Textdaten
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Autor: Marie von Ebner-Eschenbach
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Titel: Die arme Kleine
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aus: Die Gartenlaube, Heft 7–16, S. 197–202, 230–234, 262–268, 293–299, 325–332, 357–364, 389–392, 422–431, 472–480, 510–514
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[197]

Die arme Kleine.

Eine Familiengeschichte von Marie von Ebner-Eschenbach.


Im Jänner, am Tage, an dem der Bauernregel nach die erste Regung des Lebens in den erstarrten Bäumen erwachen soll, wurde die Kleine geboren. Ihre Eltern hatten schon drei Söhne, Leopold, Joseph und Franz. Drei Riesen. Der älteste, der große Junge mit den reichen, braunen Haaren, den dunklen Augen, den schönen regelmäßigen Zügen, glich dem Vater. Der zweite, mit dem lichtbraunen Gelock und den blaugrauen Augen, hatte kein Vorbild in der Familie, entwickelte sich auf seine eigene Art zu einem kühnen, prächtigen Menschenexemplar. Der dritte sah der Mutter ähnlich, hatte ein sanftes Gesicht und war hellblond.

„Wenn wir noch einen kriegen,“ sagte Herr von Kosel, „und wenn es so weiter geht in der Schattierung, kommt er mit weißen Haaren zur Welt.“

Er hätte sich übrigens wenig daraus gemacht, wenn einer mit feuerroter Perücke erschienen wäre. Die Angelegenheiten anderer, auch die seiner Kinder, berührten ihn nicht tief; alle lebhaften Interessen, deren er fähig war, konzentrierten sich auf sein eigenes und auf sein zweites Ich, seine Frau.

Die hatte schon ihren dritten Jungen ohne besonderes Entzücken begrüßt. Sie wünschte sich ein Mädchen, ein Kind wenigstens, von dem sie mehr gehabt hätte als nur das Glück, ihm das Dasein zu schenken und es zu betreuen, bis es laufen konnte. Einmal soweit gebracht, waren die Buben ihr auch schon entwachsen und: „Von da an,“ meinte sie, „ist die freiwillige Rettungsgesellschaft völlig imstande, mich bei ihnen zu ersetzen.“ Ihr Jüngster war eben vier Jahre alt geworden, als das ersehnte Töchterlein erschien, langerwartet und – unerwartet. Ende Februar hätte sie kommen sollen, zu Fabian und Sebastian war sie da. Man hatte noch keine Vorbereitungen zu ihrem Empfang getroffen und mußte die Ueberbleibsel der Säuglingsgarderobe ihrer Brüder für sie verwenden. Die kleinste Haube, das winzigste Hemdchen wurden hervorgesucht, sie nahm sich in ihnen aus wie eine Stecknadel im Futteral eines Fernrohrs.

Ihrer Mutter traten Thränen in die Augen, als man ihr die Neugeborene brachte.

„Du arme Kleine!“ sagte sie.

Das war die Vortaufe des Kindleins: „Die arme Kleine“ hieß es fortan, und der schöne Name Angelika, den es drei Tage später durch den Priester in der Schloßkapelle erhielt, blieb ein Paradename, dessen man sich nur bei feierlichen Gelegenheiten bediente.

An die Lebensfähigkeit der überzarten, unreifen Menschenfrucht glaubte anfangs niemand. Nur Apollonia Budik, die Milchschwester und Jugendgespielin Kosels, die schon die drei Löwen oder Bären, wie die jungen Herrchen abwechselnd genannt wurden, aufgezogen hatte, prophezeite: „Sie wird wachsen und gedeihen.“

Die Besorgnisse um das Kind lenkten sich allmählich auch auf seine Mutter. Sie war nach der Geburt eines jeden ihrer Söhne in verjüngter Schönheit wieder aufgeblüht; seit der Geburt der Kleinen kränkelte sie und konnte sich nicht erholen.

[198] „Es wäre Zeit, daß sie endlich gesund würde,“ sagte ihr Mann, und der Arzt erwiderte, das denke er schon ein Jahr lang. Er hätte gern noch etwas hinzugesetzt, aber der Herr winkte halb ängstlich, halb ärgerlich ab, und so trat ein Schweigen ein, das die beiden zugleich unterbrachen, um einander mit der Hoffnung auf den herannahenden Frühling zu trösten. Aber auch dieser brachte keine Besserung. Der Sommer kam, warm, mild und wonnig, ein schöner Herbst folgte ihm. Täglich wurde die Kranke in den Garten getragen und lag dort stundenlang auf einem Ruhebett im Schatten würziger Nadelbäume. Neben ihr stand der Korbwagen der Kleinen und zu ihren Füßen saß Frau Apollonia und strickte. Auf der Wiese jenseit des Weges in gehöriger Entfernung spielten und balgten sich ihre ehemaligen Zöglinge, von einer handfesten Magd überwacht. Sie hatte dafür zu sorgen, daß die Buben die Grenzen ihres Bereichs nicht überschritten und nicht einbrachen in das der Mutter und der Schwester. Es mißlang aber oft, die Jungen waren zu neugierig, die arme Kleine zu sehen, zu sehnsüchtig, die Mutter zu umarmen, von der man sie immer ängstlicher ferne hielt. Sie fühlten sich zurückgesetzt, bestraft, und gerade in der letzten Zeit hatten sie doch kein Unrecht gethan und waren nicht wie gewöhnlich gegen die Mama, sondern nur gegen Apollonia und die Magd ungehorsam gewesen. Der Papa kümmerte sich um sie weniger denn je. Er ging mit zerstreuter Miene umher, rauchte viel, las ein halbes Dutzend Zeitungen und antwortete jedem der Hausleute und jedem seiner Untergebenen, der von ihm eine halbwegs wichtige Entscheidung verlangte: „Das werden wir bestimmen, wenn die gnädige Frau wieder gesund sein wird.“ Wenigstens zwanzigmal im Tage ging er zu ihr hinüber, setzte sich auf ihr Bett, versicherte, daß sie recht gut aussehe, empfahl sich wieder und vergaß regelmäßig die Thür zu schließen.

Auf den Wunsch des Doktors berief Kosel einen Professor aus Wien, der allerlei Ratschläge gab. Sie wurden befolgt, aber ohne den geringsten Nutzen.

Herr von Kosel ließ sich trotzdem in seiner Zuversicht, daß es endlich doch besser werden müsse, nicht irre machen und fragte ganz naiv, wenn der Arzt schwere Besorgnisse äußerte: „Ich bitte Sie, was soll ihr denn geschehen?“

Eines Morgens fühlte sich die Kranke nach einer schlechten Nacht besonders schwach, verlangte aber doch, in den Garten getragen zu werden. „Denn,“ sagte sie, „ins Zimmer läßt man mir meine lieben, wilden Buben nicht und ich möchte sie doch wenigstens sehen.“

Als sie dann mit Apollonia und mit der Kleinen auf ihrem gewohnten Platz untergebracht war und die drei Jungen von weitem herüberwinkten und grüßten, begann sie flehentlich zu bitten: „Gute Poli, hol’ sie mir herüber, meine Rangen! Ich glaube, daß ich heute nicht geschlafen habe aus Sehnsucht, sie wieder einmal in meinen Armen zu halten und nach Herzenslust zu küssen. Und die Kleine leg’ mir auf den Schoß, ich möchte sie ihnen zeigen.“

Apollonia gab nach, allen empfangenen Verhaltungsmaßregeln zum Trotz. Sie brachte den Buben die Botschaft der Mutter, hielt ihnen aber dabei die geballte Faust entgegen: „Ihr dürft kommen, einen Augenblick. Wer Lärm macht, der kann sich freuen! Vor der Mutter sag’ ich nichts, aber was dann geschieht, darauf wartet.“

Ein toller Jubel brach aus: „Zur Mutter, zur Mutter und zur armen Kleinen!“

„Ruhig!“ wetterte Apollonia, „wer nicht ruhig ist, kehrt gleich wieder um. Ihr geht hinter mir.“

Die Jungen brachten es in der Selbstbeherrschung so weit, ein paar Schritte, nicht gerade hinter Apollonia, aber doch neben ihr zu machen. Plötzlich guckten sie einander an – ein Augenwink und vorwärts, alle drei zugleich, wie der Sturm, und die gute Frau Budik schrie und drohte und lief ihnen nach, ohne die geringste Hoffnung, sie einzuholen.

