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Autor: Charlotte Niese
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Titel: Die braune Marenz
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 36-39, S. 607–611, 623-627, 639-643, 660-664
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[607]

Die braune Marenz.

Erzählung von Charlotte Niese.

Als wir Kinder waren, zählte die braune Marenz zu unseren Freundinnen. Zwar gab es Leute, die behaupten wollten, die braune Marenz sei kein vorteilhafter Umgang für uns. Aber man muß sich nicht immer danach richten, was die Leute sagen, sondern thun, was einem selbst gefällt. Und da uns die braune Marenz wirklich gefiel, so sprachen wir mit ihr so oft, wie wir ihr begegneten.

Sie war übrigens gar nicht braun, sondern hatte ebenso rote Wangen wie wir. Niemand nannte sie die braune Marenz als wir allein, und wir hatten ihr diesen Namen gegeben, weil sie immer nur ein braunes, sehr häßliches Kleid trug. Aus dem war sie herausgewachsen; sie hatte es nämlich zur Konfirmation erhalten und nun war sie neunzehn oder zwanzig Jahre alt. Damals war es vielleicht auch nicht mehr neu gewesen: nun hatte es unzählige Löcher.

„Marenz, ziehe doch einmal ein anderes Kleid an,“ sagten wir zu ihr, als selbst unsern immerhin anspruchslosen Augen das Gewand etwas zu schadhaft erschien – und die also Aufgeforderte lachte, wobei sie ihre weißen Zähne zeigte.

„Wenn ich ein anner Kleid hätt, dann hätt ich es all lang angezogen!“

„Giebt Deine Mutter Dir denn kein neues Kleid?“ fragten wir weiter und Marenz lachte noch mehr.

„Was Ihr doch dumm seid! Ich habe Euch schon ein paarmal gesagt, daß ich aus’n Armenhaus komme und kein Vater hab und kein Mutter! Wo sollt ich da neue Kleiders herkriegen?“

„Aber Du dienst doch! Bekommst Du denn keinen Lohn?“

Marenz sah nachdenklich aus.

„Lohn krieg ich woll; abers was der Bäcker is, wo ich bin, der hat gesagt, die Kost wär das meiste, was er geben thät. Ich brauch denn auch Toffeln[1] und Strümpfens, und ein Unterrock mußt ich mich neulich auch noch kaufen! Auf’n Jahrmarkt, in die Bude bei die Frau aus Kiel. Mit’n feinen roten Band an, und das is gleich abgerissen! Nee, Geld zum Kleid hab ich nich!“

Sorgenvoll gingen wir nach Hause. Es mußte doch unangenehm sein, nur ein Kleid zu haben, wo wir doch selbst aus eigener Erfahrung wußten, wie leicht einem Kleidungsstücke etwas ankommen kann!

Allerdings erklärten unsere erwachsenen weiblichen Familienmitglieder, sie hätten nichts zum Verschenken und ihre Schränke seien leer – aber wir setzten es dennoch durch, nach einigen Tagen mit einem ziemlich großen Bündel vor dem Bäckerladen erscheinen zu können, wo Marenz gerade die Straße fegte.

Sie hatte ihr zerrissenes Kleid hoch aufgeschürzt und bei jeder Bewegung wehte ein langes rotes Band, dessen Heimat der Unterrock aus Kiel zu sein schien, hinter ihr her. Aber sie sang mit heller Stimme ein lustiges Lied, und als sie uns kommen sah, lief sie uns einige Schritte entgegen.

„Wir haben ein Kleid für Dich, Marenz!“ bemerkte ich wichtig.

Mit einem Freudenschrei riß sie mir das Paket vom Arm.

„Ein Kleid? O, was seid Ihr für Engels, Engels, Engels! O, was forn Farbe sollt es woll haben? Is da woll ein büschen Rot und Grün ein?“

Rot und Grün! Du lieber Gott! Unsere alte, gute Tante, die ledigen Standes war und die sich bescheiden, wie es einer Jungfrau ziemt, in die dunkelsten Farben kleidete, hatte sich das Kleid für uns gewissermaßen vom Leibe gerissen. Es war, wie sie sagte, so gut wie neu und erst fünf Jahre alt! Seine Farbe war ein tiefes Dunkelbraun mit schwarzen Punkten darin und sein allgemeiner Eindruck ein etwas düsterer.

Als es in seiner ganzen dunklen Pracht aus dem Paket kam, konnte Marenz denn auch einen kleinen Schrei der Enttäuschung nicht unterdrücken.

„Du meine Zeit!“ seufzte sie. „Furchbar fein is es und den Stoff scheint prachvoll – wenn ich abers doch einmal in mein irdischen Leben ein buntes Kleid kriegte. Bloß einmal! In Armenhaus hatt ich ümmer ein dunkelblaues an und wie ich die Gööse[2] in Staberdorf hütete, kriegt ich mal ein dunkellilares von die Bäurin! Und denn das braune, was nu so slecht is und denn dieses! Das is noch das swärzeste von alle Kleiders!“

Marenz weinte jetzt ein wenig. Nicht gerade viel, aber doch so, daß wir es sehen konnten. Uns war ihre Betrübnis ganz verständlich, denn wir mochten helle Farben auch lieber leiden als dunkle – und wir hätten sie gern getröstet.

„Dunkle Kleider sind sehr gut!“ bemerkte mein Bruder Jürgen. „Man kann die Flecke nicht so deutlich darauf sehen. Ich hatte neulich eine weiße Hose an; aber als ich ein bißchen auf dem Rasen saß, wurde sie gleich grün, und Mama schalt mich aus!“

„Wenn Du mal Trauer bekommst,“ sagte ich jetzt, „dann hast Du gleich ein dunkles Kleid und brauchst Dir keins zu kaufen!“

Marenz lachte schon wieder.

„Wo sollt ich woll Trauer herkriegen, wo ich nich mal ein Großmutter mehr hab?“

„Nee, sie hat nix nich auf die Welt!“ mischte sich jetzt die dicke Bäckersfrau ins Gespräch. Sie stand plötzlich in der Hausthür und hatte wohl unsere Verhandlungen mit angehört. „So’n arme Deern! Denkt noch an bunte Farbens, wo sie Gott danken kann, wenn sie überhaupt was auf’n Leib und in den Leib kriegt! Bedank Dir, Marenz!“

Frau Bäckermeister Olten war eine Dame, die wir uns lieber aus der Ferne betrachteten, als daß wir in der Nähe mit ihr sprachen. Sie sollte nämlich nicht allein ihren Mann, sondern auch ihre Dienstboten prügeln und einmal einen Käufer aus dem Laden geworfen haben, weil er behauptete, das Brot sei alt. Wir empfanden daher mehr Respekt als Liebe für Frau Olten und wir [608] liefen jetzt ohne weiteres davon, ohne auf Marenz zu achten, die uns mit zitternder Stimme einige Dankesworte nachrief.

Einige Tage später trug sie aber das neue Kleid und sah viel ordentlicher aus als sonst. Sie konnte aber jetzt wirklich nicht mehr verhindern, daß auch andere Leute sie die braune Marenz nannten.

Sie lachte darüber, wie sie denn überhaupt niemals lange ernsthaft sein konnte.

„So’n komischen Namen!“ sagte sie eines Tages zu mir, als sie mir mit ihrem kleinen Brotwagen begegnete. Zweimal in der Woche, gerade so oft wie Oltens backten, mußte Marenz aufs Land, um das Brot in den Dörfern zu verkaufen.

„So’n drolligen Namen!“ wiederholte sie noch einmal. „Wo ich doch Emmerentia Kathrine getauft bin, und gar nix Braunes an mich is!“

Und sie strich sich die goldfarbigen Haare hinter die Ohren.

„Du hast hübsche Namen!“ bemerkte ich und sie nickte.

„Vater is auch mit’n Drehorgel gegangen und hat ein Bild gehabt, mit’n Brudermord auf!“ sagte sie nicht ohne Stolz. „Und was mein Mutter war, die hat allens, was bei die Mordthat passiert is, gesungen. Wunderhübsch is es gewesen und mannichein hat dabei geweint, wenn er die Geschichte gehört hat und is auch hinterher graulich gewesen. Die Leute ins Armenhaus haben mich das verzählt, wo Vater und Mutter auch gestorben sind. Mutter is noch ganz jung gewesen; abers sie is doch totgeblieben und ich bin allein nachgeblieben!“

„Du mußt Dir Geld sparen!“ begann ich in ermahnendem Tone. Eine Tante von mir, die ich um einen Schilliug für Bonbons gebeten hatte, hatte mich kürzlich mit dieser Antwort abgefunden und ich fand es jetzt an der Zeit, sie zu verwerten.

Marenz nickte vergnügt.

„Ich hab was!“ sagte sie geheimnisvoll. „In mein Strumpf in Bettstroh steckt es! Willst mein Geld mal sehen?“

Natürlich wollte ich dies. Am liebsten wäre ich gleich mit Marenz umgekehrt; aber sie mußte aufs Land fahren und hatte keine Zeit mehr für mich. In den nächsten Tagen sollte ich aber einmal nachmittags kommen. Dann schlief Frau Olten, konnte uns also nicht stören und Marenz wollte mir ihren Schatz zeigen.

An den folgenden Tagen hatte ich irgend etwas verbrochen und durfte nicht ausgehen. Es dauerte also ungefähr eine Woche, ehe ich Marenz besuchen konnte, und meine Brüder Jürgen und Milo begleiteten mich. Jürgen, weil er mit seiner gewohnten Ungläubigkeit an Marenz ihrem Strumpfe zweifelte, und Milo, weil er niemals einen Strumpf voll Geld gesehen hatte und diese gute Gelegenheit, seine Wißbegierde zu befriedigen, doch nicht vorübergehen lassen konnte.

Wir waren alle drei in ziemlich feierlicher Stimmung und Marenz, die allein im Laden saß und nähte, sah uns ganz überrascht an.

„Nu, Kinners, wo seht Ihr aus? Habt Ihr einen begraben?“

„Wir wollen Deinen Strumpf sehen,“ sagte ich. „Deinen Strumpf voll Geld.“

Marenz lachte etwas verlegen.

„Besten Kinners – ich hab keinen Strumpf voll Geld!“

„Aber damals –“ begann ich vorwurfsvoll, doch sie unterbrach mich eilig.

„Ja dazumal! Dazumal hatt ich ein büschen Geld in mein Strumpf – nu is das allens natürlichenweise fort! Wo kann man sein Geld auch so lang verwahren! Geiz is die Wurzel von allen Uebel! sagt der Pastor in die Konfirmatschonsstunde!“

„Was hast Du denn mit dem Gelde gemacht?“ fragten wir nicht wenig enttäuscht und sie sah uns alle Drei mit glänzenden Augen an.

„Soll ich Euch mal weisen, was ich mich gekauft hab for mein Geld? Denn kommp man snell mit mich nach oben, abers ganz leise, daß meine Ohlsch nich aufwacht!“

Wir huschten hinter ihr die steile Bodentreppe hinauf und standen bald in einem ärmlich eingerichteten Stübchen. Dort auf dem elenden Bett lag ein sehr buntes Kleid. Ich glaube, alle Farben vom Regenbogen hätte man darin finden können.

„Das is mein Ballkleid!“ sagte Marenz mit vorstellender Handbewegung. „Morgen abend geh ich zu Ball mit Johann Kühl! Er hat mir eingeladen und will mir freihalten, denn da is Angträ bei das Ball. Herrens zwölf Bankschillinge und Damens die Hälfte! Und weil ich doch nich in das braune Kleid tanzen kann, hab ich mich ein Ballkleid gekauft. Is es nich prachvoll? Alle Farbens auf einmal ein, und denn noch ganzen billig, weil kein ein es haben wollte und Kaufmann Ohrts es nich loswerden konnte! Oh – was freue ich mir auf den Ball und auf das feine, feine Kleid!“

Sie schlug die Hände immer wieder zusammen vor Freude, und dann mußten wir das Kleid befühlen und sagen, daß es ein schöner Stoff sei und daß er aussähe wie Seide, obgleich es nur Kattun war.

Aber wir fühlten uns doch enttäuscht, weil wir den Strumpf mit Geld und kein Kleid hatten sehen wollen, und Jürgen gab seinen Gefühlen Ausdruck:

„Weißt Du, Marenz, es wäre doch besser gewesen, wenn Du das Geld behalten und Dir später etwas dafür gekauft hättest!“

Marenz machte große Augen.

„Warum soll ich mich nu nix kaufen, wo Johann Kühl mir freihalten will und ich noch niemalen auf’n Ball gewesen bin? Auf’n Ball mit Angträ und Punsch und Kuchens und mit Musik? Ins Armenhaus war niemalen ein Ball und wo ich die Gösselns hütete, auch nich! Und jeden Tag muß ich um Klock vier aufstehen und hab so viel zu thun – kann ich da nich mal auf’n Ball gehen, wo Johann Kühl mir freihält?“

Hierauf wußten wir nun nichts zu erwidern und bewunderten noch einmal das Kleid, ehe wir fortgingen. Aber als wir zu Hause erzählten, wie Marenz ihre Ersparnisse angewandt hatte, da gab es doch Leute, die ihren Leichtsinn sehr tadelten und ihr nichts mehr schenken wollten. Besonders eine ältere Tante, die bei uns zum Besuch war, konnte sich gar nicht über den Leichtsinn der heutigen Jugend beruhigen und sagte, wir dürften nicht mehr mit Marenz umgehen.

„Dürfen wir denn gar nicht mehr mit ihr sprechen?“ klagte ich.

„Nein!“ sagte Tante Klementine mit großer Entschiedenheit; Mamas Herz aber war gottlob noch nicht ganz hart geworden. Sie meinte, wenn Marenz uns anredete, sollten wir ihr nur immerhin antworten; es wäre aber besser, wenn wir sie nicht mehr besuchten.

„Im Armenhaus hat sie niemals tanzen können!“ murmelte ich noch einmal – aber mir wurde gesagt, daß ich schweigen solle.

Als ich nach einigen Tagen Marenz begegnete, begrüßte ich sie also mit einiger Zurückhaltung. Sie aber nickte mir fröhlich zu.

„Oh Kind, was is das Leben schön! Was war es fein und wie hab ich getanzt! Von abends Klock sieben bis morgens Klock fünf und denn mußte ich wieder an die Arbeit! Nee doch! Was zu schön is, das is zu schön!“

Ihre Augen funkelten vor Lebenslust und ich konnte unmöglich ernst bleiben.

„War Dein Kleid denn hübsch?“ fragte ich, und sie sah mich fast verächtlich an.

„Hübsch? Das war einfach großartig – kein Engel im Paradies konnt feiner sein! Johann Kühl sagt das auch!“

„Der hat Dich freigehalten, nicht wahr?“

Die braune Marenz nickte. Dann lachte sie ein wenig und wurde rot.

„Denk Dich – der mag mir leiden!“

„Wirklich? Will er Dich noch einmal freihalten?“

„Ja – das auch woll – abers er mag mir leiden! Er möcht woll, daß ich sein Frau würde. Noch nich, weil er nix hat – abers, wenn er mal was hat!“

„Du hast ja auch nichts, Marenz!“

„Nee –“ sie schüttelte den Kopf und seufzte. „Nee – haben hab ich nix – abers wir könnten ja warten! Hannes Bergmann sagt, warten is slimm!“

„Wer ist Hannes Bergmann?“

„Nu – das is Hannes, der so viel mit mich tanzte, was Johann nich mochte. Hannes kann so prachvoll Galopp tanzen! So ganzen prachvoll! Und er hat ein silberne Uhr, ganz von echten Silber und er hat mich gesagt, wenn ich ihm nähme, denn dürfte ich auch die Uhr jedweden Tag aufziehen! Nachts hängt sie an die Wand und ich kann ihr ankucken so lange ich will!“

„Will Hannes Dich denn auch heiraten?“ fragte ich.

