Die deutsche Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung
Wer erinnerte sich nicht der Geschichte jenes Scipio, der auf den Trümmern Carthagos weinend der Zukunft des eignen römischen Vaterlands gedachte? Und wahrlich! der Held hatte Recht mit dieser Wehmuth. Sie stammte aus der richtigen Erkenntniß, daß keine Macht groß genug ist, eine einmal errungene Stufe länger zu behaupten, als die innere Tüchtigkeit dauert, die sie dorthin erhoben.
Betrachtungen solcher Art drängten sich denkenden deutschen Vaterlandsfreunden auf, als das napoleonische Kaiserthum durch den Schlag von Sedan plötzlich zerschmettert und durch den Pariser Straßenauflauf vom 4. September spurlos hinweggeblasen worden war. Wo war jetzt das Urtheil jener sieben Millionen Stimmen, die dasselbe noch vor Kurzem bejaht hatten? Mußte man sich nicht sagen: was ist das Urtheil der Menge, wenn nicht jedem Einzelnen in ihr gesunder Menschenverstand und Einsicht innewohnt? Und ferner: war nicht an dem Tage, wo Deutschland jener frevelhafte Krieg erklärt worden war, durch die Verkündigung der Unfehlbarkeitslehre ein gleich frevelhafter Angriff vom römischen Papste gegen die menschliche Vernunft gemacht worden? Und wie hatte hierauf das Urtheil der großen Menge in Deutschland gelautet? Mit Ehrfurcht und Unterwerfung hatte die Masse der katholischen Priester und Laien diese Verkündigung hingenommen, und als sie zu den politischen Wahlen gerufen wurden, sandten sie eine verstärkte Anzahl der Anhänger dieser geschichts- und vernunftwidrigen Lehre in den preußischen Landtag und in den deutschen Reichstag! Andererseits predigte die Geschichte dieses Krieges laut, wie auch die der jüngst vergangenen Zeit, daß der Erfolg der Waffen wesentlich von der geistigen und sittlichen Bildung der Gesammtheit des Volkes abhängt, das sie führt.
So wandte sich der Blick jener Vaterlandsfreunde, ungeblendet durch die gleichzeitigen glänzenden Siege, schon damals den heimischen Bildungszuständen zu. Wie viel war da zu thun, wie wenig Grund zur Ueberhebung war da vorhanden! In Preußen Herr v. Mühler und um ihn die Wiese, Stiehl, Bormann etc., alle dauerhaft wie er und in der Wolle gefärbt, das höhere Schulwesen verknöchert, die Volksschule im Unkraute der Regulative erstickt, die Lehrerbildung in jesuitisch geleitete Seminarien verwiesen, viele Tausende von Lehrerstellen unbesetzt, noch mehr Tausende, wo die bittere Noth aus allen Ecken schrie, die aus freier Strebekraft des Volkes entstandenen Bildungsvereine endlich mit wenigen Ausnahmen verkümmert und oft genug von einer beschränkten Bureaukratie gehudelt, geächtet und ihrer meist abhängigen Lehrkräfte durch Einschüchterung beraubt. Und wie sah es ferner in Altbaiern, Mecklenburg und einigen anderen Mittel- und Kleinstaaten aus! Hieß es nicht die Früchte der herrlichen, kostbar erkauften Siege schon jetzt verkümmern lassen, wenn hier nicht Abhülfe geschafft wurde?
Dazu kommen die Umtriebe verschiedener socialdemokratischer Parteien, die offen den blutigsten Classenhaß auf ihre Fahnen geschrieben hatten und die Tausende von urtheilslosen Arbeitern zu Spielbällen in der Hand ehrgeiziger und zum großen Theil arbeitsscheuer Agitatoren machten.
Den Siegern über den äußern Feind stand also im Innern ein viel mächtigerer und schwerer zu überwindender Feind gegenüber: die Unwissenheit, ja man durfte stellenweise sagen: die geistige Umnachtung der Massen. Auf diese gestützt, schürten die clericalen und socialdemokratischen Volksverführer einen Haß, der ihnen zur Vernichtung der gesammten modernen Cultur, der Wissenschaft, des Rechtes und des Besitzes verhelfen sollte, um auf ihren Trümmern die alleinige Despotie der Kirche oder die große Maschine des Wirthschaftsstaates zu errichten.