Joseph war zuerst am Ziele. Fast sprachlos vor Seligkeit umschlang er den Hals seiner Mutter, eifersüchtig drängten sich die jüngeren Brüder heran und der Kranken verging der Atem unter den leidenschaftlichen Liebkosungen ihrer Kinder. Ihre Arme lösten sich, die Kleine geriet in Gefahr, zu Boden zu gleiten. Franz fing sie auf und rief triumphierend: „Ich hab’ sie, ich hab’ sie!“ Die Kleine schlug die Augen auf und sah das dicke, rote Gesicht, das sich über ihr winziges beugte, ruhig und wißbegierig an. „Was bist denn du für ein Ungeheuer?“ schien sie zu fragen. Keuchend kommt Apollonia herbei, nimmt das Kind, legt es in den Korb und ermahnt die Buben, den Rückweg anzutreten. Aber sie schenken ihr kein Gehör, sie umstehen die Mutter, sie küssen ihre Wangen, ihre Hände, und sie lächelt ihnen zu, versucht zu sprechen, vermag es nicht, und jedem der Knaben ist, als habe sie zuerst ihn und dann das Kindchen im Korbe angesehen mit einem inständig flehenden Blick, der es ihm, besonders ihm, seinem Schutze empfahl. Sie riefen wie aus einem Munde: „Ich thu’ ihr nichts!“ Die Mutter lächelte, ein Schauer durchrieselte ihre Glieder.

„Um Gotteswillen, sie stirbt!“ schrie Apollonia auf. Auch die Knaben schauderten vor der plötzlichen Veränderung in den Zügen der Kranken. „Lauf ins Schloß, lauf um den Doktor!“ befahl Apollonia der Magd, die ihr gefolgt war.

Vom Schlosse her kamen Leute, allen voran eilte Kosel. In Verzweiflung warf er sich neben der Entseelten nieder, weinte, schluchzte, beschwor sie um ein Lebenszeichen, um ein Wort. Vergeblich. Ihre letzte, stumme Bitte war zu ihren Kindern gesprochen worden, ihr letzter Blick hatte auf ihren Kindern geruht.


Die grausamste Antwort auf seine ständige Frage: „Was soll ihr denn geschehen?“ hatte Felix Kosel jetzt erhalten. Er empfand den Tod seiner Frau als das größte Unglück, das ihn treffen konnte, und war doch gar nicht darauf eingerichtet, Unglück zu ertragen.

Das Schicksal war ihm bisher immer mild gewesen, er hatte seine Kindheit und seine Jugend zwischen einer zärtlichen Mutter, zwei begeisterungstrunkenen Tanten und seiner Milchschwester verlebt, dieser klugen, braven Apollonia, die ihn im geheimen allerdings manchmal prügelte, aber dennoch mithalf, ihn herzlich zu vergöttern. Der Vater lachte, schimpfte wohl auch über die Weiberwirtschaft, ließ sie aber weiter florieren. Er war ein Mann von rastloser Thätigkeit, dem wenig Zeit übrig blieb für die Familie. Später, wenn sein Bub’ die Kinderschuhe ausgetreten haben würde, sollte alles anders werden, dann gedachte er ihn in die Hand zu nehmen. Felix hatte aber sein zehntes Jahr noch nicht ganz erreicht, als Herr von Kosel bei einer Eisenbahnkatastrophe ums Leben kam. Die Feldwirtschaft seines Gutes Velice wurde einstweilen verpachtet, die Familie zog nach der Provinzhauptstadt, wo Felix erst eine Vorbereitungsschule und dann, ein paar Jahre später als gewöhnliche Menschenkinder, das Gymnasium besuchte. Er machte es durch, ohne Glanz und ohne besondere Schmach, wiederholte nur die dritte und die achte Klasse, beging nicht einen dummen Streich, schloß auch keine Freundschaft. Die Mutter, die Tanten unterließen es nie, ihn vor den „Buben in der Schule“ zu warnen wie vor Klapperschlangen in Jacken und Hosen.

Nachdem er das Gymnasium absolviert hatte, trat er sein Freiwilligenjahr an. Eine schwere Zeit im Leben seiner Götzendienerinnen! Zum Regimente konnten sie ihm nicht folgen. Aber einen alten Diener – er hieß Kopetzky und war des Schreibens mächtig – gab Frau von Kosel ihm mit, einen ehrlichen Spion, der täglich über das Befinden des jungen Herrn, über sein Thun und Lassen nach Velice berichten mußte. Dort saßen die Damen nun wieder alle beisammen und warteten auf die Rückkehr des Lieblings.

Er kam heim. „Ganz unverändert!“ triumphierte seine Mutter. „Ganz der Alte, Gott sei Lob und Dank!“ sagte ihre jüngere Schwester, die fromme Renate.

Nur Charlotte, die jüngste, der Feuergeist in der Familie, die Menschenkennerin, behauptete, einen Reflex von militärischem Wesen an ihm wahrzunehmen, und wer weiß? – vielleicht hatte er Erfahrungen gemacht.

Nun, davon hatte Kopetzky nichts geschrieben, und die Worte ihrer Schwester machten keinen Eindruck auf Frau von Kosel. Es gab etwas anderes, das sie peinigte, ihr den Schlaf raubte und den Appetit. Felix schenkte in neuester Zeit seiner Milchschwester eine auffallende Aufmerksamkeit, hatte Rücksichten für sie, die ihr vermöge ihrer Stellung als „Stütze der Hausfrau“ [199] gar nicht zukamen, war in ihrer Gegenwart heiter und aufgeräumt – ja gesprächig. Sobald sie das Zimmer verlassen hatte, war seine gute Laune dahin. Frau von Kosel machte nun ganz plötzlich die Entdeckung, daß Apollonia zu einem bildschönen Mädchen aufgeblüht war, mit dem unter einem Dache zu leben eine große Gefahr für die Gemütsruhe eines jungen Mannes bedeuten konnte. Sie faßte einen raschen Entschluß. Eines Abends kam Felix von einem dreitägigen Jagdausflug zurück und fand Apollonia nicht mehr im Hause. Sie hatte sich entschlossen, den Bitten einer alten Tante nachzugeben, die schon oft nach ihr verlangt hatte. „Wie du weißt,“ sagte Frau von Kosel.

Er wußte es nicht, er wurde feuerrot und runzelte die Stirn. Das hätte er seiner Jugendgespielin nicht zugetraut, daß sie imstande wäre, ihn zu verlassen ohne ein Abschiedswort. Eine große Bitterkeit gegen sie ergriff ihn, nach und nach fielen ihm aber eine Menge Entschuldigungen ihrer Handlungsweise und ebensoviele Anklagen gegen seine Mutter ein. Er sprach nicht eine aus, er würgte seinen Groll hinunter. Er wurde nur noch stiller und mehr in sich gekehrt, als man in Velice erfuhr, der armen Apollonia sei es bei ihrer Tante so schlecht gegangen, daß sie sich aus Verzweiflung entschlossen habe, den Heiratsantrag eines alten Steuerbeamten, eines Witwers mit fünf Kindern, anzunehmen.