„Er sagt sowas – ich glaub, er macht Witzens!“ erwiderte Marenz lachend. Dann schlug die Uhr vom Kirchturm und sie griff nach der Deichsel ihres kleinen Handwagens.

„Du liebe Zeit, da slägt es all vier und ich soll noch Brot nach zwei Dörfers bringen!“

Jürgen, dem ich unter dem Siegel der Verschwiegenheit diese [610] Unterredung erzählte, kannte sowohl Johann Kühl wie Hannes Bergmann.

Ersterer war Bootsknecht in dem kleinen, unweit der Stadt gelegenen Hafen und Hannes Bergmann war Großknecht bei Herrn Hermenstein, einem wohlhabenden Landbesitzer. Ihre Bekanntschaft zu machen, war auch für mich nicht schwer, und als wir eines Tages am Hafen waren, fanden wir Johann Kühl mit dem Teeren seines Bootes beschäftigt. Er war groß und blond, mit vielen Sommersprossen und etwas schläfrigen Augen. Als ich ihn fragte, ob er später einmal Marenz heiraten wolle, wurde er sehr verlegen und wendete sich ab, ohne ein Wort zu erwidern. Das fanden wir nun nicht nett von ihm – uns hätte er doch gern seine Absichten mitteilen können; aber er schien über diesen Punkt andere Ansichten zu haben.

Hannes Bergmann war eigentlich mehr nach unserem Geschmack. Der zeigte uns gleich seine große silberne Uhr, und als wir ihn fragten, ob er Marenz leiden möchte, entgegnete er lachend, daß er sie sehr nett fände. Auch hatte er zwei braune Pferde, die einen Leiterwagen zogen, und er bot uns an, uns durch die Stadt spazieren zu fahren, ein Anerbieten, das wir sofort annahmen.

Auf einem federlosen Leiterwagen über holpriges Straßenpflaster zu fahren, ist bekanntlich eine der angenehmsten Bewegungen und bei dieser Gelegenheit wurde uns jeder Gedanke an Marenz aus dem Kopf gestoßen.

Wir sahen sie auch eine lange Zeit gar nicht – wahrscheinlich hatte sie mit ihren Fahrten aufs Land viel zu thun und mußte noch dazu im Hause viel schaffen.

Es war in den Herbstmonaten gewesen, als wir das Kleid von Marenz bewundert hatten; dann kam Weihnachten mit seinen vielen Freuden und dann der Januar, der Monat, in dem unser Großvater, der Beamter war, sehr viel zu thun hatte. Es wurden nämlich die Geldgeschäfte der ganzen Insel dann in Ordnung gebracht, Erbschaften ausbezahlt, Schuldverschreibungen eingelöst und alle Zinsen beglichen. Jede Zahlung mußte aber in dänischen Speziesthalern gemacht werden, einem Geldstück, das ungefähr den Wert von vier heutigen Reichsmark hatte. Mein Großvater hatte sehr viel mit diesen Geldgeschäften zu thun – er verwaltete verschiedene große Kapitalien und mußte zu Zeiten sich viel Geld vorzählen lassen.

Unter den Hofbesitzern, die viel Geld auszahlen mußten, befand sich auch der reiche Herr Dorning, der im Westen der Insel wohnte.

Wir kannten Herrn Dorning nicht genau und würden niemals von ihm gesagt haben, daß er unser Freund sei – aber wir begrüßten ihn, wo wir ihn sahen, und er sprach dann einige nachlässig freundliche Worte mit uns. Auch seine Frau kannten wir nur aus der Entfernung und sie war uns immer interessant gewesen, weil es keinen Menschen gab, der so fest in der Kirche schlief wie sie. Kaum hatte sie sich gesetzt, so legte sie den Kopf auf die Brust, und ihr leises Schnarchen begleitete Gesang und Predigt mit solcher ruhigen Gleichmäßigkeit, daß alle Kirchenbesucher nur erstaunt waren, wenn sie nicht schnarchte und nur leise atmete. Seit einiger Zeit aber fehlte Frau Dorning unter den Kirchenschläfern und das kam daher, weil sie nun für immer unter dem grünen Rasen des Kirchhofes schlief.

Ihr Mann hatte ihr, wie es sich gehörte, eine stattliche Leichenfeier mit sehr viel Torten und Wein ausrichten und auf ihr Grab ein schönes Granitkreuz setzen lassen. Auf diesem Kreuz befand sich außer einigen Bibelsprüchen auch ein Schmetterling, der uns Kinder sehr in Verwunderung setzte. Wir hatten niemals an einen Schmetterling gedacht, wenn wir die dicke und sehr schwere Frau Dorning sahen, und wir konnten auch nicht verstehen, was die Großen uns darüber sagten.

Als Herr Dorning mit seinem Gelde bei unserem Großvater vorfuhr, hatte es gerade einige Tage sehr stark geschneit und der Schnee lag hoch. Herr Dorning kam daher auch in einem Schlitten, der aussah wie ein altes Bett und der mit Stroh ganz angefüllt war. Der reiche Hofbesitzer sollte manchmal überhaupt geizig sein, wie wir schon gehört hatten – jedenfalls aber hatte seine Sparsamkeit ihre Früchte getragen.

Wie der Schlitten vor unserem großelterlichen Hause hielt und Dorning ausstieg – Jürgen und ich standen gerade vor der Thür – wühlte er ein wenig im Schlittenstroh herum und zog dann vier schwere Beutel mit Geld heraus, die er auf die Hausthürschwelle setzte und uns darauf aufforderte, wir sollten sie nur stehlen. Wir versuchten die Beutel zu heben, aber das ging nicht; sie waren zu schwer und Dorning lachte laut auf.

„Na seht Ihr woll, Kinners – mit Geld könnt Ihr noch nich umgehen! Nich mal tausend Spezies könnt Ihr heben!“

Er ergriff einen Beutel und hielt ihn im steifen Arm. Da er groß und stark war, konnte er es wirklich und lachte selbstgefällig.

„Ja, so is es – mit Geld versteh ich mir noch! Krischan,“ wandte er sich an seinen Kutscher, „lang’ nu auch noch den annern Beutel her, wo die achhunnert ein sind. Der muß unter mein Sitz stehen!“

Krischan, dessen Pferde unser Kutscher Hinrich hielt, wühlte im Stroh, bis er einen sehr roten Kopf bekam.

„Dor is nix mehr!“ murmelte er endlich und Herrn Dornings Gesicht wurde etwas blaß.

„Wo, was? Is der Büdel nich da, mit die achhunnert Spezies ein? Krischan, besinn Dir!“

Krischan besann sich, kratzte sich hinter den Ohren, seufzte, kaute einen Strohhalm nach dem andern und warf alles Schlittenstroh in den Schnee. Es half aber nichts – der Beutel mit den achthundert Spezies war fort. Herr Dorning fluchte auf plattdeutsch und hochdeutsch und dann fiel ihm ein, daß der Schlitten einmal umgeschlagen sei. Es war nicht schlimm gewesen, der Schlitten hatte gleich wieder gerade gestanden, aber es konnte doch bei dieser Gelegenheit der Beutel in den weichen Schnee gefallen sein.

Als Herr Dorning erst auf diesen Gedanken kam, ließ er schnell die vier großen Beutel mit Thalern in Großvaters Kontor bringen und jagte dann mit seinem Schlitten wieder nach der Stelle, wo der Unfall passiert war. Heinrich, einer meiner ältern Brüder, und Jürgen fuhren mit. Dies Suchen auf offener Straße hatte natürlich viele Menschen, besonders Frauen mit Kindern auf dem Arm, herangezogen, und alle Menschen sahen auf die Straße, als wenn sie dort die achthundert Speziesthaler finden könnten. Die lagen aber weder auf der Straße, noch dort, wo Herrn Dornings Schlitten umgeschlagen war. Unverrichteter Sache kehrten alle nach etlichen Stunden eifrigen Suchens wieder und Herr Dorning soll sehr schlechter Laune gewesen sein, als er das andere Geld bei meinem Großvater aufzählte.

Mein Großvater riet ihm, das Geld durch den Ausrufer „ausklingeln“ zu lassen und dem ehrlichen Finder eine gute Belohnung zu versprechen. Er aber hatte verdrießlich den Kopf geschüttelt.

„Weg is weg, Herr Justizrat! Wer achhunnert Thalers auf die Landstraße findet, der behält ihnen auch. Na, und versmerzcn kann ich es – Sie wissen, ich bin ein reicher Mann!“

Diesen Trost hatte er sich öfters wiederholt, und dabei war es geblieben.

Aber auf der ganzen Insel wußten doch bald alle Menschen, welchen Verlust Herr Dorning erlitten habe und wie ruhig er ihn trüge. Sogar das „Wochenblatt für Intelligenz und Unterhaltung“ brachte einen langen Bericht über das einem der geschätztesten Mitbewohner widerfahrene Mißgeschick und wir Kinder dachten darüber nach, was wir anfangen wollten, wenn wir so viel Geld fänden. Denn daß wir es behalten würden, erschien uns selbstverständlich.

Einen ganzen Monat lag der Schnee und die Brüder hatten sich eine Schneehütte gemacht, in der sechs Personen sitzen konnten. Sie sprachen davon, einen Anbau zu machen und dann eine Abendgesellschaft für die Erwachsenen zu geben, bei der jeder Geladene mindestens ein halbes Pfund Chokolade oder ebensoviel Kuchen mitbringen solle, als das Tauwetter kam. Dies kam uns sehr ungelegen und wir konnten den lieben Gott nicht recht begreifen. Wir hatten ihn jeden Abend gebeten, er möge uns den Schnee und den scharfen Frost noch recht lange lassen, damit wir unser Schneehaus behalten könnten, und nun that er nicht, was wir wollten!

Wir fühlten uns von ihm geradezu schlecht behandelt und ich sagte dies auch zu Marenz, der ich den folgenden Tag im feinen Tauregen begegnete.

Sie patschte durch den aufgeweichten Schnee, schob ihren Brotwagen vor sich her und trug das braune Kleid unserer Tante. Aber es war nicht mehr sehr gut erhalten. Sie trug weder ein Tuch um die Schulter, noch eins um den Kopf und ihre Hände waren rot und verschwollen.

Ich betrachtete sie denn auch mit einigem Mißfallen.

[611] „Du bist gar nicht hübsch heute, Marenz! Und nicht einmal ein Tuch trägst Du?“

„Ich hab ja kein!“ sagte ae etwas wehmütig. „Kuck mal, was die Menschen verschieden sind! Du willst, daß der liebe Gott den Frost beibehält, und ich hab ihm gebeten, daß er Tauwetter schickt. Weil daß mir bei Frost furchbar frieren thut und ich auch noch ganzen geswollene Fingers kriege!“

„Bitte ihn doch, daß Du ein wollenes Tuch bekommst!“ riet ich und sie lachte etwas zweifelnd.

„Das thut er nich – nee, das thut er nich! Mein Ohlsch, die Oltensch, sagt das auch. For mir thut uns’ Herrgott nix, weil daß ich mein Geld forn sündiges Ballkleid ausgegeben hab. Frau Olten sagt, sie hätt mich vielleich ein Tuch zu Weihnachen geschenkt, wenn ich nich so fors Tanzen gewesen wär! Nu hat sie das sein lassen, denn Hoffart muß Pein leiden, sagt sie! Nu, da hab ich natürlichenweise den lieben Gott nich um ein Tuch bitten mögen, weil ich ja einsah, daß ich nix taug. Bloß um Tauwetter. Das hab ich gethan.“

„Hast Du schon einmal wieder getanzt?“ fragte ich und Marenz schüttelte den Kopf.

„Nee! Den zweiten Weihnachstag wollt Hannes Bergmann mir mit haben, abers ich kriegte kein Erlaubnis. Is auch einerlei – aus Hannes mach ich mich nich viel und so fein wie dazumal kann es doch nich wieder werden! O – und was tanzte er fein Galopp!“

Sie war samt ihrem Wagen im Sprühregen verschwunden und ich watete durch den tiefsten Schnee nach Hause, um dort den Brüdern zu sagen, daß das Tauwetter auch sein Gutes haben könnte. Aber sie rieten mir, den Mund zu halten, wenn ich es nicht mit ihnen verderben wollte.

[623] Am andern Morgen, als ich über die Straße ging, lief Marenz plötzlich hinter mir her.

„Hör, hörmal, ich muß Dich mal was fragen!“

Atemlos stellte sie sich vor mich hin und strich sich die Haare aus der Stirn.

„Weißt nich vielleich von ein Mann, der Geld, einen Berg Geld verloren hat? In Laden haben die Leute mal sowas gesnackt!“

„Gewiß weiß ich davon!“ nickte ich. „Herr Dorning hat einen Beutel mit achthundert Speziesthalern verloren und kein Mensch hat ihm das Geld wiedergebracht! Mitten im Schnee war es!“

Marenz seufzte.

„Achhunnert Thalers! Darum war’s auch so bannig swer! O, was’n Hümpel Geld!“

„Hast Du den Beutel gefunden?“ rief ich in großer Erregung und Marenz lachte.

„Nu, natürlicheweise! Als ich gestern von mein Brottour nach Hause gehen wollt, hab ich ein kleinen Umweg gemach! –“ Sie stockte ein wenig, ehe sie weiter sprach.

„Da is nämlich ein Swester von Johann Kühl, die dient bein Bauern in Rixdorf und ich wollt ihr gern mal sehen. Abers wie ich hinkam, so is da gerade Slachterei und sie hatt kein Zeit for mir, so daß ich man flinkemang mit mein klein Wagen nach Hause fuhr. Oltensch is gräsig, wenn ich mir verspäten thu, ganzen gräsig und so bin ich so snell ich konnte, den Weg lanker gefahren. Abers da hab ich den Graben nich gesehen, weil der Snee da über lag und mit einmal sack ich ein und mein Wagen sackt auch ein und ich stoß mein Bein an ganz was Hartes, was tief in Graben lieg! Na, als ich mir aufrappel, seh ich nach, was das Harte is, und da is es ein Beutel mit forchbar viel Geld ein! Oha – was’n Schreck! Kaum, daß ich ihm bören[3] und auf’n Wagen setzen konnt! Denn liegen lassen mocht ich ihm doch nich, weil daß ich gehört hatt, daß jemand ein Beutel mit was ein verloren hatt, und sowas is ja woll doch unangenehm! So bin ich denn mit ihn nach Hause gefahren und das alte Ding war swer genug auf’n Wagen, kann ich Dich sagen! Ich hab da orrentlich bei geswitzt, und nahstens wußt ich gar nich, wo ich ihm verwahren sollt, weil daß ich ja gar nich weiß, was die Leutens mit ihre Geldbeutels thun! Gieb ihn man den besten Platz, hab ich bei mich gedach und so hab ich ihm denn in mein Bett genommen und denn habe ich mir gräsig gegrault, weil daß ich ümmer an Diebens denken mußt, an die ich in meinen irdischen Leben noch niemalen gedach hab. Und was hab ich slecht geslafen! Du mein Heiland, was haben die Reichens es slecht! Uemmer, wo ich lag, wollt das alte Ding auch liegen, und wenn ich ihm anrührte, denn klirrt er, as wenn er über mir lachte. Er wußt woll, daß er inn verkehrten Bett lag. Was freut ich mir, as es Tag wurde! Kann ich ihm nich snell wieder loswerden?“

„Loswerden?“ wiederholte ich. „Willst Du das Geld nicht behalten?“

Sie sah mich entsetzt an.

