsmann um den Weg gefragt wird. Läßt er sich in diesem entscheidenden Momente nicht vom Banquierbewußtsein übermannen und nicht verleiten, mit auf das Schicksal ausgestellten Wechseln das Reichwerden forciren zu wollen, als Smith u. Comp. ein zweites Bureau zu belegen und für die Solidität und Zahlungsfähigkeit dieses neuen Importgeschäftes die Reference des achtbaren und geachteten Hauses Itzig u. Comp. anzugeben, oder sich gar als Actiengesellschaft „zum Schutze continentaler Geschäftsleute“ zur Empfangnahme aller Art von Waaren, zu Vorschüssen auf selbige und zur Verabfolgung derselben an die Besteller, im Falle diese sich nach den schärfsten Erkundigungen als solid erweisen sollten, bereit zu erklären, – läßt er sich noch einige Zeit mit dem Lotteriecollectorenbewußtsein genügen, so braucht uns für ihn nicht bange zu sein. Er geht mit langsamen, aber sicheren Schritten dem Ziel seiner Wünsche entgegen, und wenn er auf seiner Reise auch gelegentlich im Schuldgefängniß von White Croß einsprechen sollte, den Criminalgerichtshof hält er sich zehn Schritt vom Leibe und bezieht schließlich einen Landsitz in Camberwell oder Brixton als Baron Rosenheim, Chef der Firma Rosenheim u. Sohn, Bankconto in der Bank of England, Cheques zahlbar bei Lloyd.

Wenn man jedoch den jüdischen Charakter von seiner besten Seite kennen lernen will, so muß man den „eigentlichen Juden“ in London beobachten. Er heißt der „eigentliche“, weil er nichts Anderes ist und sein will als Jude, und aus keinem andern Grunde nach England kommt, als um Geld zu verdienen. Dieser Entschluß steht bei ihm fest. Der einzige Plan, den er verfolgt, um zu diesem Zwecke zu gelangen, besteht in dem festen Willen, jede Gelegenheit und jeden Vortheil zu benutzen, der sich ihm darbietet. Die Vielseitigkeit und Energie des jüdischen Charakters, die rastlose Thätigkeit, Genügsamkeit, Ausdauer und Berechnung, die sich in jahrhundertelangen Verfolgungen bewährt und gestählt hat, sind das einzige Capital, mit dem er sich aus seiner polnischen, schlesischen oder mitteldeutschen Heimath entfernt, um sein Glück im reichen London zu versuchen. Er weiß sehr wohl, daß hier die Goldstücke nicht auf der Straße herumliegen, daß er als „eigentlicher Jude“ hier noch größere Vorurtheile zu überwinden hat, als daheim, daß es ihm viel Arbeit, Hunger und Elend, viel Demüthigung und Unterwerfung kosten wird, ehe er sich allmählich aus seinem Kaftan oder abgetragenen Familienrock zu wohlgekleideter Respectabilität und geschäftlicher Würde entwickelt. Aber eben weil er dieses weiß, ist er zu Allem entschlossen. Er unternimmt Alles, was er kann, und kann Alles, was er unternimmt. Er verliert oft die Früchte seiner jahrelangen Thätigkeit, aber nie seinen Muth. Gelingt es ihm, den Verlockungen der jüdischen Verbrechercolonie, die sich in den düsteren Höfen von Whitechapel angesiedelt hat und ihre Börse in Petticoat Lane besitzt, zu widerstehen, so macht er seinen Weg, und es ist ein Vergnügen, ihm auf diesem Wege mit all seinen Krümmungen und Haltpunkten zu folgen.