Frau von Kosel erwartete, daß ihr Sohn mit ihr darüber sprechen, ihr vielleicht Vorwürfe machen würde. Er blieb stumm und das beunruhigte sie mehr, als der ärgste Zornesausbruch gethan hätte.

Die kühle, trockene Frau, der niemand imponierte, die sich nie um das Urteil anderer gekümmert und sich ihr eigenes nie hatte beeinflussen lassen, kam dem schönen schweigsamen Sohn gegenüber um alle Sicherheit. Sie hatten ihr ihn doch sehr entfremdet in dem einen Jahre. Er sprach nicht, aber er handelte ihr jetzt oft entgegen und beharrte auf seinen Beschlüssen mit dem Eigensinn des Schwachen.


Stille Jahre verflossen.

Einige Monate brachte Kosel regelmäßig auf Reisen oder in Wien zu, den Rest der Zeit in Velice. Er ließ das Gut durch seine Beamten bewirtschaften, ging auf die Jagd, las Zeitungen und fand sich des Abends am Spieltisch seiner Mutter und seiner Tanten ein. Die Damen würden das Whist erfunden haben, wenn es nicht ein anderer vor ihnen gethan hätte, vermochten aber trotz aller Mühe nicht, Felix in die Feinheiten dieses edlen Spieles einzuweihen.

„Er hat keinen Spielgeist,“ meinten seine Mutter und Renate. Charlotte allein wußte: er hat auch keinen andern. Diese Erkenntnis schädigte ihre Liebe für ihn aber nicht im geringsten.

Jedesmal, bevor er verreiste, ermahnten ihn die Tanten: „Komm’ als Bräutigam zurück!“ Sie wußten, es war der innigste Wunsch seiner Mutter. Er überlegte lange, bevor er ihn erfüllte, und als es endlich geschah und er heimkehrte und ihr die große Nachricht brachte, bebte seine Stimme:

„Bevor der Fasching zu Ende geht, bin ich verheiratet, liebe Mama. Mit Fräulein Friederike Beckmann. Die Tochter des Arztes. Ja, Mama. Du kennst ihn. Im ganzen Land kennt man ihn und achtet ihn.“

Frau von Kosel lehnte sich zurück in ihre Sofaecke, zum erstenmal in ihrem Leben wandelte es sie an, als ob die Sinne ihr vergehen wollten. „Eine Doktorstochter? … Das kann ja nicht sein. Das kann dein Ernst nicht sein.“ Angstvoll starrte sie ihn an. Er hielt ihren Blick nicht aus. Der seine flackerte scheu umher, aber die zuckenden Lippen sprachen mit wohlbewußter Grausamkeit:

„Es ist. Und die kannst du nicht verschwinden lassen.“

Das traf sie ins Innerste. So hatte er ihr nicht verziehn, trug ihr durch all die Jahre nach, daß sie ihm die Gelegenheit zu einer thörichten Liebelei aus dem Wege geräumt? Und hatte geschwiegen die ganze lange Zeit und hatte seinen Groll in sich verschlossen und der Groll hatte die Liebe und das Vertrauen aufgezehrt! Sie empfand das als ein furchtbares Unrecht, das er ihr anthat, und wie kindischen Trotz, daß er sein Herz wieder an eine Unebenbürtige hing, eine Unebenbürtige zur Frau wählte. Aber sie hatte sich daran gewöhnt, ihm nachzugeben, und seinen Eigensinn so lange genährt, bis er sich beinahe zu einer Willenskraft herangebildet hatte. Die starke Frau war ohnmächtig geworden, dem schwachen Sohn gegenüber. Sie beugte ihr Haupt, sie fügte sich, sie sprach: „Bring sie mir.“

Eine unbezwingliche Rührung ergriff sie: „Bring mir aber auch meinen Sohn, den ich verloren habe, wieder.“

Er stand auf, küßte ihr die Hand und sagte in seiner abgebrochenen Weise und eher befangen als bewegt: „Ich dank’ dir … ich werd’ ihr gleich schreiben … ihr gleich die gute Nachricht geben.“

Er ging aber nicht geraden Weges nach seinen Zimmern, sondern über den Bogengang zum Turm an der Ecke des Schlosses, in dem die Tanten sich sehr traulich und mit vielem Geschmack eingerichtet hatten. Den Sibyllenturm nannte ihn Frau von Kosel.

Ein Freudenschrei aus zwei Kehlen empfing Felix, als er in den Salon der Tanten trat. Renate strickte eben Jagdstrümpfe für ihn, Charlotte kopierte seine letzte Photographie wunderhübsch in Oelminiatur.

Der bequemste Fauteuil wurde an den Tisch gerückt für den Herzensliebling, der nach einigen einleitenden: Wie geht’s? Ah schön! nicht ohne Stocken seine große Neuigkeit vorbrachte.

Die Tanten hatten ihm mit unbeschreiblicher Spannung zugehört und nicht gleich gewußt, ob er im Ernst oder im Spaß spräche.

„Eine Doktorstochter?“ rief Renate mit den Worten ihrer Schwester. „Ach geh!“

Er aber versetzte: „Wartet nur, gute Tanten, wartet, ihr werdet schon sehen!“ Und als er ihnen so herzlich, als er’s überhaupt zuwege brachte, seine Braut empfahl, kamen Renaten Thränen der Rührung in die Augen. Charlotte liebte seine Erwählte jetzt schon und versprach, sie gegen die ganze Welt in Schutz zu nehmen.

Als die zukünftige Herrin von Velice drei Tage später dort erschien, in Begleitung ihrer Eltern, am Arme ihres Verlobten, der die Reisenden auf der Eisenbahnstation abgeholt hatte, war der erste Eindruck auf alle Damen der einer grenzenlosen Ueberraschung. Die Doktorstochter, das wurde ihnen klar auf den ersten Blick, bedurfte ihres Schutzes nicht.

Die drei, die ihr mit so verschiedenen Gefühlen entgegengegangen waren, standen vor einer wahrhaft sieghaften Ueberlegenheit. Sogar Frau von Kosel gestand sich, daß von Herablassung, der Braut ihres Felix gegenüber, nicht die Rede sein könne. Sie war schön, gewinnend, wohlerzogen und bewegte sich in ihrer Wohlerzogenheit nicht wie im Staatsgewande, sondern wie im Alltagskleide.

Die Ehe Felix Kosels wurde sehr glücklich. Es dauerte lang’, bis Friederike zur Erkenntnis kam, daß sich hinter der männlichen und adligen Erscheinung ihres Mannes ein zaghaftes und dürftiges Wesen verbarg, und da sie sich keiner Täuschung mehr über ihn hingeben konnte, war ihre starke und treue Zuneigung schon zu tief eingewurzelt, um erschüttert zu werden, nur einen anderen Charakter nahm sie an. Aus einer Liebe voll Bewunderung und Erwartung wurde eine nachsichtige und fürsorgliche und auch eine dankbare Liebe. Er hatte nicht viel zu geben, aber alles, was er hatte, gab er ihr. Für andere blieb allerdings nichts übrig.

Er fühlte kaum eine Lücke in seinem Leben, als seine Mutter nach kurzer Krankheit starb und die Tanten Velice verließen.

Sie waren nach dem Tode ihrer Schwester mit bleichen Gesichtern und rotgeweinten Augen vor ihren Neffen und vor ihre Nichte getreten und Charlotte hatte gesprochen:

„Ihr werdet gewiß viele Kinderchen bekommen und viel Platz für sie brauchen und Gesellschaft genug haben an euch selbst und an ihnen. Wir wollen fort, meine Teuren, wünschen uns schon lang’, die Welt zu sehen, wir sagen euch Lebewohl.“

Herr von Kosel war erstaunt und auch ein wenig betrübt, Frau von Kosel schloß eine der Schwestern nach der andern ans Herz.