„Was soll ich mit den Klimperkram? Meinst, daß ich noch einmal so slecht slafen will? Und denn gehört es mich ja, Gott sei Dank, nich!“

Jürgen und ich hatten abgemacht, wenn wir das Geld fänden, dann wollten wir es behalten und uns etwas Wunderbares dafür kaufen. Wir hatten uns schon auch darüber gezankt, denn unsere Ansichten über das Wunderbare gingen manchmal etwas auseinander. – –

[624] „Wo soll ich das alt Kram hinbringen?“ fragte Marenz ungeduldig, und ich fuhr aus meinen Gedanken auf.

„Bringe das Geld, wenn Du es wirklich nicht behalten willst, an Großvater. Der wird wohl davon Bescheid wissen!“

„Wo soll ich das hinbringen?“ Marenz ihre Augen öffneten sich weit vor Entsetzen. „Zun Herrn Jostizrat? Mit den soll ich snacken? Marenz, ausn Armenhause? Nee, mein Beste!“

„Aber Marenz, Großvater thut Dir nichts!“

„Das kannst leicht sagen! Dich thut er woll nix, abers mir, mir steckt er ins Loch, wenn ich mit einmal bei ihm ankomm! Oha – wenn ich man bloß das alt Klöterkram inn Graben gelassen hätt!“ Sie seufzte tief auf und ich wußte nicht, was ich sagen sollte.

„Ich glaube nicht, daß Du bestraft werden wirst!“ meinte ich endlich und Marenz schüttelte den Kopf.

„Das kann man allens nich wissen! Ins Armenhaus sagten sie auch immer: man nix mit die Pollerzei und sowas zu thun haben! Da kann man grasig bei anbacken, und kommst in Loch und weiß nich, wie man reingekommen is!“

Da aber kam mein Bruder Heinrich des Weges. Der war viel verständiger als ich, und als er erfahren hatte, um was es sich handelte, versicherte er, daß Marenz nicht ins Gefängnis käme, wenn sie das Geld gleich abliefere. Wenn sie aber den Beutel länger behielte, dann könnte sie wohl bestraft werden.

„Länger behalten? Ganzen gewiß nich!“ Marenz schüttelte sich. „Kein Wink Slaf in mein Augcns und denn hat mich das Ding auch noch gedrück – ich kann nich begreifen, wie die reichen Leutens slafen mögen!“

„Sei nur nicht ängstlich, Marenz!“ tröstete Heinrich sie.

„Geh heute nachmittag zu Großvater und bringe das Geld mit! Um fünf Uhr ist er im Kontor und vielleicht ist Herr Dorning auch da. Weil heute nämlich Donnerstag ist und die Herren in die Stadt kommen. Großvater thut Dir nichts – ich werde schon mit ihm sprechen!“

Marenz stöhnte. „Was’n Unglück! Was hab ich auch for’n Mallöhr! Is es denn ganzen gewiß, daß ich nich in Prisong komme?“

„Heute noch nicht!“ versicherte Heinrich. „Aber wenn Du bis morgen wartest –“

„Gott soll mir bewahren! Was war es gut, mein Heine, daß ich Dir getroffen hab! Was bist Du einmal klug! Na, denn will ich den Beutel heut hinfahren; abers Du sollst dabei sein, mein Heine, und ein gut Wort for mir einlegen!“

Heinrich versprach ihr seine Gegenwart mit sehr viel Würde, und um fünf Uhr nachmittags standen wir zwei vor der Thür des großelterlichen Hauses, denn auch ich hielt es für angemessen, dieses große Ereignis mit meiner Gegenwart zu verschönen.

Langsam kam Marenz mit ihrem Handwägelchen vor die Thür gefahren, und dann schleppten Heinrich und sie den schweren Beutel auf den erleuchteten Hausflur, wo er hingesetzt wurde.

„Nu Adjüs!“ murmelte Marenz, deren Gesicht blaß vor Angst war; Heinrich hielt sie aber am Rock fest.

„Nun man herein ins Kontor!“ rief er, und ehe Marenz sich viel wehren konnte, stand sie schon in der kleinen Schreibstube, in der Großvater saß. Er war nicht allein. Herr Dorning saß neben ihm und beide Herren sahen erstaunt auf, wie sich plötzlich drei Menschen unangemeldet zu ihnen hineindrängten. Einer besondern Erklärung bedurfte es übrigens nicht. Mühsam hatte Heinrich den schweren Beutel hinter sich hergezogen und im Kontor auf die Erde gestellt. Beim Klang des Silbers fuhr Herr Dorning in die Höhe und kniete bald vor seinem Eigentum. Er prüfte die Siegel, mit dem der Beutel geschlossen war, fühlte die schmutzige und feuchte Leinwand an und nickte äußerst zufrieden.

„Kuck mal an! Das is ja mein Geld! Das is nett!“

Marenz lehnte kreideweiß an der Thür und ihre Kniee schlotterten so, daß sie sich an mir festhielt. Die dunkle Schreibstube mit ihren Aktenbündeln mußte einen furchtbaren Eindruck auf sie machen. Ihr versagten denn auch die Worte und wir mußten erzählen, wie alles gekommen war. Daß wir eine sehr deutliche Darstellung der Thatsachen gaben, kann ich mir kaum denken; aber unser Großvater verstand uns doch. Er war auch der einzige, den die Geschichte interessierte; Herr Dorning hatte seinen Beutel geöffnet und zählte die Speziesthaler. Ihm schien es einerlei zu sein, wo sie gewesen waren.

Als Großvater alles begriffen hatte, nickte er Marenz freundlich zu. „Das hast Du gut gemacht! Du bist ein braves Mädchen!“

Die also Belobte sah sehr überrascht aus; aber das Zittern ihres Körpers ließ nach und die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück. Nun wandte Großvater sich zu Herrn Dorning, der noch immer an seinen Thalern zählte, und sagte ihm halblaut einige Worte.

Der Hofbesitzer fuhr etwas in die Höhe und faltete die Stirn.

„Nu ja, gewiß, gewiß, Herr Justizrat!“

Er grub mit seinen dicken Fingern erst in der linken, dann in der rechten Westentasche, holte endlich ein Geldstück heraus und überreichte es Marenz.

„Hier, mein Deern!“ sagte er mit einer gewissen eindrucksvollen Feierlichkeit. „Ueb immer Treu und Redlichkeit bis an Dein kühles Grab! Da hast auch ein Belohnung!“

Stumm und ergriffen drängten wir uns mit der Beschenkten wieder aus dem Kontor, und als wir auf dem Hausflur standen, schluchzte Marenz laut auf.

„Aber Marenz!“ riefen wir, „Du bist ja gut davongekommen, weshalb weinst Du nur?“

Sie kauerte sich auf die Treppe und ihr ganzer Körper bebte. Endlich fand sie wieder Worte.

„Nee doch! wie einmal schön! Was war es rührend und was war Herr Jostizrat süß! O, was’n Mann! Und hat kein einzig Mal von Loch gesprochen, wo ich doch so Angst vor hatte! Der Andere abers –“ sie schluchzte wieder etwas – „daß der mich auch gleich was von mein Grab sagen mußte! Gott o Gott! Kommp man da eher ein, wenn man Geld findet?“

„Sieh doch nach, was er Dir geschenkt hat!“ rief Heinrich ungeduldig und Marenz öffnete zögernd ihre bis dahin krampfhaft verschlossene Hand. Mein Bruder griff hastig nach dem Geldstückn das darin lag, und legte es dann langsam wieder an seinen Platz.

„Ein halber Bankthaler[4]!“ sagte er mit dem Ausdruck größter Enttäuschung. Darauf drehte er sich kurz um und verließ das Haus.

Marenz sah ihm erstaunt nach und trocknete allmählich ihre Thränen.

„Was is doch mit Heine los? Is er böse, weil daß ich weinte? Da kann ich doch nix vor, wenn die Leutens so gut gegen mir sind, wo ich das doch nich verdiene! Wo ich doch in Armenhaus groß geworden bin und es mich ümmer stecht gehen muß, wie mein Ohlsch, die Oltcnsch, sagt. – O – was sah er einmal geruhig und gesund aus!“

„Wer?“ fragte ich.

„Nu, der Mann mit all die Thalers! Mein Gott, wo kann man so gesund aussehen und auch noch rote Backens haben, wenn er jedwede Nach, die Gott giebt, auf seine Thalers passen muß! – Sonst abers ein netten Mann! Gieb mich orrentlich ein Geschenk!“

Sie besah sich den halben Thaler von allen Seiten und wurde immer heiterer.

„So viel Geld auf einmal! Da will ich mich abers was Feines for kaufen zum Andenken an den netten Mann. Bloß, daß er das mit das kühle Grab sagte, war ein büschen wehleidig! Ich mag noch nich sterben!“

„Nun kannst Du Dir ein Schultertuch kaufen, Marenz!“ meinte ich. Denn über den Wert des Geldes hatte ich bis jetzt nur unbestimmte Ahnungen.

Diese schüttelte den Kopf. „Ich glaub, das krieg ich nich dafor! In Februarmonat kann man sich auch nix Warmes mehr kaufen – da singen die Lerchens mannigmal schon! Nee – ich denk mich was Feines aus!“

Allmählich ging Marenz wieder nach Hause. Sie war äußerst vergnügt geworden und sagte noch öfters, daß sie nicht gedacht habe, Großvater könne so süß sein. Auf der dunklen Straße hörte ich sie dann noch singen.

Von den achthundert Speziesthalern, die Marenz Herrn Dorning wiedergebracht hatte, wurde in unserer Familie viel gesprochen. Was die Erwachsenen darüber sagten, erfuhr ich nicht recht; Heinrich aber drückte sich sehr verständlich aus. Er sagte, Herr Dorning habe sich ungemein schäbig benommen, und wenn er die achthundert Spezies gefunden hätte, dann würde er sie ihm einzeln an seinen dicken Kopf, und zwar immer an dieselbe Stelle, geworfen haben.

Jürgen erfand ein neues Spiel, das er „Herr Dorning“ nannte. Er versteckte einige Backpflaumen, die ihm geschenkt worden waren, und ich mußte sie suchen und ihm wieder bringen. Zur Belohnung [626] erhielt ich einen Pflaumenkern, und als ich in heller Entrüstung eine ganze Pflaume verlangte, sagte er:

„Ueb immer Treu und Redlichkeit, bis an Dein kühles Grab! Und magst Du nicht darüber sein, so saug an einem Pflaumenstein!“

Da weinte ich gerade so bittere Thränen, wie Marenz sie vergossen hatte. Aber ich wurde bald wieder heiter – wartete meiner doch ein sehr angenehmer Auftrag.

Die Großen waren plötzlich gegen Marenz freundlicher gesinnt geworden und ich durfte ihr ein Paket hinbringen, in dem sich nicht allein ein nettes Schultertuch, sondern auch eine fertige rosa Kattunjacke befand, wie sie bei uns die Dienstmädchen viel tragen.

An einem Sonnabendnachmittag, an dem, wie ich wußte, Marenz zu Hause war, erschien ich bei ihr mit meinen Gaben.

Sie war eben auf dem Boden des kleinen, winzigen Bäckerhauses und scheuerte die Fußdiele. Als ich ihr triumphierend mitteilte, weshalb ich gekommen sei, ließ sie den Scheuerbesen vor Ueberraschung fast hinfallen und sah wortlos, mit hochroten Wangen, zu, wie ich alles auspackte.

„Allens for mir?“ fragte sie immer wieder. „Warraftig for mir? Und ’ne rosa Kattunjack! Rosa!“

Sie hielt die Jacke so, daß das Licht der kleinen Lampe darauf fiel, und dann schüttelte sie wieder halb ungläubig den Kopf.

„Ein Jack, wie die ganzen feinen Dienstmädchens, die bei Herrschaftens dienen! Und was forn Tuch! Was giebt es doch for gute Menschens!“

„Du kannst die Jacke auch noch umtauschen, wenn Du etwas anderes dafür haben willst!“ bestellte ich, aber Marenz schüttelte den Kopf.

„Umtauschen! Was sollt ich sowas Prachvolles woll umtauschen! Vielen, vielen Dank!“

Sie scheuerte schon wieder eifrig; aber die Freudenthränen liefen ihr über das Gesicht.

„Was hast Du Dir denn für den halben Bankthaler gekauft?“ fragte ich; „oder hast Du ihn in Deinem Strumpf verwahrt?“

Sie wischte sich die Thränen aus den Augen und lachte.

„Nee – Geld in Bettstroh mag ich nich mehr haben – da släft man zu slecht von. Ich hab mich abers was gekauft –“ sie scheuerte mit strahlendem Gesicht weiter. „Willst ihm mal sehen?“

Sie stellte den Besen in die Ecke und drängte mich in ihr kleines Zimmer, wo sie von der Garderobe einen winzigen Käfig nahn: und mir hinhielt.

„Da is er ein! Js er nich nüdlich?“

Ein kleiner graugelber Kanarienvogel hüpfte in dem Käfig hin und her und sagte fortwährend Piep. Er sah struppig aus und hatte überhaupt etwas Fremdartiges an sich.

„Einen Swanz hat er nich!“ sagte Marenz entschuldigend. „Alle Vögelns brauchen ja auch keinen Swanz, und er kann da nix for, daß er sich den Swanz mal abgestoßen hat!“

„Singt er denn schön?“

„Singen?“ Marenz wurde rot. „Nu ja – denn und wenn sagt er Piep! O, was klingt das einmal süß! Alle Vögelns können ja auch nich singen, und wenn er singen könnte, hätt Sneider Lehmstuhl ihm auch nich fliegen lassen wollen. Der hat nämlich ein Vogelheck, und as ich da neulich Herr Olten sein Rock hinbringen that, sagt er gerade, er wollt diesen Kanalljenvogel fliegen lassen! Nu bei die Kälte und in Februarmonat! Er sagt, er hätt genug Weibchens – die fräßen so viel! Du lieber Gott, was kann so’n Vogel dafor, daß er ein Weibchen is und hungerig is! Herr Lehmstuhl, sag ich, schenken Sie mich den Vogel! Abers er sagt, verschenken thät er ihm nich – er hätt schon so viel Futter gekriegt! Nu, weil ich es war, hat er ihn mich billig gelassen, forn halben Bankthaler mit Bauer wo zwei Stöcke ein sind!“

„Aber das Bauer ist schrecklich klein!“ bemerkte ich und Marenz sah sehr nachdenklich aus.

„Wenn ich man bloß Geld hätt for’n neues Vogelbauer! Abers wenn ich nu in Maimonat mein Lohn krieg, denn muß ich den beinah allens zun Schuster bringen, wo ich so viel Toffeln brauche. Fünf Bankthalers krieg ich denn; abers weg geht es allens wieder!“ – Sie hatte den Käfig mit dem piependen Weibchen wieder fortgestellt und besah sich noch einmal die rosa Kattunjacke.

„Rosa Kattun!“ sagte sie zärtlich und dann fuhr sie liebkosend mit den Fingern über das Kleidungsstück.

„Sowas hab ich in meinen ganzen Leben nich gehab un wer mich das ins Armenhaus gesagt hätt, daß ich noch mal so’n Jack kriegen sollt, dem hätt ich ausgclach! Abers –“ sie schob die Jacke von sich und sah nach dem Vogelbauer. „Sie is zu fein for mir! Viel zu fein! Dein Mutter hat gesagt, ich durft ihr umtauschen – dürft’ ich da woll das Geld for kriegen?“

„Das Geld? Was willst Du mit dem Gelde anfangen?“ fragte ich, nicht gerade angenehm berührt.