Wir bewohnen ein bescheidenes Haus in einer stillen Vorstadtstraße weit weg von dem Lärme des weltstädtischen Verkehrs. Die Straße ist eben der Natur abgerungen worden. Auf beiden Seiten uniforme, en gros gebaute Häuserreihen, nett, reinlich, hell und offen. Jedes der Häuschen hat sechs blank gescheuerte Stufen vor der Thür und einen kleinen, mit Immergrünsträuchen und Rosen besetzten Garten als cokettes Schürzchen vorgebunden. Nur an einem Punkte ist die Monotonie dieser zusammenhängenden langen Häuserreihe durch einen offenen Garten mit einer hinter Bäumen versteckten Villa unterbrochen. Diese Villa war lange unbewohnt und bot mit ihren verstaubten und zerschlagenen Fenstern und zerfallenden Dachgiebeln einen trostlos öden Anblick dar. Plötzlich wurde es in dem uns gerade gegenüber liegenden Hause lebendig, Arbeitsleute waren Tag und Nacht beschäftigt, um der todten Villa wohnliches Leben und dem mit Gras überwucherten Garten zierliche Ordnung zu geben. Die Vorbereitungen wurden in solcher Ausdehnung und Schnelligkeit getroffen, daß sie das Tagesgespräch der Nachbarschaft bildeten. Dann kamen die Möbelwagen, einer nach dem andern, und entuden ihre Schätze. In den umliegenden Häusern drängte sich die weibliche Neugier an den Fenstern. Mein eignes Weib konnte ihre Augen von den kostbaren Möbeln nicht abwenden und brach unwillkürlich in die Worte aus: „Wie glücklich müssen diese Leute sein!“ Dabei warf sie einen melancholischen Blick auf unser eigenes Meublement und seufzte so recht aus tiefstem Herzen. Weiber sind nun ein mal so. Sie mißgönnen einem Nachbar seinen kostbaren Spiegel und geben ihr letztes Geschmeide hin, um einem anderen Nachbarn aus der Noth zu helfen. Wer der Crösus eigentlich sei, der die Villa so reizend hergerichtet und so glänzend ausgestattet hatte, wußte Niemand zu sagen.

Endlich kam der geheimnißvolle Eigenthümer selbst in einem eleganten Brougham angefahren, – ein junger Mann mit verführerisch schwarzem Barte, sehr sorglich gekleidet, voll Bonhomie und vornehmer Gewandtheit. Während er so aus dem Wagen sprang, den Zügel einem kleinen Jockey zuwarf und seiner etwas zu auffallend gekleideten, aber reizenden Gattin aussteigen half, konnte Jeder auf den ersten Blick sehen, daß er zum vornehmen Leben geboren war, „ein Gentleman von Geburt und Erziehung“, wie die Phrase in England lautet. Uns selbst jedoch war die Erscheinung des jungen Mannes noch viel interessanter, als der befriedigten Nachbarschaft, denn er war ein alter Bekannter, ein gelungenes Specimen des „eigentlichen Juden“. Vor nun etwa 12 Jahren sprach uns ein zerlumpter, vor Kälte zitternder Judenknabe auf der Straße an und bat uns, einige Bücher, die wir unter dem Arm hatten, von ihm tragen zu lassen, da er sehr hungrig sei und noch nicht wisse, wie er einen Pfennig verdienen solle. Er war vor einigen Wochen mit seinem Vater aus Posen hier angekommen, dieser jedoch im Laufe dieser Zeit an den Pocken gestorben. Wir gaben ihm einige Kupferpence. Später verkaufte uns derselbe Knabe Seife [315] und Eau de Cologne auf der Straße. Einige Jahre später trafen wir ihn zufällig als Professor der deutschen und französischen Sprache und aller möglichen Wissenschaften in einem Pensionat, – noch ein paar Jahre später als Schiffsagenten in den London-Docks – noch ein paar Jahre später als Dandy in der italienischen Oper, wo er uns erzählte, daß er Unglück mit seiner Schiffsagentur gehabt und einige Monate im Schuldgefängniß gesessen habe, jetzt jedoch Cassirer in einem großen Handelshause und wohlauf sei. Der zerlumpte Knabe, Straßenverkäufer, Professor, Agent, Cassirer und beneidete Besitzer der reizenden Villa uns gegenüber sind ein und dieselbe Person. Vom Cassirer wurde er Schwiegersohn und Associé des hebräischen Handelsherrn und ist jetzt ein reicher und glücklicher Mann. Trotzdem versäumt er nie, die Synagoge zu besuchen und in seinem rührigen und bescheidenen Auftreten zu bekunden, daß er sich noch immer im Zusammenhange fühlt mit dem „deutschen Juden in London“.