Was helfen gegen den Fanatismus Bajonnete! Aufklärung, Belehrung, dauernde geistige Entwickelung that hier Noth. Da lenkten sich die Blicke einiger rheinischer Männer auf das Volksbildungswesen. In einer Leipziger Wochenschrift erschien im Januar 1871 ein Aufsatz über „den gegenwärtigen Zustand des freiwilligen Bildungswesens in Deutschland“. Er legte die falsche Politik, welche Behörden und Regierungen besonders in Preußen gegen die Bildungsvereine bisher verfolgt hatten, in ihrer Thorheit und Verderblichkeit bloß und deutete die ersten Grundzüge zu einer Reform der freien Volksbildungspflege an. Während sich um die hier aufgestellten Grundzüge eine Anzahl von Männern sammelte, traten in Paris die Schrecken der Commune ein und zeigten die chaotische Auflösung einer Gesellschaft, die völlig vergessen hatte, daß der Mensch nicht vom Brode allein lebt.
Vom Rhein her wurde die Bewegung für das Volksbildungswesen nach Berlin getragen. Ein von hier aus im März verbreiteter Aufruf sprach den Satz aus: „Seit der Einführung des allgemeinen und directen Stimmrechts ist die Freiheitsfrage zu einer Frage der Bildung der Massen geworden.“ Dieser Aufruf forderte mit besonders dringender Mahnung an die großen Arbeitgeber und die Besitzenden überhaupt zur Bildung einer „Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung“ auf, die sich folgende Ziele stecken sollte: 1) Gründung von Bildungsvereinen in allen städtischen und ländlichen Orten, die deren noch nicht besitzen; 2) Herstellung einer Verbindung zwischen den bereits bestehenden Vereinen dieser Art; 3) Gründung eines Blattes, welches ausschließlich den Interessen des freiwilligen Bildungswesens gewidmet ist; 4) Aussendung von Wanderlehrern; 5) Abfassung und Verbreitung guter Volksschriften. Die Unterzeichner, unter denen sich Brehm, Franz Duncker, v. Holtzendorff, Friedrich Kapp, Julius Knorr, Löwe, E. Rittershaus, Schulze-Delitzsch, Ed. Pfeiffer u. a. m. befanden, gehörten allen Schattirungen des freisinnigen Deutschlands an.
Bezeichnend ist, daß die kirchlichen und conservativen Parteien gegen diese auf Hebung der Volksbildung gerichtete Bewegung von Anfang an eine feindselige Stellung einnahmen. Die „Nordd. Allg. Zeitung“ verhöhnte geradezu in einem ihrer Leitartikel das [603] von den obengenannten Männern aufgestellte und unterzeichnete Programm. Dieser Umstand hinderte indessen nicht, daß dasselbe in ganz Deutschland einen begeisterten Widerhall fand, auch die „Deutschen Blätter“ begrüßten es als „eine frohe Botschaft zu Pfingsten“ und mitten unter den Vorbereitungen zu der glänzenden Siegesheimkehr fand zu Berlin am 14. Juni die constituirende Generalversammlung statt. Diese berief Schulze-Delitzsch, den Vater des deutschen Genossenschaftswesens, an die Spitze der Gesellschaft: gewiß eine sehr glückliche Wahl, da offenbar gerade dieser wie Wenige kampf- und schafferüstige Mann in der Neuzeit mehr als alle Regierungen, Philosophen und Staatsmänner zusammen für die praktische Lösung der socialen Frage gethan hat.
Im Sommer 1871 breitete die Bewegung sich weiter über Deutschland aus. Während Schulze-Delitzsch auf dem Nürnberger Verbandstage die deutschen Genossenschaften für sie gewann, trug Dr. Max Hirsch dieselbe in die Kreise der deutschen Gewerkvereine und führte letztere dadurch in eine Bahn edelsten Strebens, welche ihre englischen Vorbilder niemals gekannt hatten, mit welchen sie Unwissenheit und Böswilligkeit noch allzuhäufig unterschiedslos zusammenwirft. Dem Verfasser dieses Abrisses wird stets unvergeßlich bleiben, mit welcher Begeisterung die Vertreter der deutschen Gewerkvereine auf ihrem ersten Verbandstage im Herbst 1871 zu Berlin seine Aufforderung zum Beitritt zur „Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung“ aufnahmen. Hätten doch allerwärts die deutschen Fabrikanten und Kaufleute denselben Eifer für die Sache der Volksbildung bewiesen, wieviel nachdrücklicher würde dann heute schon die Gesellschaft den Kampf gegen den Aberglauben, die Denkfaulheit und die systematische Verdummungssucht führen können!