Marenz war blaß geworden und man merkte, daß sie einen Kampf kämpfte, aber sie bezwang ihre zitternde Stimme.

„Ich mein, daß ich den kleinen Kanalljenvogel ein Bauer geben muß, wo er sich in umdrehen kann. Er is ja bloß ein Weibchen – abers Weibchens können auch fühlen! – Vielleich, daß er noch’n Swanz krieg, wenn er in ein großes Bauer springen kann! Meinst nich auch? Und’n Swanz is doch mehr wert wie’n Jack, nich?“

Glücklicherweise wußte ich, daß bei uns auf dem Boden ein altes Vogelbauer stand – das versprach ich an Marenz und sie schrie darauf so laut vor Freude, daß Frau Olten unten aufwachte und mit lautem Schelten die Bodentreppe erklomm. Ich versteckte mich hinter einem Balken und konnte später unbemerkt entkommen.

Marenz-bekam auch das Vogelbauer, obgleich mir bei dieser Gelegenheit bedeutet wurde, daß selbst die Sachen der Rumpelkammer nicht von mir verschenkt zu werden brauchten; aber das lustige Gesicht von Marenz stimmte selbst die Erwachsenen weich und das Weibchen ohne Schwanz wurde sogar in einer Gesellschaft besprochen.

Nun kam der März und mit ihm hin und wieder ein Frühjahrslüftchen. Die Sonne begann ganz kräftig zu scheinen und in den alten Kirchhofslinden saßen die Stare und schwatzten sehr lange und lustige Geschichten. Marenz kam an einem dieser Sonnentage zu uns, um sich bei meiner Mutter für die rosa Jacke zu bedanken. Wir Kinder saßen gerade auf der Treppe, die, ganz in der Nähe unseres Hauses, zum Kirchhof hinauf führte, und wir ließen uns von der warmen Sonne mit dem angenehmen Gefühl bescheinen, es werde nun Sommer. Zu gleicher Zeit hatten wir noch Muße genug, Herrn Dorning zu beobachten, der vor unserer Hausthür stand und sich ein paar dicke wollene Handschuhe anzog.

Er hatte etwas mit unserem Vater zu besprechen gehabt; nun blinzelte er zu uns herüber und rief einige Scherzworte, die wir natürlich beantworteten. Plötzlich schwieg er still und blickte zu Marenz hin, die von der Stadtscitc herangegangen kam. Sie hatte entschieden auch gedacht, es sei Sommer – denn sie trug nur den braunen Rock mit der rosa Kattunjacke, und der helle Sonnenschein stand ihr sehr gut.

Ihre Haare glänzten goldig, ihre Augen blitzten, und die ganze zierliche Gestalt hatte selbst für unsere Kinderaugen etwas Anziehendes.

Jürgen und ich standen auf und gingen ihr entgegen.

„Du siehst gar nicht aus wie die braune Marenz!“ bemerkte mein Bruder. „Nun sollst Du die rosa Marenz heißen!“

Sie sah ihn freundlich an.

„Laß mir man die braune Marenz bleiben! In mein braunen Kleid bin ich so lustig, wo ich nu den süßen Vogel hab und das feine Bauer!“

Herr Dorning hatte starr auf Marenz geblickt; jetzt kam er hastig auf sie zu.

„Was bist Du for ein?“ fragte er im befehlenden Tone des reichen Mannes, Marenz aber antwortete nicht und sah verlegen zur Seite.

„Kennst Du Marenz nicht mehr, Herr Dorning?“ fragte Jürgen. „Sie hat doch Deine achthundert Speziesthaler gefunden und Dir alles ehrlich wiedergebracht. Du schenktest ihr einen halben Bankthaler; weißt Du das nicht mehr, Herr Dorning?“

Der Hofbesitzer schien ein schlechtes Gedächtnis zu haben. Er Wurde nur etwas röter als er schon war, und murmelte einige verdrießliche Worte vor sich hin. Dann aber griff er erst in die eine, darauf in die andere Westentasche, holte ein Geldstück hervor, besah es, seufzte, steckte es wieder weg und behielt die Finger dann halb unschlüssig in der kleinen Tasche.

Marenz hatte seine Bewegungen nicht bemerkt. Sie hatte die Augen gar nicht aufgeschlagen und zupfte an ihrer weißen Schürze. „Ich bedank mir auch noch vielmals for das schöne Geschenk!“ stotterte sie. „So viel Geld – ich hab mir da gräsig über gefreut, wenn ich mir damals auch nicht bedankte. Abers –“ sie stockte und Herr Dorning zog das Geldstück wieder aus der Westentasche.

[627] „Hier is ein ganzen Thaler!“ sagte er würdevoll. „Gut, daß Du Dir noch bedanken magst! Heutzutage kann man lange gehen und auf Dank warten; da freut es mir, wenn Du weißt, daß Du mich Dank schuldest! Wo bist Du in Dienst?“

Aber Marenz war so sprachlos über das ihr in die Hand geschobene Geld, daß sie alles Antworten Jürgen und mir überließ. Erst, nachdem Herr Dorning Abschied genommen hatte, wobei er ihr ein wenig die Wangen streichelte, fand sie die Worte wieder. „Was’n Mann!“ rief sie bewundernd. „O, was’n Mann! Mich gleich noch ein Thaler zu geben, wo ich doch nix for ihm that!“

Dann schlug sie die Hände zusammen.

„Kinners, nu kann ich Ostermontag zu Ball! Mit Johann Kühl! Zweimal hatt er mir all eingeladen und ich konnt nich, weil daß meine Schuhens kaput waren! Nu kann ich mich neue kaufen!“

„Geht Hannes denn auch auf den Ball?“ fragten wir und Marenz zuckte die Achseln.

„Das kann woll sein! Mich is das einerlei – is er abers da, denn tanz ich mit ihn Galopp!“

Sie wiegte ihren schlanken Körper hin und her, während sie sprach.

„Magst Du Johann Kühl oder Hannes am liebsten leiden?“ fragte Jürgen, und Marenz wurde rot.

„Ach Kinners, da versteht Ihr doch nix von!“ rief sie eilfertig.

„Hannes hat eine silberne Uhr!“ bemerkte ich.

„Und er tanzt Galopp!“ setzte Jürgen hinzu, der Hannes sehr gern leiden mochte. Aber Marenz lachte nur.

„Ostermontag geh ich zu Ball mit ein Paar neue Schuhens!“ rief sie fröhlich; dann verschwand sie in unserer Hausthür, während wir draußen blieben und „Bankthaler“ spielten. Denn der schwere Abschied, den Herr Dorning von seinem Bankthaler genommen, hatte uns mit Wonne erfüllt.

Es blieb wirklich einige Zeit gutes Wetter, was in unserem Klima eine Merkwürdigkeit ist. Wir trieben uns daher viel im Freien herum, suchten Veilchen, beobachteten Vogelnester und hatten so manches zu thun, daß wir nicht viel an Marenz denken konnten.

Wir sahen sie auch wenig. Nur einmal, als ich Zwieback bei Olten kaufte, stand sie hinter dem Ladentisch und bediente. Aber sie konnte nicht mit mir sprechen, weil Herr Dorning im Laden war, der eifrig auf sie einredete. Was er sagte, konnte ich nicht hören; es war mir auch einerlei, ich lief sehr bald wieder fort und dachte nicht mehr an Herrn Dorning. Später holte Jürgen einmal etwas im Oltenschen Laden. Da war Herr Dorning auch dort gewesen. Er hatte aber nicht mit Marenz, sondern mit Frau Olten gesprochen, die einen Knix nach dem andern gemacht hätte. Früher war Herr Dorning niemals bei Oltens gewesen, wenigstens hatten wir es nicht gesehen; aber wir machten aus, daß das Brot von Bäcker Olten ihm wohl gut schmecke.

Einmal, als wir an einem windigen Frühlingstage am Hafen waren, sahen wir Johann Kühl. Er stand ans Bollwerk gelehnt und sah mit ernsthaften Augen in die Ferne. Er sah stattlich aus in seinem blauen Seemannsanzug und wir begrüßten ihn freundlich.

„Kannst Du eigentlich so gut Galopp tanzen, wie Hannes?“ fragte ich ihn und er sah mich finster an.

„Nee!“ sagte er dann; „so gut wie Hannes kann ich nich tanzen! Abers darum –“ er stockte plötzlich und murmelte nach einer Weile ein Wort, das wie „verdammter Jung!“ klang.

„Magst Du Hannes Bergmann nicht leiden?“ fragten wir. „Marenz mag ihn sonst gern; sie sagt, er tanze so schön Galopp!“

„Denn kann sie ihn ja heiraten und mit ihn Galopp durchs Leben tanzen!“ lautete die höhnische Antwort.

Ich war überrascht. Erstens deswegen, weil ich Johann Kühl noch niemals so böse gesehen hatte, und dann, weil ich doch auch dachte, daß man sich im Ehestande mit etwas anderm als Galopptanzen beschäftigen könne.

„Sie darf auch Hannes seine Uhr aufziehen und nach ihr sehen!“ berichtete ich weiter.

„Nu kuck mal an!“ rief Johann. „Denn kriegt sie ja das reine Paradies auf Erden!“

Wir hatten Johann noch niemals so unterhaltend gefunden und wir beschlossen, noch etwas länger mit ihm zu sprechen. Daher setzten wir uns auf ein umgestürztes Boot, das in seiner Nähe lag, und fragten ihn nach allen möglichen Dingen. Er antwortete aber schlecht und sah dabei so mürrisch aus, daß wir uns sehr über ihn wunderten.

„Hast Du eigentlich Ostermontag getanzt?“ fragte Jürgen und Johann nickte.

„Ging es gut mit Marenz zu tanzen?“ fragten wir weiter und der junge Seemann blickte finster nach dem blauen Festlande in der Ferne.

„Ich bin hingeslagen mit sie!“ sagte er plötzlich. „Mitten in Saal – alle haben mir ausgelacht!“ setzte er nach einer Pause hinzu und seine sonst so verschleierten Augen blitzten zornig.

„Mit Marenz bist Du hingefallen? Hatte sie denn nicht die neuen Schuhe von Herrn Dorning an?“ fragte Jürgen, und Johann richtete sich ein wenig höher auf.

„Die neuen Schuhens von Herr Dorning? Is das der dicke alte Kerl, der da ümmer bei Oltens herumlungert? Und von den läßt sie sich was schenken? Is sie all so weit? Na – denn –“ er murmelte einige unverständliche Worte und ging mit langen Schritten davon. Auf diese Weise erfuhren wir gar nicht, wie Johann Kühl es gemacht hatte, mit Marenz hinzuschlagen, was, wie wir sehr gut wußten, ein Beweis davon war, daß er nicht tanzen konnte. Wir nahmen uns vor, Marenz nach den Einzelheiten dieser traurigen Begebenheit zu fragen, aber wir sahen sie lange nicht.

Und dann, es war wohl im Mai, – kam Heinrich sehr erregt aus der Schule.

„Denkt Euch, es passiert etwas Merkwürdiges! Herr Dorning will die braune Marenz heiraten! Sie hat noch nicht Ja gesagt, aber Christoph Olten sagte, seine Mutter würde sie schon dazu kriegen. Gestern hat Frau Olten sie bereits eingesperrt und sie hat nichts zu essen bekommen, weil sie Dorning keinen Kuß geben wollte. Heute soll sie hungern, wenn sie sich nicht verloben will!“

Das war wirklich eine Neuigkeit, und die Erwachsenen, regten sich mehr über sie auf als wir Kleinen. Mit fliegender Eile hatte sich das Gerücht von Herrn Dornings Werbung um Marenz in der ganzen Stadt verbreitet und der Bäckerladen wurde nicht leer von Leuten, die „Stuten“ und „Maulschellen“ kaufen und dabei sich die glückliche Braut ansehen wollten. Aber die war nirgends zu sehen und wer nach ihr fragte, der erhielt von Frau Olten die mürrische Antwort, Marenz sei ein dummes Ding und gar nicht wert, daß man nach ihr früge!

Wir Kinder sprachen eifrig über diese Geschichte und jeder hatte seine besonderen Ansichten darüber. Besonders darüber, ob man lieber hungern oder Herrn Dorning einen Kuß geben wollte.

Wir waren für das letztere – denn hungern mochten wir nicht, aber da wir auch Schularbeiten zu machen hatten, so konnten wir nicht immer über solche Sachen nachdenken.

[639] Am folgenden Nachmittage kamen Milo und ich aus der Privatstunde, in der wir nachgesessen hatten. Das kam daher, weil wir uns gänzlich in der Zeit versehen hatten und eine halbe Stunde zu spät gekommen waren. Eine Viertelstunde ließ Herr Sörensen uns immer hingehen, weil er unsre leichtsinnigen Neigungen, jedem fliegenden Vogel nachzusehen und bei der Gelegenheit lange stehen zu bleiben, kannte. Aber eine halbe Stunde Verspätung mußte er bestrafen und alle Entschuldigungen halfen uns nichts.

Das Nachsitzen war aber für uns eine Folter, und als wir die dumpfige Schulstube verlassen hatten, waren wir in etwas gereizter Stimmung. Ich sagte, Milo sei schuld daran, daß wir zu spät gekommen seien, und Milo behauptete, wenn ich nicht den Schmetterling auf Frau Dornings Grab betrachtet hätte, dann würde er die Zeit nicht verpaßt haben.

„Aber ich wollte doch sehen, ob der Schmetterling wie Marenz aussähe!“ verteidigte ich mich. „Die Leute sagen, sie würde jetzt auch so fein werden wie ein Schmetterling, wo sie vorher eine braune –“

„Ach was!“ unterbrach Milo mich. „Sieh mal, da fliegen zwei Störche!“

Darauf stellten wir uns hin und sangen:

„Adebahr, Du goder, bring uns en lütten Broder.
Adebahr, Du bester, bring uns ne lütte Swester.“

Und darauf wurden wir wieder sehr vergnügt, obgleich wir gar keinen Grund zur Freude hatten. Denn wenn man nachgesessen hat, muß man doch eigentlich wenigstens eine Stunde hinterher traurig sein.

Aber das Wetter war so schön, und da es auch noch früh am Nachmittage war, so lag die Welt mit ihren Freuden im Sonnenschein vor uns. Der Weg führte hinter der Straße, an einigen Gärten und Wiesen entlang. Verwöhnte Leute, die aus großen Städten kamen, fanden nicht viel an diesem Wege, der bei uns „hintenum“ hieß – aber für uns bot er viel Sehenswertes.

Da waren zwei kleine Gewässer, die uns viel Spaß machten. Das eine lag etwas zurück und sein Wasser war dunkelblau. Hier spülte der Färber Weiß seine Wollsachen, die alle indigoblau waren, und er selbst war auch schon ganz blau geworden. Wir fragten ihn einmal, weshalb er Weiß hieße und nicht Blau – da spritzte er uns mit dem blauen Wasser und wir liefen jubelnd davon.

Das zweite Wasser lag hart am Wege und seine Farbe war grau, manchmal sogar schwarz, besonders dort, wo die Bäume standen, die den Teich an drei Seiten einfaßten. Hier hielten sich häufig einige Waschfrauen auf, die ihr Zeug spülten und an einem festen Tische klopften. Sie sprachen viel bei dieser Beschäftigung und es war manchmal ganz interessant, ihnen zuzuhören. Aber sie jagten uns wohl fort; oder sie erzählten uns von einem Gespenst, das hier am späten Abend auf dem Tische sitzen und schreien sollte. Abends gingen wir nun grundsätzlich nicht „hintenum“, aber am hellen Tage sahen wir auch manchmal nach dem Gespenst aus, weil wir fest glaubten, uns im Sonnenscheine nicht zu fürchten. Wir haben es leider niemals gesehen.