„Geht, wenn die Wanderlust euch treibt! Eure Wohnstätte in der Heimat werdet ihr deshalb nicht verlieren. So lang’ ihr die Augen offen habt, seid ihr Herrinnen im Sibyllenturm, und wer ihn betritt, ist euer Gast.“

[202] Dabei blieb’s. Die zwei Schwestern erlangten nach und nach in der Kunst zu reisen eine solche Virtuosität, daß sie mehr als einmal für Engländerinnen gehalten wurden.

Jedesmal wenn wieder eine Taufe in Aussicht stand, kamen sie nach Velice zurück und fanden ihr Zuhause immer aufs liebevollste gepflegt und aufs schönste zu ihrem Empfange geschmückt. Eine freudige Ueberraschung war es für sie, nach der Geburt Josephs, Frau Apollonia Budik als oberste Leiterin im Kinderzimmer angestellt zu finden. Ihr Mann war in den letzten Jahren völlig schwachsinnig geworden, und ihre Stieftöchter hatten sie vor die Thür gesetzt. Sie blieb ihnen zeitlebens dankbar dafür; sie hatte nur heimzukehren, nur einige Wochen im Schlosse zuzubringen gebraucht, um das Vertrauen Frau von Kosels zu erringen und von ihr in das verantwortliche Amt eingesetzt zu werden, das sie vortrefflich verwaltete.

Auch bei der Taufe der armen Kleinen waren die zwei Tanten zugegen gewesen und hatten dann für noch längere Zeit als gewöhnlich Abschied genommen. Der Ehrgeiz, auch fremde Weltteile kennenzulernen, war in ihnen erwacht. Eine Pilgerfahrt nach Jerusalem bildete den Schluß ihrer größten Reise. Und dort lagen sie vor dem Heiligen Grabe auf ihren Knien, im heißen Gebete für die Ihren, zur selben Stunde, zu der im Garten von Velice das Leben erlosch, auf das sie alle Segnungen des Himmels herunter flehten.

[230] Wenige Wochen später hielt eines Vormittags ein geschlossener Mietswagen vor dem Portal des Schlosses. Der Kutscher knallte mit der Peitsche, um Leute herbeizurufen, es kam aber niemand. Er mußte vom Bocke steigen und den Schlag öffnen. Zwei alte Damen verließen das Gefährt und glitten leise und schweigend wie Schatten durch die Halle über den Gang mit den vergitterten Fenstern und den großen feuchten Flecken an den Mauern. Vor der Treppe hielten die beiden einen Augenblick an. Sie bebten vor unterdrückter Gemütsbewegung und atmeten schwer. Langsam ging’s die Stufen hinauf, an der Thür vorbei, die zu den Gemächern der verstorbenen Herrin führte, weiter bis zur Wohnung Kosels. Noch immer ließ niemand sich blicken. Im Vorzimmer begegneten die Schwestern der ersten menschlichen Seele. Ihre irdische Hülle hatte den Umfang eines mäßigen Bierfasses, trug ein braunes Jackett, eine weiß und rot gestreifte Weste und chamoisfarbige Filzpantoffeln. In einen großen Lehnsessel zurückgelehnt, schlief sie, schon bei hellem Tage, den süßen Domestikenschlaf.

Charlotte streifte die kolossale Gestalt mit einem mißbilligenden Blick und sagte: „Natürlich,“ und als sie in das nächste Zimmer kam, das kläglich unaufgeräumt war und in dem alles nach Besen und Staubtuch schrie, sagte sie abermals: „Natürlich!“

Renate aber seufzte schmerzlich: „Armer Mensch, wie’s bei ihm aussieht!“

Nun rührte sich’s im großen, anstoßenden Wohngemach, zu dem die Flügelthür offen stand; ein Sessel wurde gerückt, Felix erschien auf der Schwelle.

„O, o, die Tanten!“ sprach er halblaut und verneigte sich höflich und fremd. Sein schönes Gesicht war dunkelrot, er befand sich in der peinlichen Verlegenheit, die ihn beim Wiedersehen nach längerer Trennung, auch von seinen nächsten Verwandten, ergriff.

Die Schwestern ließen ihre Rührung nicht aufkommen, stellten einige gleichgültige Fragen und verlangten dann, die Kinder zu sehen.

„Die Kinder?“ In dem Augenblick schien er sich zu besinnen, daß er welche hatte. „Die Kinder, ja. Die Buben – wo die nur sein mögen? Im Garten, oder im Meierhof vielleicht. Kopetzky weiß es vielleicht und ist vielleicht so gut und holt sie.“

Kopetzky war sehr überrascht, als er hereingerufen und ihm mitgeteilt wurde, welche Erwartung man auf ihn setzte. Er versprach gar nichts, und als die Damen, von Kosel begleitet, sich auf den Weg machten, um die Kleine zu besuchen, blickte der treue Diener ihnen voll stiller Empörung nach und murmelte: „Jetzt geht die Weiberwirtschaft und ’s Putzen wieder an.“

Um zu der Kleinen zu kommen, mußte man eine lange Zimmerreihe durchschreiten. Den Saal, der fünf hohe Bogenfenster hatte, und vortrefflich gemalte Säulenstellungen, grau in grau, und dazwischen allerlei mythologische, etwas gespensterhaft dreinschauende Figuren. Das Musikzimmer, den großen Salon und dann den kleinen, in dessen einem Fenster der Schreibtisch Friederikens stand. Kein zierliches Möbelstück, ein Schreibtisch, an dem ernst gearbeitet worden war, auf dem noch die großen Wirtschaftsbücher lagen, die sie gewissenhaft und genau geführt und die gewiß seit ihrem Tode nicht aufgeschlagen worden waren. Im Schlafzimmer nebenan alles noch wie einst. Das Doppelbett unter dem seidenen Baldachin, die Toilette ihm gegenüber, der Ankleidespiegel in der Ecke. Dieses Zimmer war besser gehalten als die übrigen, man sah auch, daß es in Benützung stand.

„Du schläfst noch hier?“ fragte Charlotte.

„Immer noch,“ erwiderte er und errötete neuerdings.

„Und die Kleine wohnt nebenan, wie früher?“

„Wie früher.“

„Stört sie dich nicht?“

„Die hört man gar nicht, die ist sehr still, wird bald ganz still sein,“ versetzte er und machte dazu seine gewöhnliche Miene sorgenvoller Heiterkeit, wegen der seine Frau ihn oft geneckt hatte.

„Armer Mensch, armer Mensch!“ flüsterte Renate, erschrak über die unwillkürliche Aeußerung ihrer Teilnahme und schritt rasch auf die Thür des Kinderzimmers zu. Sie öffnete sich, ein Schrei des Jubels erscholl. Apollonia rannte den alten Damen entgegen, küßte ihre Hände, konnte sich vor Freude nicht fassen.

„Daß Sie nur endlich da sind! Mit welcher Sehnsucht hab’ ich Sie erwartet! Endlich, endlich! Wie oft hab’ ich gedacht: Wenn Sie sie nur noch am Leben treffen!“ – Sie deutete auf Elika, „die Kleine, Gott im Himmel …“ rief sie und brach in lautes Schluchzen aus.

„Ja, Poli, ja,“ sagte Kosel, „aber geben Sie acht, sehen Sie die arme Kleine.“

Die arme, ja wirklich, die arme Kleine.