Die erste ordentliche Generalversammlung, welche am 28. und 29. October zu Berlin gehalten wurde, versammelte bereits Vertreter von Zweigvereinen aus dem Norden und Süden Deutschlands auf dem classischen Boden des großen Berliner Gewerkvereins, wo bei dieser Gelegenheit Dr. Löwe in ergreifender Rede die „Bedeutung der Gesellschaft für die nationale Entwickelung“ beleuchtete. Nachdem auf dieser Versammlung das Statut der Gesellschaft seinen Abschluß erhalten hatte und die Wahl des Centralausschusses vollzogen worden war, trat die Gesellschaft in regelmäßige Thätigkeit. So groß und erfreulich, so kräftig und hoffnungsreich diese auch ist, so würde es sich schlecht für den mitten Darinstehenden ziemen, davon breit oder mit Ruhmredigkeit zu sprechen. Nehmen Sie also mit folgenden knappen sachlichen Andeutungen hier vorlieb.
Das Organ der Gesellschaft und der mit ihr in Verbindung stehenden Vereine, „der Bildungsverein“, begleitet rathend und organisirend die Entwickelung des gesammten freien Fortbildungswesens; ihre Commissionen beschäftigen sich mit den einzelnen Zweigen desselben: den Fortbildungsanstalten, den Volksbibliotheken (durch Herstellung eines Musterkatalogs), den Wanderlehrern, die trotz des Widerstands der Jesuiten bereits am ganzen Rhein und in der Mark Brandenburg thätig sind, und mit der Herausgabe eines Kalenders für 1873. Ihre Zweigvereine in Frankfurt am Main und Hamburg haben diesen Winter bereits öffentliche Vorlesungen veranstaltet; in Bonn und Würzburg sind unter der Führung der Universitätsprofessoren Volksbildungsvereine entstanden, ebenso in München, Biebrich, Schleiz, Luckau und anderen Orten.
In anderen Städten sind durch die Einwirkung der Gesellschaft Fortbildungsanstalten gegründet worden, zum Beispiel in Gießen, Biebrich etc. Außer den Vorträgen der Wanderlehrer, von denen sich Herr Julius Schulze am Mittelrhein besonders auszeichnete, wurden durch Mitglieder des Ausschusses (Schulze-Delitzsch, Franz Duncker, Friedr. Kapp u. A.) auswärts Vorträge gehalten und am 19. Februar in Berlin ein besonderer Cyklus eröffnet, der bestimmt ist, für die Absichten der Gesellschaft in den gebildeten und besitzenden Kreisen Berlins noch größere Theilnahme zu wecken. Ferner verbreitet die Gesellschaft gute Volksschriften zu billigen Preisen, zum Beispiel den Arbeiterkatechismus zu neun Pfennigen, andere giebt sie unentgeltlich aus, alle deutschen Werke aber liefert sie zur Unterstützung der Volksbibliotheken unter dem Ladenpreise und bei größeren Bestellungen außerdem franco. Es würde zu weit führen, wollten wir hier in alle einzelne Zweige ihrer nützlichen Thätigkeit eingehen; kurz, hier ist eine Vereinigung geschaffen, in die Niemand einzutreten versäumen sollte, dem die Ausbreitung der Aufklärung, der Bildung und der gesetzlichen Freiheit am Herzen liegt. Unter den Namen der Ausschußmitglieder begegnen wir den hervorragendsten Vertretern auf allen Gebieten des geistigen und gewerblichen Lebens. Den Vorstand bilden die Herren: Schulze-Delitzsch (als Vorsitzender), Reichstagsabgeordneter Miquél und Rechtsanwalt Makower (als Stellvertreter), Franz Duncker (als Schatzmeister), und Dr. Franz Leibing (als Secretär). Das Bureau der Gesellschaft befindet sich Köthener Straße Nr. 39, Berlin, wo Anmeldungen entgegengenommen und Programme, Auskunft etc. ertheilt werden.