Milo meinte aber an diesem Nachmittage, seinen Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen. Als wir uns dem kleinen Waschtümpel näherten, faßte er meinen Arm und flüsterte eifrig: „Dort sitzt das Gespenst!“

Aber er irrte sich. Es war die braune Marenz, die auf dem großen Waschtische saß und starr in das dunkle Wasser blickte. Sie bemerkte uns gar nicht, sondern knöpfte wie mechanisch ihre rosa Kattunjacke auf und zu. Der Schatten eines großen Baumes fiel auf sie und wir konnten ihr Gesicht nicht ordentlich sehen – aber wir bemerkten doch, daß sie ganz sonderbar aussah.

„Guten Tag, Marenz!“ riefen wir. „Willst Du hier waschen?“

Sie fuhr ein wenig zusammen und sah uns verstört an.

„O – Kinners, seid Ihr das? Geht man nach Hause!“

Ihre Stimme klang müde und sie knöpfte wieder an der Jacke.

Einen Augenblick betrachteten wir sie zweifelnd. Sie sah so anders aus wie sonst, sie lachte nicht und ihre Augen lachten auch nicht. Dann liefen wir die Stufen hinunter, die zum Teiche führten und setzten uns neben sie auf den Tisch.

„Magst Du hier gern sitzen?“ fragte ich. „Hier spökelt es, und ein Geist läuft hier manchmal herum, ein furchtbarer Geist!“

„Das ist eine Waschfrau, die hier ins Wasser gesprungen ist, weil sie – weil sie –“ Milo, der diese Worte gesprochen hatte, gab mir einen Puff, daß ich beinahe auch ins Wasser plumpste. „Sag doch schnell, weshalb sie ins Wasser gegangen ist!“

Aber ich wußte es leider nicht mehr.

„Ich glaube, sie hatte gestohlen!“ sagte ich aufs Geratewohl und Milo lachte verächtlich.

„Dummes Zeug, es war ganz etwas anderes! Nun weiß ich es, ihr Bräutigam war weggelaufen!“

„Und nun spökelt sie!“ ergänzte ich.

Marenz hatte bis dahin kein Wort gesagt – nun wandte sie mir ihr blasses Gesicht zu.

„Ich mag abers nich spökeln!“ sagte sie mit einem leisen Schauder.

„Nein!“ – ich dachte einen Augenblick nach. „Weißt Du, wenn ich ein Geist wäre, würde ich immer nur am Tage spökeln – das muß lustig sein. O – ich würde die Leute schon erschrecken! Aber des Nachts möchte ich nicht spökeln!“

„Ein Geist muß aber gerade des Nachts spökeln,“ rief Milo. „Das ist gerade seine Strafe, nicht wahr, Marenz, wenn die Waschfrau sich hier ertränkt hat, dann muß sie auch bestraft werden. Am Tage zu spökeln ist keine Strafe – das ist ein Vergnügen, nicht wahr, Marenz?“

Aber Marenz antwortete nicht. Sie strich sich die blonden Haare aus der Stirn und sah schweigend vor sich hin.

Und wir beide sprachen noch eine Zeit lang über die Gespenster, die in der Stadt umgehen sollten. Marenz saß dabei und äußerte gar keine Ansicht, was uns einigermaßen erstaunte, [640] weil sie sonst so viel sprechen konnte. Und als wir ihr von einem Geist erzählten, der auf den Händen gehen sollte und von verschiedenen Menschen gesehen worden war, da schlug sie gar nicht die Hände über dem Kopf zusammen, wie das sonst ihre Gewohnheit war, sondern sie sah immer wieder in das häßliche Wasser.

„Du hörst gar nicht zu, wenn wir Dir etwas erzählen!“ bemerkte Milo jetzt etwas empfindlich. „Was hast Du nur? Und weshalb knöpfst Du Deine Jacke immer auf und zu? Willst Du Dich ausziehen? Das thut man doch sonst nur in seiner Schlafstube.“

„Ja, ich wollte mir ausziehen!“ murmelte Marenz. „Die Jacke is mich denn doch zu schade!“

„Wofür? Sie ist ziemlich schmutzig, finde ich. Wofür ist sie zu schade? Mag Herr Dorning sie nicht leiden?“

Das Mädchen war plötzlich zusammengefahren.

„Herr Dorning –“ wiederholte sie und ihre weißen Zähne gruben sich in die Unterlippe. „Ich wollt, was ich tot wär!“ murmelte sie nach einer Weile.

Wir betrachteten sie wieder.

„Sag mal, Marenz – magst Du ihm wirklich keinen Kuß geben, und ist es wahr, daß Du hungern mußt, wenn Du das nicht willst? Ich möchte aber nicht hungern!“

Ich hatte gesprochen und die Gefragte wandte plötzlich den Kopf nach mir, während sie mich bis dahin gar nicht angesehen hatte.

„Was die Leute nich allens wissen!“ sagte sie finster. „Nu weiß so’n Kind wie Du das all, was bei uns ins Haus passiert! Ja, was die ohlsch Oltem is, die kann ja den Mund nich halten! – Was will er von mich?“ rief sie plötzlich wild auf. Ich hab ihn nix gethan – nich das Allergeringste! Was kann ich dafor, daß ich sein Geld finde und er mir nachher wiedersieht! Darum brauch ich ihm doch nich zu nehmen und Frau Olten braucht mir nich zu slagen und einzusperren und mich kein Essen zu gönnen, bloß, weil ich ihm nich will! Was soll ich mit ihn? Wenn er jedwede Nach auf seine Thalers liegen und slafen kann, denn is es ja gut – ich kann es nich! Ich will mein Slaf nich hergeben, mein Slaf und mein Frieden bloß um ein Berg Thalers zu haben, Oltensch sagt, weil ich aus’n Armenhaus komm, sollt ich mir bedanken, daß mir so’n Glück geboten wird. Du lieber Gott! Will ich nich zehnmal lieber ins Wasser – ins Armenhaus gehen, as – –“ sie schauderte wieder zusammen und wir hörten ihr zu mit der ganzen Andacht von Kindern, die etwas vernehmen, von dem sie nur die Hälfte verstehen.

„Du willst Herrn Dorning also nicht heiraten?“ fragte ich weiter – „dann heirate doch Johann Kühl –“

Milo unterbrach mich. „Ach nein, der war neulich böse auf Marenz! Weißt Du nicht mehr? Er war mit ihr hingefallen!“

„Das hat er Euch verzählt?“ Marenz schien Herrn Dorning zu vergessen und wurde ganz rot. „Ja, da konnte ich doch nix bei thun, wo er mir mit einmal wegrutschte! Denn tanzen kann er nich besonders. Abers darum –“ sie seufzte – „darum is er doch gut – so gut! Abers er will nu doch nix mehr von mich wissen, wo Oltensch das so gut for mir besorgt hat!“

Sie lachte ein wenig bitter und sah darauf träumend in den Himmel.

„Vorgestern und den Tag vorher is er zweimal an unsern Laden vorübergegangen und hat ümmer in Fenster eingekuckt, weil daß er mir doch gewiß sprechen und fragen wollt, ob das wahr wär, was die Leutens von mich verzählen. Abers ich durfte nich aus die Thür gehen – Oltensch paßte auf mir und is nich mal zum Slafen gegangen. Und ich hat so’n Sehnsucht, ein klein Wort mit Johann zu snacken. Wo ich ihm doch sagen wollt, daß ich den alten Kerl nich haben mag und auch nich mag, daß Oltensch mannichmal so gräsig freundlich mit mich is. Ich soll denn patuh mit sie in ihr beste Stube sitzen, wo all die gehäkelten Deckens liegen, und denn verzählt sie mich, was ich mich allens kaufen kann, wenn ich Dorning sein Frau bin! Abers das will ich nich werden – nie und nimmer, und Johann muß das auch von mich glauben, daß ich an sowas nich denk! Abers sagen wollt ich ihn das doch gern mal, weil daß alle Mannsleutens mannichmal so verdreht sind uud Slechtes von einen denken. Wie er nu gestern abend wieder an uns’ Hausthür vorbeigeht und die Ohlsch gerade nich bei die Hand is, lauf ich eilends hinaus und ruf: ‚Johann Johann, komm flink mal her!‘ Er kommp denn auch snell an; wie ich aber gerad den Mund aufthun will, da faßt mich ein an die Schulter und schieb mir weg. Da is das Oltensch, und sie stellt sich in Hausthür und schreit ganz laut: ‚Ja Johann, komm man mal her und kuck Dich den reichen Herrn Dorning sein Braut an! O – was is sie einmal glücklich und was haben die beiden sich einmal lieb! Willst auch zu Hochzeit, Johann, denn will ich Dich woll ne Einladung besorgen!‘ Abersten Johann hört ihr gar nich mehr, der hat sich auf die Hackens rumgedreht und is fortgegangen. Nich einmal hat er sich umgesehen. Nich einmal!“

Marenz atmete tief auf und preßte die Hände zusammen.

Wir saßen ganz still, und weil sie so traurig aussah, so hatten wir viel Mitleid mit ihr.

„Wenn Du Johann morgen wieder siehst, dann kannst Du ihn vielleicht sprechen!“ tröstete ich sie, aber sie lächelte sonderbar.

„Morgen? Weiß Du, wo ich morgen bin?“ Wieder blickte sie in das trübe Wasser, über das gerade ein kurzer Windstoß fuhr.

„Was soll ich noch auf diese Welt?“ murmelte sie halb für sich. „Johann mag mir nich mehr leiden und Oltensch quält mir vielleich so lang, bis ich es nich mehr aushalten kann und den alten dicken Mann noch nehme! Mit all die harten Thalerns, an die man sich ümmer stoßen thut!“ Sie schüttelte sich. „Abers jeden und jeden Tag Prügels und slechte Worte und denn kein ein, der sich um mir kümmert! Und wenn ich ihm nehm, denn sterb ich sowieso – da kann ich ja –“

„Wenn Du Herrn Dornings Frau wirst, dann kannst Du jeden Sonntag in der Kirche schlafen!“ bemerkte Milo. „Da brauchst Du nicht auf Speziesthalern zu sitzen – da sind bloß Holzbänke!“

„In Kirche?“ Marenz blickte unwillkürlich nach dem großen Kirchturm, der hoch in den blauen Himmel ragte und den man von unserem Platze so gut sehen konnte. Die Dohlen umkreisten ihn schreiend. Sie hatten ihre Nester unter dem Kupferdache und sie dachten wahrscheinlich, der Turm stände ihretwegen da.

„Ich bin gern in Kirche gegangen,“ sagte Marenz nachdenklich. „Uemmer hatt ich nich Zeit. Abers wenn ich Zeit hatt, denn war es schön, bannig schön. Die Predigt und das Singen und Allens!“

Sie seufzte tief auf und Milo nickte.

„Ich mag das Singen am liebsten. Und weißt Du, was ich auch gern möchte? Mit den andern Jungen zu singen, wenn jemand begraben wird! Das ist wunderhübsch! Aber ich bin noch zu klein dazu – ich darf noch nicht mitsingen!“

„Wenn jemand begraben wird!“ Marenz sprach die Worte unwillkürlich nach und dann sah sie wieder in das Wasser.

„Ich weiß nich, was ich soll!“ murmelte sie. „Kein Mensch hilft mir – kein ein, und wenn ich ihm heirate, denn werd ich elend, ganzen elend!“

Sie brach plötzlich in Thränen aus, und wir hatten sehr viel Mitleid mit ihr, obgleich wir ihren Kummer nicht verstanden. Aber wenn erwachsene Leute weinten, wurden wir immer gerührt und Milo rieb bereits an seinen Augen, während ich ein unangenehmes Gefühl im Halse fühlte.

„Weine doch nicht so,“ bat ich kläglich. „Es geht alles wieder über, sagte Herr Sörensen, als wir vorhin auch so weinten. – Sieh mal, fliegt da nicht Dein Kanarienvogel?“

Ein gelber Vogel war nämlich eben an uns vorbeigeschlüpft. Marenz schüttelte den Kopf, aber sie trocknete doch ihre Thränen.

„Der is in sein Bauer in meine Stube! O -“ sie fuhr in die Höhe. „Ich hab ihm gestern und heute gar kein Wasser gegeben, ich hab da nich an gedach! O, was bin ich slecht! Nu muß er am Ende sterben und allens kommp von den alten gräsigen Kerl den Dorning! Ich wollt, daß der hier im Wasser läge!“

Und sie ballte beide Hände mit zorniger Gebärde. Dann stand sie auf und strich sich die Haare aus der Stirn.

„Mein klein Tier soll nich verdursten! Is blos ein Weibchen und hat kein Swanz – abers Weibchens haben auch Gefühl! Adjüs ok, Kinners!“

Sie faßte uns beide an der Hand und sah uns mit seltsamem Blick an.

„Adieu, Marenz!“ sagten wir. „Es war sehr nett, mit Dir hier zu sitzen!“ setzte ich hinzu, und Milo meinte: „Ein andermal mußt Du aber nicht so weinen!“

Sie lachte kurz auf und ging davon, während wir uns nach der entgegengesetzten Richtung wandten.

[642] Unser Heimweg führte über den Kirchhof und da die Sonne noch hoch stand, so beschlossen wir, einmal nach einem Vogelneste zu sehen, daß sich in der Mauer am unteren Ende des Gottesackers befand. Als wir eilfertig den Weg hinabliefen, rannten wir beinahe einen Mann um, der gemächlich vor uns herschritt und einen Kranz aus Buchsbanm trug.

„Kinners, Kinners!“ schalt er verdrießlich, „habt Ihr denn kein Augen im Kopf?“

Aber er schalt zu spät. Wir waren doch gegen ihn angeprallt und hatten ihm den lässig angefaßten Kranz aus der Hand gestoßen. Nun sammelten wir ihn wieder auf und murmelten eine flüchtige Entschuldigung; aber damit war er nicht zufrieden.

„Was’n Manier!“ schalt er. „So auf’n Kirchhof zu spengtakolieren, wo man still und bescheiden gehen muß!“

Es war Herr Dorning, der uns diese strenge Ermahnung gab, und an Anbetracht seiner Speziesthaler, die auch uns Kindern Achwng abnötigten, standen wir bescheiden still und hörten ihm andächtig zu.

„Ich kann Dir ja den Kranz tragen!“ meinte Milo und Herr Dorning wurde etwas weniger ungnädig.

„Nn, for meinswegen! So’n Buchsbaum is auch ümmer klebrig – ich mag das Kram nich in Hand haben. Abers weil heut ihr Geburtstag is –“

„Wo soll der Kranz hin?“ fragte Milo.

Der Gefragte deutete zögernd und unwirsch auf das Grab seiner Frau.

„Nu natürlich, dorten, wo das hohe Kreuz steht! So’n Kreuz is hier nich auf’n ganzen Kirchhof! Fünfhunnert Bankthalers und denn das Gitter! Smiedeeisen!“

Er war wieder ganz vergnügt geworden und er klimperte mit einigen Thalern in der Tasche.

„Was kuckst mir an?“ fuhr er mich plötzlich an. Wahrscheinlich war ihm mein unverwandtes Anstarren nicht gerade angenehm.

„Ich dachte an den Schmetterling!“ sagte ich etwas bestürzt. „Du weißt, der Schmetterling auf dem Kreuz. War Deine erste Frau ein Schmetterling?“

Er lachte. „Nee, das nu gerade nich – abers –“

„Soll der Schmetterling denn Marenz vorstellen?“ unterbrach ich ihn eifrig, während er plötzlich stehen blieb und dröhnend auflachte.