Sie saß, schneeweiß gekleidet, auf einem Teppich in der Mitte ihrer wohlausgepolsterten Gehschule. In ihrem durchsichtig bleichen Kindergesichtchen sprach sich Schrecken und Empörung über den lärmenden Freudenausbruch ihrer Wärterin aus. Ihre großen, blaßblauen Augen betrachteten die schreiende Apollonia strafend und vorwurfsvoll, aber sie regte sich nicht, und es kam kein Laut über ihre schmalen bleichen Lippen. Sie war schwach und so winzig! Die Kopfhaut schimmerte durch die spärlichen, hellblonden, an den Enden leicht gelockten Haare, der Mund, die feine Nase, die hohe Stirn waren merkwürdig ausgebildet, was bei dem kümmerlichen kleinen Wesen den Eindruck der Zwerghaftigkeit machte. Noch seltsamer, unheimlich fast, war die nachdenkliche frühreife Klugheit, die aus den Zügen des zarten Antlitzes leuchtete, und das resignierte Leiden, das über ihnen lag wie ein trübender und – verklärender Hauch.

Bei den alten Damen löste sich jede Empfindung, die das Kind ihnen einflößte, in grenzenloses Mitleid auf. Sie knieten nieder und sprachen zu der Kleinen liebreich und zärtlich. Sie hatte den Kopf gesenkt, warf von unten herauf einen scheuen Blick nach ihnen und bedeckte plötzlich die Augen mit den Händen, deren gelbliche dünne Fingerchen an die Klauen eines jungen Vogels mahnten.

„Nicht anschauen die arme Kleine,“ sagte sie, „nicht anschauen!“


Die Schwestern gingen in den Sibyllenturm. Ihre Reiseeffekten waren inzwischen hinaufgeschafft worden, der Schloßwärter und seine Frau schossen herum und bejammerten, daß die Damen ihre Ankunft nicht angekündigt hatten, sie würden zu ihrem Empfang alles bereit gefunden haben.

Während die Leute die Zimmer im zweiten Stocke bewohnbar machten, warteten Renate und Charlotte im ersten, in dem schönsten Gelaß des Turmes. Ein hoher, ovaler, edel gewölbter Raum, der seinen schlanken Pilastern und den zierlichen Stuccaturen an den Wänden und an der Decke ein festliches Aussehen verdankte. Jetzt freilich sah es darin nicht sehr einladend aus. Die köstlichen Empiremöbel in der Mitte zu einem Berg aufgeschichtet, die Friese und Säulenkapitäle von Guirlanden aus Spinnenweben umrankt. Und die Luft, halb Rumpelkammer und halb Kellerluft, war dumpf und muffig, und es roch nach Mäusen.

Charlotte langte einen Sessel vom Möbelberg herunter, staubte ihn, so gut es ging, mit dem Taschentuche ab und stellte ihn für die Schwester hin.

„Ich wollte nichts sagen,“ sprach Renate sich setzend, „um niemand Unannehmlichkeiten zu machen, aber das Erstaunen über unser Kommen ist kurios.“ Sie gebrauchte da, was sie ungern that, einen ihrer stärksten Ausdrücke: „Es kam mir schon ganz eigen vor, daß wir keinen Wagen aus Velice auf der Station fanden. Wir haben uns doch bei Felix angesagt, du und ich.“

„Er wird unsere Briefe nicht gelesen haben,“ erwiderte Charlotte. „Ich habe auf seinem Schreibtisch einen Haufen uneröffneter Briefe liegen gesehen. Die unsern werden dabei sein.“

Renate schüttelte den Kopf: „Das kann ich nicht glauben. [231] Für so gleichgültig und herzlos kann ich ihn nicht halten, den Armen.“

„Arm, ja, das ist er! und überhaupt – eine Armut herrscht in dem Hause, seit sie fort ist, die den andern so viel gegeben hat, daß man sie alle für reich halten konnte … Sie fort! … der Kopf, das Herz, die Seele tot. Warum? warum hat dieses schöne Lebenslicht erlöschen müssen? – Damit ein trübes Flämmchen entfacht werde, das keinem zur Freude und sich selbst zum Leid kurze Zeit hindurch ein armseliges Flackerdasein führen könne auf der Welt … Wer auch da eine weise und gütige Vorsehung anzubeten vermag …“

„Charlotte!“ fiel die Schwester ihr ins Wort. „Ein Menschenauge und Gottes unerforschliche Wege … wie du nur …“

Sie wurde unterbrochen. Auf der Treppe war’s plötzlich laut geworden. Es polterte, es dröhnte, es kam im Sturmgalopp heraufgesprengt in nägelbeschlagenen Schuhen. Die Thür öffnete sich, drei rosige, pausbäckige Kindergesichter guckten herein. Die Buben stürzten mit ausgebreiteten Armen auf die Tanten zu und riefen durcheinander:

„Grüß euch Gott, grüß euch Gott, alte Tanten! Wir haben uns schon so gefreut!“

„Ihr kommt aber spät,“ sagte Joseph und hatte auf einmal die Miene eines Richters angenommen.

„Sehr spät,“ wiederholte Leopold voll einschmeichelnder Liebenswürdigkeit, und der kleine Franz stotterte nach mit schwerer Zunge:

„Ja, sej spät!“

Ein neuer Ansturm von Zärtlichkeiten bricht los, die Fräulein haben Mühe, ihm standzuhalten. Noch größere Mühe haben sie, nicht auszubrechen in helle Wonnethränen. Ein Vermächtnis der Verstorbenen, diese in den Herzen der Kinder wach erhaltene Liebe zu den alten Verwandten. Den Schwestern ist, als sei der warme leuchtende Frühling hereingebrochen in die trübselige Stube.

Und wie der wirkliche Frühling meistens pflegt, war auch dieser sinnbildliche auf feuchten Sohlen gekommen. Die drei Jünglinge hatten an den ihren pfundschwere Stücke des fruchtbaren Lehmbodens von Velice hereingetragen, und sie selbst waren von unten bis oben mit Lehmspritzern bedeckt.

„Woher kommt ihr?“ fragte Renate, und ihre Stimme bebte vor Rührung. „Ihr seid voll Lehm, geliebte Kinder.“

Woher sie kamen? Nun, aus dem Meierhof. Im Meierhof wird der Brunnen repariert, da haben sie mitgeholfen.

„Das heißt,“ sagt Joseph, „Leopold und ich haben mitgeholfen. Der Kleine hat sich nur wichtig machen wollen. Immer will er sich wichtig machen. Bei einem Haar,“ und um die Feinheit dieses Haares recht zu bezeichnen, sprach er im höchsten Falsett, „bei einem Haar wär’ er ins Wasser geplumpst. Aber der Brunnenmeister hat ihn noch erwischt.“

„Ueberall plumpst er hinein,“ versicherte Leopold. „Vorgestern in den Teich, weil er eine Katz’, oder wer weiß was, hat herausziehen wollen.“

Joseph lachte: „Und dann hat er sich an einen Baum angehängt und hat sich geschaukelt zum Trocknen.“

Der Kleine hatte den Spott seiner Brüder mit scheinbar philosophischer Ruhe hingenommen. Im Wortstreit zog er immer den kürzeren und pflegte auch meist nur handgreifliche Argumente vorzubringen. Während Joseph und Leopold sprachen, hatte er sie abwechselnd angesehen, als ob er mit sich zu Rate ginge. Plötzlich schoß ein heißer Blick aus seinen dunklen, tiefliegenden Augen, er war entschieden, sprang den Ältesten, Stärksten an und schlug ihm mit der kleinen, breiten Faust, so derb er konnte, ins Gesicht.

Die Tanten erschraken, Joseph zuckte die Achseln. Er hatte den Knirps ausgelacht, der Knirps hatte sich gerächt, jetzt war alles in Ordnung.