Mit ihrer zweiten ordentlichen Generalversammlung, die in den Tagen vom 6. bis 8. Juli dieses Jahres in Darmstadt abgehalten wurde, pflanzte die Gesellschaft ihr Banner in Süddeutschland auf, wo ihr bereits wackere Freunde den Boden bereitet hatten. Hierher zählen namentlich die Leiter der Vereine zu Frankfurt, Darmstadt, Würzburg und einzelne tüchtige Männer der Rheinpfalz. Es war ein Zeichen der Zeit und fürwahr ein höchst erfreuliches, daß sich wohl zum ersten Male in Deutschland eine große Anzahl von Männern, denen man sonst nur auf politischem und socialem Gebiete begegnete, hier auf dem Felde der Volkserziehung zusammenfand und mit Fachmännern, die vom Volksschul- bis zum Hochschullehrer vertreten waren, in Berathung trat. Für das Großherzogthum Hessen-Darmstadt aber konnte es als gute Vorbedeutung gelten, daß der Protector des Darmstädter Zweigvereins, Erbprinz Ludwig, Gemahl der geistvollen und aufgeklärten Prinzeß Alice, mit mehreren Ministern von Anfang bis zu Ende an den Verhandlungen thätigen Antheil nahm. Das Ergebniß derselben waren drei wichtige Beschlüsse: erstens die Einführung methodischen Zeichenunterrichts in die Volksschule zur Hebung des deutschen Kunstgewerbes; zweitens die Herstellung von Volksbibliotheken in Stadt und Land, und drittens endlich die Einrichtung von Gemeinde-Fortbildungsschulen mit obligatorischem Besuch. Namentlich mit letzterem Gegenstande wird ein Culturfortschritt angebahnt, der nur mit dem allgemeinen Schulzwange verglichen werden kann, dessen Segnungen heut zu Tage in allen Ländern und von allen Parteien mit Ausnahme der pfäffischen Finsterlinge, anerkannt werden. Es ist deshalb die Absicht der Gesellschaft, schon in der nächsten Session des preußischen Landtags und des deutschen Reichstags dafür Sorge zu tragen, daß der „Gemeinde-Fortbildungsschule mit obligatorischem Besuch“ ein gesetzlicher Boden und derselbe Staatszuschuß verliehen werde, welchen in Preußen bis jetzt allein die Provinz Hannover genießt.
Man klagt so oft über die Versumpfung des geistigen Lebens in kleineren Orten. Wohlan denn, schließt euch dieser mächtigen, frischen, gesunden geistigen Bewegung an! Legt aber vorher euren engherzigen Kastengeist und Standeshochmuth ab. Gründet Vereine, in denen sich Alles zusammenfinde, was Sinn für geistige Interessen besitzt, der Vortheil wird bei Gelehrten und Ungelehrten, bei Reich und Arm gleich groß sein, Alle werden geben, Alle empfangen und Alle sich fortbilden. Glaube doch Keiner, er habe das nicht mehr nöthig, er könne das in solchen Kreisen nicht! Hier lernt selbst der Gelehrte erst wahrhaft seine Wissenschaft beherrschen, bringt sie sich selbst erst zur höchsten Klarheit, wenn er sie, ohne etwas Anderes als gesunden Menschenverstand voraussetzen zu dürfen, in unseren Volksbildungsvereinen vortragen soll. Und welche geistige Gymnastik liegt in den dann folgenden Discussionen! Eine Stadt ohne Bildungsverein, an den sich Vorträge, Lesecirkel, geschichtliche, technische und naturwissenschaftliche Sammlungen, gewerbliche Ausstellungen, Bibliotheken, Sängerchöre und gemeinsame Ausflüge anschließen, muß bald eine so unerhörte Erscheinung werden, wie ein Dorf ohne Schule. Und wollt ihr wissen, wie man dies zu Wege bringt, so fragt bei der Gesellschaft an, sie wird euch bereitwillig mit Rath und That beistehen.