„Das is drollig! Was’n Gedanke! Und was weiß so’n Ding wie Du von Marenz! Da bist zu dumm zu!“

Diese letztere Bemerkung reizte mich.

„Ich bin nicht dumm!“ sagte ich trotzig. „Du willst Marenz ja heiraten, das weiß ich ganz gut!“

„Nu natürlich, das kannst auch gern wissen!“ Dorning hatte beide Hände in die Hosentaschen gesteckt und lachte noch immer. „Heiraten is’n ehrliche Sache und wenn ich so’n armes Ding glücklich machen will, denn kann kein Christenmensch da was gegen sagen. Sollst mal sehen, was Marenz lustig wird, wenn sie erst bei mich auf mein feine Stelle wohnt!“

„Heute weinte sie!“ bemerkte Milo, der bis dahin geschwiegen hatte. Dorning zuckte die Achseln.

„Deerns heulen ümmer,“ bemerkte er dann gleichmütig. „Nu laß uns man weiter gehen!“

Aber er blieb doch stehen, weil ihm ein plötzlicher Gedanke kam.

„Seid Ihr denn bei Marenz gewesen?“

Wir verneinten.

„Da unten saß Marenz und weinte. Unten am Wasser, wo die Frauen immer waschen!“

Er runzelte die Stirn.

„Dumme Deern! Wo kann sie heulen wenn ich ihr doch bald heiraten thu! So’n Glück wie sie hat! Und denn weint sie? Ich will ihr kriegen!“

Er sah so finster aus, daß ich beinahe Angst vor ihm hatte nnd Milo anstieß, um gemeinsam fortzulaufen, aber Herr Dorning hielt mich plötzlich am Arme fest.

„Nee, da is nix von Weglaufen!“ sagte er, „Du sollst for mir nach Oltens gehen und sagen, daß sie auf Marenz passen! Sie soll nich wieder hier irgendwo rumsitzen und weinen! Das will ich nich! Hast mir verstanden? Da bringt sie mir ja in Snackerei, wo sie doch so’n banniges Glück hat. Ich hätt kein Zeit mehr, heut zu kommen, und Frau Olten sollt man auf ihr passen! Nu geh!“

Aber ich schüttelte den Kopf. „Ich gehe nicht zu Frau Olten; die mag ich nicht leiden. Die schlägt Marenz!“

„Dummheit!“ brummte er. „Und Du bist erst rech dumm!“

Das war das zweite Mal, daß er mir Dummheit vorwarf, und ich wurde sehr beleidigt.

„Marenz mag Dich auch nicht leiden!“ rief ich heftig. „Die will Dich gar nicht heiraten! Sie mag Johann viel lieber; aber Frau Olten ist schlecht gegen Johann gewesen, obgleich der viel netter ist als Du!“

Milo nickte. „Ja, der ist netter,“ meinte er. „Das finde ich auch. Der ist lange nicht so dick wie Du und denn auch wohl jünger!“

„Viel jünger, natürlich!“ wiederholte ich. „Marenz hat auch so geweint!“

„Ja, die arme Marenz!“ sagte Milo und Herr Dorning stand ganz unbeweglich und sah bald Milo, bald mich an. Dann räusperte er sich und schüttelte den Kopf.

„Herr Du meines Lebens! Was seid Ihr for unartige Kinners! Sowas is mich in mein ganzen Leben nich vorgekommen! Na, wenn ich Euern Vater mal zu sehn kriege, den will ich was verzählen. Sowas von Lügen! O du meine Zeit!“

Seine letzten Worte regten uns sehr auf. Wir waren zur unbedingten Wahrhaftigkeit erzogen und jede Lüge, wenn sie einmal vorkam, wurde sehr bestraft. Nun wollte Herr Dorning unserem Vater sagen, daß wir lögen, wo wir doch die Wahrheit gesprwchen hatten.

„Wir lügen nicht!“ riefen wir beide.

„Marenz hat geweint!“ wiederholte Milo und ich setzte in höchster, ohnmächtiger Erregung hinzu:

„Ich wollte, daß Du im Wasser lägest, wie Marenz es möchte!“

Nach dieser Aeußermng wandte ich mich kurz ab, um davonzulaufen Herr Dorning hatte mich aber wieder am Arm gefaßt und ließ nicht los.

„Was hat Marenz gesagt? Sie will, daß ich in Wasser liege? Will sie an mein Leben?“

Er war ganz blaß geworden.

„Sie sagte, ich wollte, der alte gräsige Kerl läge hier im Wasser!“ wiederholte ich in dem angenehmen Gefühl, mit meinen Worten Eindruck zu machen.

In seiner Empörung ließ er mich jetzt los und fuhr mit der Hand über sein breites Gesicht.

„Du mein Heiland! Den alt gräsigen Kerl hat sie gesagt? Von mich? Von Krischan Detlef Dorning, vor den alle Leutens den Hut abnehmen? Und in Wasser will sie mir haben, wo gerade in Wochenblatt ein Geschichte steht, daß ein Frau ihren Mann totgeslagen hat? Da sollt ich mir in Gefahr begeben? Ich? Wo gerade die Saat auf meine Felders so gut steht und ich mich neue Starkens[5] gekauft habe, und ich mir so auf die Ernte freue! Der alt gräsige Kerl! Und Oltensch lügt mich ümmer was vor! Die sagt jedweden Tag, sie kommp sich, sie thut man so, sie schaniert sich, sie kann es nich aushalten vor Liebe! Denn will sie mir in Wasser smeißen! Was’n Segen, daß ich mir noch nich fesgemacht hab, wo ich noch ne Pattie in Holstein in Aussicht hab! Mit Geld und allens – bloß daß sie nich mehr jung is und Marenz vielleich ein büschen mehr nach was aussieht!“

Er seufzte kurz auf, schüttelte den Kopf und sah sich langsam um.

„Na Kinners, nu geht man nach Hause! Was’n Segen, daß ich nich in mein Elend renne, wo die Welt so angenehm is und ich die neuen Starkens aus Angeln kriege! Und denn wollt ich mir in Lebensgefahr begeben, wo ich gerade die Geschichte in Wochenblatt lese? Kinners und Narren reden die Wahrheit – man gut, daß ich Euch gesehen hab! Nee doch, nee doch! Der alt gräsige Kerl!“

Langsam ging er davon. Den Kranz, den Milo noch in der Hand hielt, vergaß er; auch sah er kein einziges Mal nach dem Grabe hin, dessen Kreuz so viel Geld gekostet hatte.

Wir sahen ihm mit einem sehr beklommenen Gefühl nach, weil wir uns nicht ganz klar waren, ob wir sehr artig oder sehr unartig gewesen waren. Aber wir brachten den vergessenen Kranz [643] nach Frau Dornings Grab, weil ihr Geburtstag war, und dann nahmen wir uns klüglich vor, zu Hause nichts von unserem Erlebnis zu erzählen.

Diese Vorsicht war insofern überflüssig, als wir, zu Hause angekommen, ziemlich erregt empfangen wurden. Man hatte uns bereits gesucht, erklärte uns für unverbesserliche Herumtreiber und hörte gar nicht einmal auf unsere Entschuldigung, daß wir wirklich gar keine Zeit gefunden hätten, eher zu kommen. Es war nämlich schon ziemlich dunkel geworden und man schickte uns ohne weiteres zu Bette.

So kam es, daß wir über diesem häuslichen Sturm, der unser unschuldiges Haupt traf, gar nicht mehr an die braune Marenz und an Herrn Dorning dachten. Auch wurden wir am folgenden Tage von so verschiedenen Seiten zur Artigkeit und Folgsamkeit ermahnt, daß sich wirklich eine kleine Wolke über unsere sonst so ungetrübt heitere Stimmung legte. Jürgen war auch verdrießlich, weil er gleichfalls irgend eine Sünde begangen hatte, und so dauerte es wohl einen halben Morgen, ehe wir die schöne Heiterkeit wieder fanden, die uns sonst selten verließ. Als wir aber vergnügt wurden, da hatten wir auch die Erlebnisse des gestrigen Tages fast vergessen.

„Es ist alles nicht wahr!“ sagte Heinrich im Tone großer Entrüstung. Er kam gerade aus der Schule und warf seinen Ranzen auf den Tisch, daß es krachte.

„Was ist nicht wahr?“ fragten wir.

„Nun, daß Herr Dorning die braune Marenz heiraten will. Das ist nur ein dummes Gerede gewesen und Christoph Olten sagt, seine Mutter würde sehr böse, wenn jemand sie frage, wann Marenz heirate. Sie kommt dort auch aus dem Dienst – Frau Olten will sie nicht länger behalten!“

Nein, es war alles nicht wahr. Herr Dorning saß im Wirtshause und verwahrte sich mit lauter Stimme, daß er jemals solch armes Mädchen habe heiraten wollen. Er hätte sie ein paarmal in die Backen gekniffen – das wäre alles gewesen, und er wundere sich, daß die Leute solch dummes Zeug glauben könnten!

Die andern aber versicherten ihm, daß niemand von ihm, dem reichen und klugen Herrn Dorning, so etwas Dummes erwartet hätte.

Worauf er dann mit der Hand auf den Tisch schlug, laut auflachte und einen Rundgang „ausgab“.

So erzählten die älteren Brüder, die es von erwachsenen Bekannten erfahren hatten, und jeder, der gedacht, Herr Dorning würde ein blutarmes Mädchen heiraten, schämte sich über seine eigene Leichtgläubigkeit. Marenz kam zum August aus dem Dienst bei Oltens, das erzählte man sich auch, uud als ich ihr einmal mit ihrem Brotwagen begegnete, redete ich sie darauf an.

„Nun, Marenz, willst Du von Oltens fort? Mama sucht auch zum August ein neues Mädchen!“

Marenz war sehr blaß und schmal geworden, aber sie nickte mir freundlich zu.

„Hast all gehört, daß ich abgeh? Ja, die Ohlsch will mir nich mehr – kein Mensch will mir mehr!“

Sie lachte ein wenig; aber in ihren Augen ftanden Thränen.

„Weinst Du, daß Herr Dorning Dich nicht will?“ fragte Jürgen, der plötzlich hinter mir aufgetaucht war, und sie schüttelte den Kopf.

„O nein - da is ein Gotteswunder passiert – ich mein, das muß daher gekommen sein, weil ich uns’ Herrgott so furchbar gebeten hab, er sollt mich doch helfen. O, was bin ich verkehrt gewesen! – Den einen Tag da meint ich, daß ich sterben mocht, abers –“ sie sah mich an und eine feine Röte stieg in ihre Wangen, „da is denn doch nix aus geworden, und war man gut, daß ich mir noch an denselbigen Tag ans Beten machte, wo den nächsten Morgen Brief kam von Herr Dorning, daß er mir nich wollte. Das wär ein Irrtum gewesen von seine Seite, schrieb er, und er hätt sein Leben auch lieb! – O, was hab ich mir gefreut, as Oltensch mich den Brief vorgelesen und ihn mich nahstens um die Ohrens geslagen hat – was hab ich mir gefreut! Bloß, daß ich nich begreifen kann, wie allens gekommen is! Abers, der alte Gott lebt noch, das is die Hauptsache, und er hat nich gewollt, daß ich zu die schrecklichen Thalers sollt, wo man ümmer Nach und Tag mit hüten muß!“

Sie setzte ihren Wagen wieder in Bewegung, Jürgen aber lief ihr nach.

„Haut Frau Olten Dich oft?“ fragte er und Marenz zuckte die Achseln.

„Mits Hanen is ße nich mehr so doll, wo sie ümmer so’n Snirren in den rechten Arm hat, was sie die Kraft nimmt. Abers sie smeißt mir gern mit’n Küssen, oders mit’n Swarzbrat, sie trifft abers nich gut. Das sollt’ mich auch schon einerlei sein, wenn sie man bloß nich so gräslich über Johann snacken und allens mögliche von ihn sagen wollt!“

Sie seufzte tief auf, während Jürgen rief:

„Sag das doch mal an Johann Kühl – der wird sie schon kriegen!“

„Sagen!“ Die Thränen stürzten ihr aus den Augen. „Wo kann ich ihn das sagen, wo er fort is! Mit Schiffer Meislahn nach Lübeck und Frau Olten sagt, Lübeck liegt in Rußland; ich abers kann nich herauskriegen, wo Rußland is! Und er is gegangen mit all die slechten Gedankens an mich – o, du lieber Gott, ich freu mir ja so, daß Herr Dorning mir nich will, wo ich das ja auch so gut begreifen kann – abers, daß mein Johann nu auch nich wieder kammt –“ sie konnte nicht weiter sprechen und fuhr schnell davon.

Schweigend sahen wir ihr nach, und dann beschlossen wir, unseren Vater nach der genauen Lage von Rußland zu fragen und Marenz darüber Bescheid zu bringen.

In den nächsten Tagen fanden wir keine Gelegenheit, zu ihr hinzugehen, und als wir uns dann nach dem Oltenschen Hause begaben fanden wir einen großen Menschenhaufen vor dem Hause, von dem wir erfuhren, daß Frau Olten der Schlag gerührt habe. Sie hatte irgend jemand, man wußte nicht genau, ob es der Bäckerbursche oder Marenz gewesen war, durchprügeln wollen und bei dieser Beschäftigung war sie hingefallen.

Ein solches Ereignis war natürlich für die ganze Stadt interessant, und auch wir standen einen Augenblick und betrachteten uns das Oltensche Haus, als wenn wir es noch niemals gesehen hätten; dann aber begaben wir uns wieder heimwärts, denn wir wollten doch die ersten sein, die unserer Familie die große Neuigkeit mitteilten.

Danach sahen wir die braune Marenz lange nicht. Sie fuhr nicht mehr aufs Land hinaus, sonderm besorgte die Wirtschaft, die Bäckerei und pflegte Frau Olten, die nämlich nicht gestorbeu war, sondern bald wieder im Lehnstuhl saß und sich im Werfen weiter übte. Sie war sehr verdrießlich geworden und quälte das ganze Haus, wie Christoph Olten den Brüdern klagte.

„For meinswegen hätt sie gern sterben können,“ vertraute er Heinrich an; „wo sie nu doch so gräslich is und uns allen slecht behandelt! Wenn Marenz nich da wär, denn wüßt ich nich, was aus allens werden sollt, und Vater hat schon gesagt, sie darf auf keinen Fall aus’n Dienst bei uns gehn! Sie kann gut arbeiten!“

Ja, das konnte sie. Auf der Straße sah man Marenz nicht mehr, kaum einmal vor der Thür; sie hatte so viel zu thun, daß auch ihr Gesicht einen ganz anderen Ausdruck bekam. Früher hatte sie immer so freundlich und sorglos ausgesehen – jetzt blickten ihre Augen ernsthaft und ihr roter Mund schien das Lachen verlernt zu haben.

„Du denkst wohl immer darüber nach, wieviel die Zwiebacke kosten!“ sagte Jürgen vorwurfsvoll zu ihr. Er und ich waren ausgeschickt, um dieses Gebäck einzuholen, und Marenz zählte sie sorgsam in den Korb: „Ein, zwei, drei, vier –“

Sie schlug die Augen auf und lächelte ein wenig.

„Da muß ich woll über nachdenken, wo Frau Olten das nich mehr kann!“

„Kann sie Dich noch schlagen?“ erkundigte Jürgen sich weiter und Marenz schüttelte den Kopf.

„Jedweden Tag wird sie swächer! Gestern wollt sie mir mit’n Weinglas smeißen, abers es rutschte sie man bloß so aus die Fingerns!“ sagte sie traurig. „Ich denk da oft an, wie schön es war, as sie noch hauen konnt! – Nu is das allens vorbei!“

Sie hatte so viel Mitleid mit der alten Frau, die in Kissen gepackt im Nebenzimmer saß und fortwährend vor sich hin schalt, daß auch wir nichts sagen mochten.