Bald darauf herrschte Frieden und die Kinder richteten alles zu einem behaglichen Plauderstündchen ein. Die Glasthür des schmalen runden Balkons wurde geöffnet und Fauteuils für die Tanten zu ihr hingerückt. Sie müssen doch sehen, wie die Bäume des Gartens ihnen „Grüß Gott“ zunicken, und die Aussicht müssen sie genießen, auf den Hostein, auf dem vielleicht schon in einigen Jahren eine große Kirche erbaut werden wird. Der Herr Pfarrer glaubt es, und der Herr Kaplan weiß es bestimmt.

Vom Dorfe her ertönte das Geläute der Aveglocke. Die drei erhoben sich zugleich und verrichteten ihr Gebet, nicht gerade in Andacht hinschmelzend, aber in guter Haltung und mit großem Ernste.

Nachdem die religiöse Pflicht erfüllt war, machte Franz einen Freudensprung, Leopold rief:

„Ach was wir froh sind, daß ihr wieder da seid, liebe Tanten!“ und Joseph versicherte:

„Wir haben, seit die gute Mama tot ist, niemand und niemand.“

Wieso? Sie hatten den Papa. – Ach, von dem Besitz schienen sie nicht viel zu halten! Und mit Elika wird’s nächstens aus sein, und der Herr Kaplan und der Lehrer, keins kann eine Geschichte erzählen und ein Märchen schon gar nicht, wie Tante Charlotte fünfzigtausend weiß. Die Poli höchstens so ein paar alte Geistergeschichten …

„Pah!“ Leopold machte eine wegwerfende Handbewegung – „bei denen einem nicht einmal gruselt.“

Franz hatte die Arme gekreuzt und machte sein trotzigstes Gesicht. Ein Bild der Kraft, das derbe Bürschlein, und komisch der Kontrast zwischen seiner keimenden Männlichkeit und seiner lallenden Sprache: „Gjuselt einen nicht einmal!“

„Aber Kinder,“ meinte Charlotte, „wenn ihr Geschichten und Märchen gern habt, nehmt doch ein Buch und lest!“

Die Buben hoben die Köpfe. Ein Lächeln blitzte über drei Gesichter, ein dreifaches: „Ach nein!“ wurde mehr gegähnt als gesprochen, und Franz erklärte aus seiner eigenen und der Seele seiner Brüder heraus:

„Tante, lesen, das intejessit uns absolut nicht!“

So? und was interessierte sie denn? – Was? – Alles! Sie wurden ungeheuer mitteilsam und schwatzten sich satt. Sie erzählten vom Tod der guten Mama, und wie schön sie im Sarge war. Ihren Ring hat sie am Finger gehabt, und wie man ihr ihn hat wegnehmen wollen, hat der Papa geschrieen, so laut wie er nie schreit: „Lassen, lassen!“ So ist sie mit ihrem Ring begraben worden. Und die Leute haben gesagt: „Die Kleine sollt’ man ihr auch mitgeben, die ist so schwach, die wüßt’ nichts, die möcht’ am Herzen der Mutter einschlafen und im Himmel aufwachen. Aber das ging doch nicht, und man muß warten, bis sie von selbst stirbt, und so lange sie noch lebt, muß man halt alles thun, was sie will. Und wenn man’s einmal nicht thut, o, da wird die Poli gleich grob! Und neulich hat die Kleine fahren wollen und Joseph hat sie gezogen – im Garten, im Korbwagen, und nie war’s der Kleinen schnell genug. So ist Joseph gerannt, immer schneller, immer schneller, bis er umgeworfen hat.“

„Den Wagen?“ rief Renate, „und die Kleine war drin im Wagen?“

„Nein,“ erwiderte Joseph sehr gelassen, „wie ich umgeworfen hab’, war sie nicht mehr drin.“

„Sie ist herausgestürzt und hat sich weh gethan und hat geweint?“

„Weh gethan, ja, sie hat ein ganz kleines, rosenfarbiges Blutstropferl gehabt, da auf der Wange … Aber geweint? o die! gelacht, mich ausgelacht … O die! wie die einen auslachen kann, wie die lustig sein kann!“

Franz hatte so angestrengt nachgedacht, daß es ihm augenscheinlich weh that. Jetzt stieß er einen tiefen Seufzer aus und sagte:

„Sie weiß, daß sie bald sterben muß, da will sie geschwind noch ein bißel lustig sein.“


Einige Tage später sagte Charlotte zu ihrem Neffen: „Lieber Felix, deine Buben sind famose Buben. Sie kennen alle Vögel, Bäume, Pflanzen, jeder von ihnen ist eine kleine wandelnde Naturgeschichte. Sie können ackern, mauern, tischlern, sägen, striegeln, satteln, aber lesen und schreiben können sie nicht.“

Nicht lesen und schreiben? Wie meinte das die Tante? Wie sollten sie nicht lesen und schreiben können, da ihnen der Schullehrer schon seit mehreren Jahren Unterricht giebt? Und so oft Herr von Kosel den Mann zufällig begegnet und ihn fragt: „Sind die Buben brav?“ erhält er zur Antwort: „Sehr brav.“

[232] Charlotte beschloß, einmal an einer Lehrstunde teilzunehmen, und führte am nächsten Tage ihren Vorsatz aus.

Schloß Velice bildete ein regelmäßiges, einstöckiges Viereck; in der Ecke, dem Sibyllenturm schräg gegenüber, befand sich das riesige sogenannte „Bubenzimmer“. Es hatte einen tiefen Alkoven, in dem, durch Waschtische getrennt, die Betten der drei standen, und glich am Morgen, nach der beendigten Toilette seiner Bewohner, mehr einem See als dem Aufenthaltsort auf dem Festland lebender Wesen. Das eigentliche Zimmer bot den Anblick chaotischer Zustände. Auf den ersten Blick entwirren, was da alles durcheinander lag und hing und hervorquoll aus den offen stehenden Schränken und Laden, war unmöglich. Ein Sammelsurium von Werkzeugen, zertrümmerten Möbeln und Spielsachen, getrockneten Pflanzen, aufgespießten Käfern und Schmetterlingen, Mineralien, Waffen, Musikinstrumenten bedeckte die Tische, den Fußboden, die wenigen Sessel, die noch auf ihren vier Beinen standen. An dem breiten Pfeiler zwischen den Fenstern, links vom Alkoven, lehnte ein Kanapee und diente in diesem Augenblick dem Schullehrer als Lagerstätte. Er war ein mittelgroßer, derb gebauter Mann, mit kurzem Hals und wuchtigem Kopf, von dem die Ohren wie ein paar Fledermausflügel abstanden. In seinem flachen Gesichte fehlte nicht eine Schattierung vom lichten bis zum gebrannten Ocker; er sah verbittert und böse und sehr gescheit aus. Seinen Anzug bildeten weite dunkle Beinkleider, eine abgetragene Czamara und ein rotgestreiftes Flanellhemd mit tintenbeklecksten Manschetten. Er las laut aus einer böhmischen Grammatik vor, indes seine Zöglinge munter Federball spielten. Sie zählten eben hundert, als Charlotte eintrat, und begrüßten sie voll Freude und riefen ihr zu:

„Spiel’ mit, Tante! spiel’ mit!“

Sie dankte, sie war nicht gekommen, um sich zu unterhalten, sondern um der Unterrichtsstunde zu assistieren.

Die arme Tante, der Unterrichtsstunde? o je, da kam sie zu spät, die Unterrichtsstunde war gleich vorbei.

„Wir sind fertig,“ sagte der Lehrer, der aufgestanden war, und klappte sein Buch zu.

„War das jetzt eine Unterrichtsstunde?“

„Zu dienen, Gnädige.“

Die Buben warfen ihre Raketten hin und stürmten in den Garten. Gern wäre der Lehrer nun entschlüpft, doch bequemte er sich, zu bleiben, weil ihn das Fräulein so sehr höflich darum bat. Um aber seine Ungeduld und das Opfer, das er brachte, zu markieren, warf er fortwährend sehnsüchtige Blicke nach der Thür.

Eine Verlegenheitspause entstand. In ihrem altjüngferlichen Respekt vor jedem männlichen Wesen fand Charlotte nicht gleich das rechte Wort, um die Bedenken, die sich in ihr erhoben hatten, schonend genug auszusprechen. Endlich begann sie in bescheidenem Tone:

„Ich bitte um Entschuldigung, Herr Lehrer; ich möchte nur fragen, ob es nicht vielleicht besser wäre, wenn die Knaben sich zum Unterricht zu Ihnen, Herr Lehrer, an den Tisch setzen und lieber nicht Federball spielen würden.“

Er lächelte. Charlotte behauptete später, es sei ein so grüngelbes Lächeln gewesen, wie sie in ihrem ganzen Leben keines gesehn hätte, und erwiderte: „Sie thun’s nicht, sie setzen sich nicht …“

„Auch nicht, wenn Sie es ihnen befehlen?“

Dazu besitze er kein Recht, lautete seine Antwort. Der gnädige Herr habe ihm vielmehr aufgetragen, die jungen Herren spielend zu unterrichten.

„Das heißt aber nicht, daß die Kinder während des Unterrichts spielen sollen.“

„Sie legen es so aus, sie sagen: ,So hat der Papa es gemeint‘. Ich käme da schön an, wenn ich von ihnen Fleiß verlangen würde wie von den Kindern gemeiner Leute.“

Es fiel ihm denn auch nicht ein. Er gab seine Unterrichtsstunden, das war seine Sache; daß die jungen Herren nichts lernten, war ihre Sache. Und wozu brauchten sie „da“ zu lernen? Hatten sie „da“ nicht ohnehin alles, und würden es ihr Leben lang haben, eine schöne Wohnung und schöne Kleider und gutes Essen. Warum sollten sie auch noch Wissen haben? Dieser einzige Reichtum, der nicht vererbt werden kann, den sich jeder selbst erwerben muß, bleibe ihnen nur vorenthalten, bleibe der Henkel, an dem der Arme, der etwas weiß und versteht, sie faßt und von sich abhängig macht.

In dem Sinne sprach er eine Weile weiter und breitete allmählich sein ganzes Innere vor ihr aus. Welch’ ein Inneres! wie so ganz erfüllt von dem kläglichen Haß, der seine Wurzeln im Neide hat. Wieder eine Armut, auf die man in diesem Hause stößt, dachte Charlotte und empfand tiefes Mitleid und sagte in ihrer Großherzigkeit und ihrer Gerechtigkeitsliebe:

„Ihre Auffassung ist sehr merkwürdig, Herr Lehrer, aber eine gewisse Berechtigung will ich ihr nicht absprechen. Nur eins, Herr Lehrer, muß ich Ihnen gestehen, ich würde einen Mann, der diese Anschauungen hat, nicht gerade zum Instruktor meiner Kinder machen, wenn mir der Himmel welche geschenkt hätte.“


Ein trauriger Tag auf Schloß Velice. Die Kleine hatte einen der Schwächeanfälle gehabt, die sogar Frau Apollonia Budik in Bestürzung versetzten. Aber Elika erholte sich und verlangte nach ihren Brüdern. Sie kamen und rauften miteinander um den besten Platz zunächst am Gitterbettchen der Schwester, was ihr zwar Vergnügen zu machen schien, von Frau Budik jedoch nicht lange geduldet wurde. Sie mußten sich alle drei schön in eine Reihe setzen, und Joseph erzählte Geschichten, die Leopold und Franz über alle Begriffe dumm fanden, die aber der Kleinen gefielen. Sie hörte ganz zufrieden zu, bis sie einschlief.

Der schwere Augenblick, auf den man sich immer gefaßt machte und vor dem man immer zitterte, war einmal wieder in die Zukunft verlegt worden. Im Hause atmeten alle freier, als die momentane Gefahr für das Leben des Kindes glücklich vorüberging. Es wird noch trauriger werden, wenn sie fort sein wird. Man hat sich an den Anblick des blassen Geschöpfchens gewöhnt, die Kühlsten, die Gleichgültigsten fühlten eine warme teilnehmende Regung, wenn sie an ihnen vorbeigetragen oder vorübergeführt wurde in ihrem Korbwägelchen. Sie hatte etwas in ihrer Miene, das sagte: Seid gut mit mir, ihr werdet nicht mehr lange Gelegenheit dazu haben. Jedem flößte sie Erbarmen ein und machte niemand Mühe. Stundenlang konnte sie in ihrer Gehschule sitzen, mit einer Puppe, einem Schächtelchen, einem Knäuel spielen, oder eine ganze Weile hindurch laut- und bewegungslos mit weitgeöffneten Augen vor sich hinschauen.

„Wie der Papa. Sie denkt auch, lauter gescheite Sachen,“ sagte dann Frau Budik, deren Zuneigung für ihren Gebieter sich, nach dem Tode seiner Gattin durch Mitleid verstärkt, zu einer Art Fanatismus ausbildete. „Sie würde gewiß ein eben solcher Engel und ebenso gescheit werden, wie er ist, wenn sie am Leben bliebe.“

Dem traurigen Tage folgte ein trübseliger Abend. Das Nachtmahl war vorüber, das Kindervolk schlafen gegangen; man hielt, was Charlotte die Orgie der familienüblichen Langweile nannte, im Schreibzimmer Kosels ab.

Renate saß neben dem Herrn Pfarrer auf dem Kanapee hinter dem runden Tische und arbeitete an einem Wunderwerke der Strickkunst, einem Prachtkleidchen für ein beneidenswertes Dorfkind. Ueber ihr schönes, sanftes Gesicht glitt von Zeit zu Zeit ein Schatten resignierter Müdigkeit. Sie beugte sich vor, die schweren Lider fielen zu, aber nur einen Augenblick. Sofort hatte sie sich aufgerichtet und strickte bedächtig weiter. Der Pfarrer, ein alter, freundlicher Herr mit rundem slavischen Gesichte und kahlem Haupte, war nicht viel munterer. Er zog sehr oft die Tabaksdose aus der Tasche seines langschößigen Rockes und schnupfte ohne rechtes Bedürfnis und ohne rechten Eifer. Sein Gegenüber bildete Kosel und das Renatens die im stillen rebellierende Charlotte.

Ihr war jedes Talent zu Handarbeiten versagt, und doch hatte sie einen wahren Abscheu gegen den Müßiggang; stillsitzen und nichts thun verursachte ihr Pein, und diese Pein rief aggressive Gefühle gegen ihre Umgebung, natürlich nur die unbelebte, hervor. Gegen den faden, runden Tisch, auf dem die fadeste Lampe stand, unter deren grünem Schirm ein Hanswurst in Gähnkrämpfe verfiele! Gegen das ganze Zimmer, gegen die blaugrauen Ueberzüge der Möbel und die flachen blanken Stahlknöpfe in den Stepplöchern! Hat man je etwas so Albernes gesehen wie blanke [234] Stahlknöpfe als Möbelschmuck? Gegen den riesigen Schreibtisch, auf dem immer große Unordnung herrschte und an dem nie ein vernünftiges Wort geschrieben wurde. Ach Gott, nicht einmal ein unvernünftiges! … Langweile! Langweile! Sie kauerte auf aschgrauen Flügeln oben an der Decke, und sobald Menschen eintraten in das Zimmer, das sie zu ihrem Wohnort erkoren hatte, ließ sie sich hinuntergleiten an den Wänden und fiel ihnen auf die Brust.