[660] Der Frühling war vergangen, und als der Sommer kam, ging Herr Dorning mit einer sehr aufgeputzten Dame durch die Straßen unserer Stadt. Das war seine neue Frau, die er allen Freunden mit der Bemerkung vorstellte, sie habe fast ebensoviel Geld wie er selbst. Er sah sehr zufrieden aus und seine Frau gleichfalls. Sie war allerdings sehr häßlich und hatte vorne nur einen Zahn; aber sonst schien sie sehr nett zu sein. Wenigstens behaupteten dies alle Leute, die mit ihr zusammenkamen, und wenn man so viel Geld hat, wie Herr Dorning und seine Frau, dann wird man auch meistens nett gefunden.

Wir gingen dem Hofbesitzer aus dem Wege, wenn wir ihm gelegentlich begegneten. Ich hatte immer das unangenehme Gefühl, er könne mich noch einmal bei meinem Vater verklagen, weil ich doch unartig gegen ihn gewesen war. Als ich ihn aber einmal auf dem Jahrmarkt beim Karussell traf, nickte er mir sehr freundlich zu und wollte mir einen Schilling schenken, denn ich war gerade in Geldbedrängnis, weil ich mein Vermögen in der Kuchenbude verjubelt hatte. Aber der Schilling von Herrn Dorning gefiel mir doch nicht und ich schob mich eilig in die Menschenmenge, die vorm Polichinellkasten stand.

Es war der Sommermarkt im Juli, an dem eigentlich niemals etwas los war, meistens regnete es sehr an dem Tage und dann kam kein Mensch vom Lande. Diesmal aber war es schönes Wetter und von allen Seiten kamen die Wagen. Ich war bald [662] vom Polichinellkasten zurückgetreten und ging langsam nach Hause. Mein Weg führte mich am Oltenschen Hause vorüber. Dort stand Christoph in der Thür und winkte mir eilig zu.

„Nu is mein Mutter tot. – Ganz snell is das gangen! Sag es man an Heine! – Grad an’n Markttag!“ setzte er etwas verdrießlich hinzu, während er nach dem Marktplatze horchte, von wo man zwei Drehorgeln arbeiten hörte.

Ich stand einen Augenblick still und sah neugierig in den leeren Bäckerladen. Großen Eindruck machte mir die Nachricht nicht. Frau Olten hatte nach ihrem Schlagfluß zu lange gelebt, als daß wir ihr noch große Teilnahme schenken konnten. Aber als ich weiter ging, mußte ich doch an Marenz denken. In der letzten Zeit war sie uns langweilig geworden, weil die erwachsenen Leute sie so gelobt hatten. Sie war so gut gegen die kranke Frau gewesen, so tüchtig im Geschäft, so ehrlich und fleißig; niemand hatte etwas an ihr auszusetzen, selbst unsere Tante nicht, die früher auf sie böse war, weil sie soviel lachte.

Nur wir Kinder mochten es nicht, wenn jemand so gelobt wurde. Wir konnten ja nichts dagegen einwenden, aber solche Tugendspiegel wurden uns gewöhnlich als Beispiele vorgehalten und als es erst hieß: „Ja, wenn Ihr noch einmal so werdet wie Marenz, dann könntet Ihr Euch freuen und wir würden glücklich sein!“ Da war es mit unserem Interesse für Marenz halbwegs vorbei. Nicht ganz; aber wir liefen nicht mehr so viel nach dem Oltenschen Hause, und wie wir ihr eines Tages wieder begegneten, da war es herbstlich und auf dem Kirchhofe lagen viele welke Blätter. Dort war es nämlich, wo wir Marenz sahen. Sie trug das alte, braune Kleid unserer Tante, das wir ihr als Trauerkleid empfohlen hatten, und sie ordnete das Grab der Frau Olten. Wir sahen ihr eine Weile zu, ehe wir sie anredeten. Aber sie war so blaß geworden, daß es sogar uns auffiel.

„Fehlt Dir was, Marenz?“ Sie fuhr ein wenig zusammen.

„Was sollt mich fehlen!“ sagte sie dann.

Aber in ihren Augen standen Thränen, als sie mit einem kleinen Messer einige Zweige abschnitt.

„Gehst Du gar nicht mehr zu Tanz, Marenz?“ fragte Jürgen, der soeben von unserem Mädchen eine glühende Beschreibung eines Ballfestes gehört hatte.

Sie schüttelte den Kopf. „Wer sollte mir mitnehmen?“

„Ist Johann Kühl nicht mehr da?“

„Der?“ sie sah in den Himmel, an dem die Herbstwolken zogen. „Der is ja gar nich von Lübeck nach Haus gekommen. Hat sich da verheuert auf’n anner Schiff. Bäcker Olten sagt, das is in die Südsee gegangen, oders nach Engelland – ich weiß nich, wo all die Länders liegen!“

Marenz hatte tonlos gesprochen und wir empfanden das Bedürfnis, sie auf andere und angenehmere Gedanken zu bringen.

„Sei nicht traurig,“ tröstete Jürgen.

„Chriswph Olten sagt, sein Vater will Dich bald heiraten – Du paßt so gut für das Geschäft! Dann brauchst Du nicht mehr an Johann Kühl zu denken!“

Marenz hatte sich auf das Grab gesetzt und die Hände um ihre Kniee gelegt. „Nee,“ sagte sie halblaut, während um sie herum die dürren Blätter raschelten; „nee, denn brauch ich ja nich mehr an ihm zu denken!“

Wir gingen davon.

„Marenz ist gar nicht mehr lustig und gar nicht mehr nett!“ sagte Jürgen, und ich nickte. „Nein, sie ist gar nicht mehr nett!“

Ich hatte mein Taschentuch verloren und lief zurück, um zu sehen, ob ich es vielleicht bei Marenz hätte fallen lassen. Da kniete sie vor dem Grabe Frau Oltens und hatte den Kopf tief auf die Brust geneigt.

„O mein Johauu, mein Johann,“ schluchzte sie, „was läßt Du mir so ganz allein!“

Leise ging ich wieder davon und konnte nicht begreifen, was sie eigentlich wollte.


Einige Tage später fuhren wir nach dem Sunde. So heißt die Wasserstraße, die unsere Insel von dem Festlande trennt und die ein jeder passieren muß, der uns besuchen will. Manchmal ist der Sund sehr freundlich und lieblich anzuschauen. Dann ist sein Wasser blau, er hat kleine Wellen, und auf ihm mit einem Boote zu fahren ist ein großes Vergnügen. Manchmal aber macht er ein böses Gesicht, hat graue, riesige Wogen, schleudert seinen gelblichen Gischt weit aufs Land hinaus und die Leute, die auf seinem Rücken fahren sollen, stehen am Ufer, reiben sich die Hände und sehnen sich glühend nach einer festen Brücke, auf der man von einer Landseite zur andern spazieren kann. Solche Brücke wird es aber wohl niemals geben und es wäre auch schade für die Fährpächter und die Bootsleute, die breitspurig mitten im Seetang stehen und über die ängstlichen Landratten lachen.

Als wir an einem grauen Herbsttage am Sunde anlangten, um einen Gast abzuholen, war gerade ein Wetter, das die Ueberfahrt sehr unangenehm zu machen drohte. Der Wind fuhr von allen Seiten über das Wasser und der Fährpächter stand an der Landungsbrücke und sah durch sein Fernglas nach der andern Seite. Dort hingen an einem Maste allerhand Signale, und während er sein Glas langsam wieder zusammenschob, meinte er:

„Der kommp noch lang nich – der is bang! Kommt man ein in Stube!“

„Soll ich ihm holen?“ fragte eine ungeduldige Stinnme neben ihm. Aber der andere schüttelte den Kopf. „Nee, laß man Johann – was die Landrattens sind, die schreien ümmer so gräsig auf’n Wasser, und denn werden die Segels scheu!“

Wir lachten sehr über diesen Witz, der auch für uns bestimmt war, aber wir betrachteteu uns doch auch den jungen Mann, der neben dem Pächter stand und der uns gar nicht zu sehen schien.

Er war ganz in Oeltuch gekleidet und hatte sich den Südwester fest über die Augen gezogen. Wir erkannten ihn aber doch.

„Guten Tag, Johann Kühl,“ sagte Jürgen; „wo kommst Du denn her? Bist Du nicht in der Südsee?“

„Nee!“ sagte der Angeredete mürrisch. „Ich bin von Lübeck auf Kiel mit’n Dampfer gefahren, un nu such ich mich was anners!“

„Sein Onkel ist gestorben, da hat er sich sein Geld geholt!“ bemerkte der Fährpächter, der mehr für die Unterhaltung schien als Johann.

„Bist Du denn reich geworden?“ erkundigten wir uns; er aber wandte sich verdrießlich ab und erwiderte kein Wort.

Nachher aber, als wir uns in den Schutz einer kleinen Düne gesetzt hatten, um in den feinen Sand ein Loch zu graben, da stand Johann Kühl plötzlich wieder hinter uns. Er knotete an einigen Tauenden und schien uns gar nicht zu sehen, als Jürgen ihn aber fragte: „Bist Du gar nicht in der Stadt gewesen, Johann?“ da schüttelte er den Kopf und setzte sich dann zu uns.

„Was soll ich in Stadt?“ fragte er. „Da is nix los for mir!“ –

Er schwieg wieder uud wir gruben weiter, während der Wind über unseren Köpfen dahinpfiff und die Masten der Signalstange sich hin und herbogen.

„Wo geht es denn die junge Frau Dorning?“ fragte er plötzlich in höhnischem Ton und wir sahen ihn etwas erstaunt an.

„Der geht es ganz gut, glaube ich,“ versetzte ich. „Sie ist sehr nett!“

„Ja, sehr nett!“ versicherte Jürgen. Johann lachte kurz auf. „Nu, natürlich; Geld mach immer nett!“

„Sie hat aber nur einen Zahn!“ bemerkte Milo jetzt in vorwurfsvollem Ton. Dieser Bruder hatte immer sehr viel Sinn für ein schönes Aeußere. Johann schob seinen Südwester in den Nacken uud sah ihn starr an.

„Bloß einen Zahn?“ fragte er. „Wo kann das einmal angehn! Einen Zahn?“

Wir nickten. Ja, das war einmal so, und wir konnten nichts dabei machen.

„Der wird aber auch so bald nicht ausfallen!“ sagte Jürgen, der wohl das Gefühl hatte, Johann trösten zu müssen. „Er ist ziemlich lang und sieht sehr stark aus!“

„Du meine Zeit!“ Johann sah hilflos von einem zum andern. „As ich ihr zuletzt sah, da hatte sie ja noch alle Zähnens – ich dach, in die Jahrens wär sie noch nich, daß das so snell gehen kunnt!“

„Sie ist ziemlich alt!“ versicherte ich; „Marenz sagte neulich, sie wäre wohl fünfzig!“

„Marenz!“ Johann war aufgesprungen und setzte sich wieder hin. „Das is ja gerade Marenz, nach die ich frage –“

„Nach Marenz? Aber Marenz ist ja nicht Frau Dorning. Herr Dorning hat sich eine Frau aus Holstein genommen; er wollte Marenz nicht haben! Sie dient noch bei Bäcker Olten!“

[663] „Sie is nich Frau Dorning?“ Der Südwester war Johann vom Kopf gefallen und sein blondes dichtes Haar wehte ihm ums Gesicht – er merkte es aber nicht.

„Marenz is nich verheiratet?“ wiederholte er noch einmal.

„Nein, sie ist nicht verheiratet, aber Christoph Olten sagt, sein Vater will sie haben!“

Johann sprang auf. „Nu slag ein Dunnerwetter ein – is der Mann ein Türke, daß er zwei Frauens haben kann? O – was’n Geschichte, was’n Geschichte!“

Wir erzählten dann von Frau Oltens Schlagfluß und von ihrem Tode. Auch davon, daß wir an Marenz vieles jetzt auszusetzen fanden.

„Sie ist gar nicht mehr nett!“ wiederholten wir alle drei, und Jürgen setzte hinzu: „Frau Olten hat sie so oft geschlagen und sie hat sie kein einziges Mal wiedergeschlagen! Ist das nicht dumm von ihr? Christoph Olten erzählte es mir und er sagte mir auch, daß Marenz trauriger gewesen wäre als er, wie seine Mutter starb. Ist das nicht sonderbar? Und lachen thut sie auch nicht mehr. Nein, ich kann sie nicht mehr nett finden!“

„Ich auch nicht!“ setzte ich hinzu und dann sprangen wir auf und liefen nach dem Wasser. In der Ferne kam nämlich ein Boot angeschwankt, und wir wollten doch gern sehen, wie unser Besuch ans Land kam. Johann lief plötzlich mit uns.

„Meinst, daß sie Olten nimmt!“ schrie er mir ins Ohr, denn der Wind erschwerte sowohl Sprechen wie Hören. Ich nickte, dann fiel mir etwas ein; als ich es aber Johann mitteilen wollte, war er ebenso schnell verschwunden, wie er gekommen war.

Unser Gast kam an, und da er auf der Wasserreise naß geworden war und unbeschreibliche Angst dabei ausgestanden hatte, so schalt er uns auf der Rückfahrt so furchtbar aus, daß wir in einer etwas gedrückten Stimmung zu Hause anlangten. Wir hatten eigentlich gehofft, er würde uns etwas mitbringen – er aber schien so froh, sich selbst heil mitgebracht zu haben, daß wir ihm vollständig als Nebensache erschienen.

Im elterlichen Hause angelangt, wurde der Gast etwas milder, und obgleich er uns nichts mitgebracht hatte, so schenkte er uns einige Schillinge, damit wir ein Vergnügen haben sollten. Milo wurde mit diesem Kapital ausgeschickt, um kleine Pfeffernüsse zu holen, die es bei Bäcker Olten sehr gut gab. Wir wollten „Poch“ darum spielen.

Aber es dauerte sehr lange, ehe er wiederkam, und dann war er so aufgeregt, daß er zuerst gar nicht sprechen konnte. Als er sich etwas erholt hatte, fing er an unaufhaltsam zu reden.

„Haben wir nicht an Johann Kühl gesagt, daß Marenz gar nicht mehr nett wäre? Und glaubt Ihr, daß er darauf gehört hat? Wie ich in Oltens Laden komme –“ er holte tief Atem und seine Augen nahmen einen Ausdruck großen Entsetzens an – „ja, wie ich in den Laden komme, da sitzt Johann Kühl auf dem Ladentisch und Marenz ganz furchtbar dicht neben ihm. ,Für drei Schillinge Pfeffernüsse. Von den kleinsten, aber recht viele!‘ Das sag ich wohl dreimal – aber glaubt Ihr, daß Marenz mir zugehört hat? Sie hat den Kopf an Johanns Schulter gelegt und geweint. Was bedeutet das num? ,Für drei Schillinge kleine Pfeffernüsse, aber recht viel!‘ sag ich noch einmal! Und da hat Johann Marenz einen Kuß gegeben! Hatte ich davon etwas gesagt?“

„Wo sind die Pfeffernüsse?“ hieß es von allen Seiten und er brach in Thränen aus.

„Länger konnte ich das nicht mit ansehen – ich bin zu Bäcker Fritzen gelaufen; der hat mir welche gegeben, und die mußte ich doch einmal probieren, weil ich nicht wußte, ob Ihr die auch möchtet! Und da kam Otto Lawerentz und probierte auch und da – und da –“

Unter lautem Schluchzen wurde ihm ein zusammengeknülltes Stück Papier entwunden, in dem sich noch vier kleine Pfeffernüsse befanden. Die übrigen waren auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Daß Marenz an diesem Unfall schuld war, lag auf der Hand, nein, sie war gar nicht mehr nett!

Wir zürnten ihr eine ganz lange Zeit; aber leider machte sie sich gar nichts aus diesem Zorn, und als sie uns eines Tages erzählte, wie alles gekommen sei, wie Johann sie gefragt habe, ob sie wirklich den Bäcker Olten lieber heiraten wolle, da hörten wir ihr doch mit Spannung zu.

„Er is schon doll gewesen von wegen das Galopptanzen mit Hannes!“ erzählte sie. „und denn dachte er auch sonstens Böses von mich, wie die Männers nu einmal sind. Abers nu will er von sein büschen Geld ein klein Segeljacht kaufen und mir denn heiraten!“

„Kinners abers,“ setzte sie hinzu und sah dabei so vergnügt wie ehemals aus; „zu mein Hochzeit müßt Ihr kommen! Ich mein’, ich könnt nich lustig sein, wenn Ihr nich dabei seid, wo Ihr doch allens for mir gethan habt!“

Wir wußten nicht, daß wir etwas für sie gethan hätten, aber die Einladung nahmen wir mit vielem Vergnügen an.

„Was ziehst Du denn auf Deiner Hochzeit an, Marenz?“ fragte ich, und sie sah nachdenklich aus.

„Ich weiß das selbstens nich, Kind. Das alt braune geht nich mehr, und an die rosa Jack is auch nix mehr. Ich hab ja ein paar Thalers; bloß, daß ich mich ja auch ein büschen for die Wirtschaft anschaffen möcht. Mein Johann muß allens und allens bezahlen – liebe Zeit – ich bin ja nich for Geld, abers ein paar Thalers häbt ich ganzen gern! Na, mein Johann sagt, das is allens einerlei; da will ich mir auch nicht weiter quälen!“

Sie lief singend davon und wir mochten sie plötzlich wieder so gern leiden wie früher, denn wir hatten das Gefühl, etwas für sie sorgen zu müssen und wenn man für jemand sorgen muß, dann drückt dieser sich ganz allmählich in das Herz des Sorgenden hinein. Wir verschafften ihr auch allerlei nützliche Sachen für den Hausstand, auch für ein Traukleid sorgte meine Mutter, und Marenz freute sich über jede Kleinigkeit. Aber blutarm blieb sie darum doch, und die erwachsenen Leute, die immer so klug sind, sagten, es sei ein Unsinn, daß die beiden schon heiraten wollten.

Aber die Hochzeit ward doch bald, denn Bäcker Olten, der mit Marenz plötzlich sehr unzufrieden geworden war, wollte sie nicht mehr im Hause behalten und da mußte sie schon heiraten.

Es war ein Sonntag im November, als Johann Kühl und Marenz zum dritten- und letztenmal in der Kirche aufgeboten wurden. Sie wurden also von der „Kanzel geschmissen,“ wie die Leute es nannten, und sie saßen beide ganz verklärt vor Freude in ihrem Seemannsstuhl und hörten ihre Namen vor aller Welt nennen. Auch vor Herrn Dorning und Frau, die auf ihrem Honoratiorenplatz in der Kirche saßen und etwas verschlafen aussahen. Denn sie schliefen beide öfters, wenn auch nicht regelmäßig, in der Kirche, und die Leute sagten, sie langweilten sich miteinander, gerade wie Herr Dorning sich früher mit seiner ersten Gattin gelangweilt habe.

Nun war der Gottesdienst zu Ende und in dem Gedränge, das an der Thür entstand, kamen Jürgen und ich dicht hinter Dornings heraus. Wir wollten an ihnen vorübergehen aber Herr Dorning, den die scharfe Novemberluft wohl erfrischt hatte, rief uns plötzlich an:

„Nu, Kinners, wie geht das Euch? Auch ein büschen zur Kirche?“

Wir gaben ihm die Hand und auch Frau Dorning, die uns freundlich anlächelte. Sie zeigte dabei einen Muud voll schneeweißer Zähne und wir waren so überrascht von dieser Naturerscheinung, daß wir sie unverwandt anblickten.

„Sind Deine Zähne so schnell wieder gewachsen?“ fragte ich und Herr Dorning lachte laut auf.

„Nu kuck an! Was nich allens sehen kannst!“ rief er. „Ja – sind das nich feine Zähnens? Schenk ich mein Frau auch verträglich zu Weihnachten und kosten ein Berg Geld!“

„Nun hast Du gerade so schöne Zähne wie Marenz! Nicht wahr, Herr Dorning?“ sagte Jürgen und Herr Dorning murmelte einige Worte, die wir nicht verstanden.

„Was for’ne Marenz meint Ihr?“ griff jetzt Frau Dorning in die Unterhaltung ein. Wir gingen noch immer zusammen den langen Kirchsteig hinunter und da sie mich bei der Hand gefaßt hatte, konnte ich nicht fortgehen.

„Marenz ist die braune Marenz!“ sagte ich. „Wir kennen sie schon lange – Herr Dorning auch. Sie hat sein Geld wiedergefunden, viel Geld, und nachher wollte er sie heiraten – nicht wahr, Herr –“

„O, was’n Unsinn!“ rief Herr Dorning mit lautem Auflachen. „So – nu adjüs ok – grüß Vater vielmals – lauft man snell nach Hause!“

„Nee, nee!“ bemerkte Frau Dorning. Sie hielt mich ganz fest und nickte ihrem Manne ein wenig zu. „Laß mir man hören, was das for’n Geschiche war! Ich hab all die Glockens von so was läuten hören! Dein Swester hat mich auch was Aehnliches verzählt –“

[664] „Gott, Dorette,“ unterbrach Herr Dorning sie, „was willst die alten Lügens hören! Und noch dazu aufn Sonntag, wo man doch den Herrgott wohlgefällig sein soll! Wir haben ja auch gar kein Zeit! Ich wollt mich ja noch Sweine kaufen –“

„Denn kauf Dich man Sweine, mein Detlef!“ bemerkte seine Frau ruhig. „Das is natürlicherweise uns’ Herrgott aufn Sonntag wohlgefälliger, as wenn ich mich mit’n unschuldigen Kind unterhalte. Ich geh hier ein büschen auf und nieder mit die Kleinens und Du kannst Dich ein Swein kaufen!“

„Du liebe Zeit, Dorette!“ sagte Herr Dorning noch einmal und sah uns wenig freundlich an. „Da is auch nix zu verzählen. Die Deern – Marenz heißt sie ja woll, hat mich mal ein paar Thalers wieder gebracht –“

„Achthundert Spezies!“ bemerkte Jürgen und Frau Dorning machte große Augen.

„Achthunnert Spezies? Da hast sie doch was Ordentliches für gegeben?“

„Nu, natürlich, Dorette –“

„Einen halben Bankthaler,“ erzählte Jürgen weiter, „und nachher noch einen ganzen, als Herr Dorning Marenz heiraten wollte!“

„Halt den Snabel!“ schrie der Hofbesitzer meinen Bruder an, seine Frau aber schob ihren Arm in den seinen.

„Sweig man ganzen still, mein Detlef,“ sagte sie gemütlich. „Meinst, daß ich vierzehn Tage auf die Insel gewesen bin und hab nix von das hübsche Mädchen gehört, das Dir nich wollte? Dein eigen Swester, die mir nich ausstehen kann, hat mich das snell genug beigebogen, wie Du das woll begreifen wirst. Ne, sie hat Dir nich gewollt, was Du auch dagegen sagen magst, und wie ich das hübsche Mädchen heute in Kirche sah, hab ich das auch begriffen. Denn wenn man jung is und hübsch, denn mag man keine alte und kahle Männers!“

„Du bist auch alt!“ murrte er.

„Ganz gewißlich!“ gab sie ruhig zurück. „Dafor paß ich auch besser for Dir und ich paß auch besser, weil ich Geld hab, – da mach ich mich gar nix aus, daß Du beinah die klein Deern genommen hättst – über sowas ärgere ich mir nich, wo das doch nich passiert is. Wo ich mir aber über ärgere, das is, daß Du Dich von so’n arme Deern hast was schenken lassen. Denn sie hat Dich was geschenkt – wo sie Dich die achthunnert Speziesthalers wiedergebrach hat und Du – –“

„Sie war bannig zufrieden,“ schrie Herr Dorning; „und Deine Sache is das nich –“

„So? das is nich meine Sache, wo ich Dein angetraute Frau bin und allens mit Dich tragen soll? Freud und Leid und Krankheit will ich for meinswegen gern mit Dich tragen; abers Spott und Hohngeschrei, das mag ich nich. Da bin ich nich bei hergekommen, mein klein Detlef, wo unser Familie woll an hundert Jahrens auf denselbigten Hof sitzt!“

„Was willst denn?“ fragte ‚klein Detlef‘ ein wenig kleinlaut, während seine Frau uns zunickte.

„Nu geht man nach Hause, mein Kinners. Ihr braucht mich nix mehr zu verzählen – was mein Detlef und ich zu snacken haben, da braucht Ihr auch nich beizustehen!“

Wir liefen erleichtert davon, und dennoch spielten wir lange Zeit nach dieser Unterredung ein Spiel, das „Dorette und Detlef“ hieß und das sehr hübsch war.

Vierzehn Tage später durften wir wirklich an dem Hochzeitsmahle von Johann Kühl und Marenz teilnehmen. Es fand in Schmidts Gasthof, einem nicht gerade sehr eleganten Hotel statt; aber da Herr Schmidt der Bruder von Johann Kühl seiner angeheirateten Cousine war, so that er es etwas billiger. Es war ein feierlicher Tag. Zuerst die Trauung in der Kirche, wo Marenz so weinte, daß sie uns beinahe ansteckte, und dann das Mittagessen, an dem außer uns noch einige Gäste, z. B. Hannes Bergmann und Christoph Olten teilnahmen. Johann hatte Hannes eigentlich nicht einladen wollen, er war noch immer böse, daß der besser Galopp tanzte als er. Aber Hannes hatte sich selbsl eingeladen, und da er ein Gedeck mit sechs Servietten und ein Pfund Tabak schenkte, durfte er auch nicht übergangen werden. Christoph Olten schenkte einen ziemlich großen Sack mit Mehl und vier Schwarzbrote. Es ging bei uns das Gerücht, er habe beides seinem Vater gestohlen; dies war aber nicht wahr. Vater Olten wußte von dem Geschenk Bescheid und hatte auch nichts dagegen, weil Christoph sonst so schrecklich weinen würde, wie er Bekannten gegenüber erklärte.

Das Essen war wunderschön. Zuerst gab es Weinsuppe mit Rosinen darin, dann Gänsebraten und dann Reispudding. Bei der Weinsuppe wurde ich leider krank, und Milo beim Gänsebraten, Jürgen aber arbeitete sich tapfer durch alles hindurch und sagte, es hätte ihm niemals so gut geschmeckt. Auch gefiel es ihm so, daß man von allem wenigsteus drei Portionen essen mußte. An der dritten Portion Weinsuppe hatte nämlich mein Magen Schiffbruch gelitten. Aber zum Reispudding kam ich wieder und das war mein Glück, denn nun fing die Fröhlichkeit erst an. Bis dahin hatten alle Gäste ganz still gesessen und nur unglaublich viel gegessen. Auch das Brautpaar war still und beklommen und Marenz hatte noch gar nicht gelächelt. Aber bei dem Reispudding kam der Wein, „echten alten Boddoh“, wie Herr Schmidt sagte, und Hannes fing an, einige Witze zu machen.

Plötzlich öffnete sich die Thür und Frau Dorning trat ein. Wir sahen sie alle sehr erstaunt an, sie aber nickte uns zu mit der schönen Unbefangenheit, die der Besitz von vielen Speziesthalern geben soll.

„Kuck mal an,“ sagte sie ruhig, „was’n vergnügte Gesellschaft! Ich will auch nicht lang stören!“

Dann ging sie auf Marenz zu, die sich errötend erhoben hatte und nun ihren kleinen einfachen Brautschleier aus dem Gesicht schob.

„Nu, mein Deern,“ sagte die reiche Frau; „ich hab gehört, Du hättst Hochzeit und ich bin gekommen, Dich zu gratulieren. Kennen thue ich Dir ja nich, abers gehört hab ich von Dich und gesehen hab ich Dir auch!“

Sie sah einen Augenblick freundlich in das hübsche Gesicht der jungen Braut und fuhr dann fort:

„Herr Dorning hat mich verzählt, was Du forn ehrliche Deern bist und daß Du sein Geld so schön wiedergebracht hast. Er wollt Dich schon ümmer was schenken; bloß, daß er so viel mit sein Wirtschaft zu thun hatt. Wo er abers hörte, daß Du heiraten wolltst, hat er mich kein Ruh mehr gelassen, daß ich Dich unser Geschenk bringen sollt. Gotts Seegen, klein Deern, sei man ümwer brav und ümmer so gut, wie Du gewesen bist, denn wird uns’ Herrgott Dir auch beschützen!“

Frau Dorning setzte einen kleinen Beutel vor Marenz hin, klopfte sie auf die Schulter und war dann wieder verschwunden.

„Was’n Frau!“ sagte Hannes Bergmann bewundernd. „Bei die möcht ich woll in Dienst sein!“

Mit diesen Worten war das Schweigen gebrochen, das bis dahin über der Gesellschaft gelegen hatte. Der Beutel wurde geöffnet, und als sich in demselben hundertundfünfzig harte Bankthaler besaudeu, da tanzte Marenz ganz allein Galopp durch den Saal. Ihr Mann aber ließ Herrn Dorning hoch leben und alle sagten, solchen Mann gäbe es gar nicht mehr auf der Insel.

Leider wurden wir in diesem Augenblicke geholt und ich kann daher das Ende des Festes nicht beschreiben. Schön muß es aber gewesen sein, denn Marenz sagte später immer: „Kinners, Kinners, so’n Hochzeit as ich, so’n Hochzeit hat gewiß der König in sein Sloß nich gehab – o – was war es prachvoll! Und mein Johann hat mit mich getanzt, und is bloß einmal hingefallen. Abers geärgert hat er sich ganzen und gar nich! Nee – ich wollt man bloß, daß alle Leutens so’n Hochzeit hätten wie die braune Marenz!“

Die braune Marenz ist wirklich so glücklich geworden, wie man es in diesem unvollkommenen Leben werden kann, und unsere Freundin ist sie auch geblieben, so lange wie wir auf der Insel waren. Das will viel sagen, denn gewöhnlich verändern sich die Leute, wenn sie heiraten, und werden „eklig“, wie Jürgen sagt. Aber Marenz blieb wie sie immer gewesen war, und deshalb schätzten wir sie sehr hoch.

Herrn und Frau Dorning haben wir auch noch oft wieder gesehen. Die letztere war immer nett und freundlich gegen uns, Herr Dorning aber sah uns gewöhnlich nicht, wenn wir ihm begegneten. Manchmal wunderten wir uns über seine Gleichgültigkeit, wo er doch früher freundlich gegen uns war; im allgemeinen aber trösteten wir uns mit der Bemerkung, daß es verschiedene Menschen auf der Welt geben müsse, sonst würde sie zu langweilig. Nette Menschen wie die braune Marenz und weniger nette wie Herr Dorning. Letzterem gönnten wir alles Gute; aber daß wir die braune Marenz lieber leiden mochten, wird uns gewiß niemand übelnehmen.


  1. Pantoffeln.
  2. Gänse.
  3. heben.
  4. etwa eine Reichsmark.
  5. junge Kühe.