Nun suchte der Herr Pfarrer die Feindin zu bekämpfen und das Gespräch aufzufrischen. „Haben die Herrschaften schon gehört,“ fragte er, „daß der Herr Bornholm einmal wieder angekommen ist aus Neusüdwales und in Valahora umgeht?“

„Sie sprechen von ihm wie von einem Gespenst,“ erwiderte Renate, und Herr von Kosel, der Harmlose, der Schweiger, öffnete seinen Mund zu den unguten Worten:

„Wenn er nur schon eins wäre!“

Sein einziger Haß, dieser Herr Levin Bornholm, der ein Lotterleben führte, dieser moderne Frechling, der einen nicht grüßte, nicht an Gott glaubte, nie eine Kirche betrat. Er gehörte auch gar nicht hierher, war als Kind mit seinen Eltern vor fünfundzwanzig Jahren aus Schweden gekommen. Warum die Familie ausgewandert war, wußte man nicht und war voll Mißtrauen und auch voll Neid. Bornholm, ein rauher, düsterer Geselle, schien wohlhabend und hatte Valahora, als es nach dem Tode seines letzten, zu Grunde gegangenen Besitzers unter den Hammer kam, viel zu billig erworben. In allem Anfang schon – Kosel setzte das umständlich auseinander – verfeindete sich der nordische Bär mit der ganzen Nachbarschaft, warf den Leuten Prügel vor die Füße, zettelte Grenzstreitigkeiten an. – –

Das Thema Bornholm war eines der wenigen, die Kosel mit Interesse ergriff und nicht wieder losließ. Die Schwestern wußten jeden Satz auswendig, der nun kommen, und daß der Herr Pfarrer nach dem Worte „Grenzstreitigkeiten“ sagen würde:

„Bah, bah, bah! An den paar Streifen Feld ist ihm nichts gelegen. Er wollte Zank und Hader erregen und gemieden werden, daran lag ihm … Wegen der Frau!“ Und nun richtete der gute Pfarrer seine Augen auf die Damen und sein blinzelnder Blick machte sie aufmerksam: Geben sie acht, jetzt kommt’s: „Aus Eifersucht,“ fuhr er mit geheimnisvoll gesenkter Stimme fort. „Es sollte ihr niemand in die Nähe kommen außer der alten Alwilde, der Dienerin, die sie mitgebracht hatten. Er war eifersüchtig auf sein eigenes Kind, auf eine Blume, an der sie gerochen hat, auf ihren Seelsorger war er eifersüchtig. So ein Protestant!“

Er Protestant, sie Katholikin. Daß sie ihn aber auch geheiratet hat, ich hab’ es nie begriffen,“ sprach Renate, die immer im richtigen Augenblick in das Tonstück einfiel. „Arme Frau, sie hat gebüßt, sie hat viel gelitten.“

„Vielleicht doch nicht ganz unschuldig,“ sagte Kosel, und der Pfarrer erwiderte eifrig:

„Verzeihung, ganz unschuldig!“

Sein Widerspruch blieb unbeachtet: „Ja, die Geschichte mit dem jungen Schweden, der plötzlich hier aufgetaucht ist, und den Bornholm geschwind wieder auf die Eisenbahn gebracht hat.“ Auch Kosel hatte nicht das Bewußtsein, daß er gar Wohlbekanntes vorbrachte. Wenn er es aber gehabt hätte, würde ihn das nicht gehindert haben, einmal im Zuge, fortzufahren in seinem langsamen Tempo: „Sie sind zusammen abgereist, und als Bornholm zurückgekommen ist, hat er gehinkt. Hat eine Kugel in der Hüfte gehabt und zeitlebens behalten. Er hatte sich mit dem Schweden duelliert und ihn erschossen, vermutet man. Gewiß ist nur, daß er seine Frau nachher bis zu ihrem Tod im Schloß gefangen gehalten hat. Ja, die Geschichte mit dem Schweden,“ wiederholte Kosel und blickte so aufmerksam vor sich hin, als ob ein ganzes Panorama an ihm vorüberzöge.

„Er war ein furchtbarer Mensch, dieser alte Bornholm,“ rief Charlotte. „Lassen wir ihn aber jetzt in Frieden ruhen.“

„Der Sohn ist, fürchte ich, ärger als der Vater,“ murmelte Renate im Halbschlafe. In wachem Zustande würde sie eine solche Anklage nicht über die Lippen gebracht haben.

„Ich weiß es nicht, möchte es aber nicht glauben,“ versetzte der Pfarrer. „Am Totenbett seiner Mutter hat er sich sehr gefühlvoll gezeigt. Man hätte freilich auch ein Stein oder – Gott verzeih’ mir’s – der alte Bornholm sein müssen … Eine Märtyrerin … Als ich gerufen worden bin, um ihr die letzten Tröstungen zu spenden, war ich jung; jetzt bin ich alt. Bei einem Sterben wie dem ihren bin ich nie mehr gewesen. Kein Sterben – eine Himmelfahrt!“

„Aber die Geschichte mit dem Schweden,“ sagte Kosel. Sein Gedankenapparat hatte eine Stockung erlitten; er war beim letzten Satz stehen geblieben.

Die große Pendeluhr am Pfeiler hob zum Schlagen aus: Freundin, schlag Zehn! rief Charlotte sie im stillen an; verkündige die Stunde der Erlösung! Die Angeflehte schlug, aber – was? Schnöde Neun und dann Eins. Ein Viertel nach Neun. Drei Viertelstunden hat man noch sitzen zu bleiben und zu thun, als ob es nicht anders sein könnte! Warum so thun? Weil’s Hausbrauch ist. – Was ist Brauch? was erhebt sogar die blödsinnigste Einrichtung zum Brauch? – das sklavische und gedankenlose Festhalten an ihr.

O, den Mut haben, zu protestieren! „Nein“ zu sagen zu der öden Tyrannei, sich zu erheben, Gute Nacht zu wünschen und in sein Zimmer zu gehen, wo die vielen Rechenbücher warten und wo es Arbeit in Hülle und Fülle giebt. Charlotte hat den Mut nicht und nicht die Kraft, die Ordnung der Dinge umzustürzen, aber sie hat anarchistische Gefühle, und die dämonische Macht, die den Arm des Bombenschleuderers leitet, brennt ihr auf der Zunge.

„Felix,“ sagt sie plötzlich, „deine Buben brauchen einen Hofmeister.“

[262] Die Wirkung dieser gesprochenen Bombe war sehr groß. Kosel blickte verstört um sich, überall Hilfe suchend gegen das Attentat Charlottens auf seine Selbstbestimmung und Selbstherrlichkeit. Wußte er nicht ohnehin, was jeder in seinem Hause brauchte? war nicht für alles aufs beste gesorgt? war die Einzige, die in derlei Angelegenheiten mitzureden gehabt hätte, nicht für immer verstummt? Traurige Verlassenheit, in der er sich befand, herzbrechende! Nun ja, sie war ja fort, die ihn geliebt, bewundert, und wenn geleitet, rücksichtsvoll und schonend geleitet hatte. Jetzt sollte er nur so ohne weiteres geleitet werden.

Er bäumte sich auf. „Tante Renate! Herr Pfarrer!“ rief er, „sind auch Sie der Meinung, daß meine Buben einen Hofmeister brauchen? Ist denn ihre Erziehung bisher vernachlässigt worden?“

„Vielleicht nur nicht genug überwacht,“ erwiderte Renate mit einem um Entschuldigung bittenden Blick. Und der Herr Pfarrer erklärte in seiner freundlich entschiedenen Weise, er fände, daß es Zeit wäre, einen Erzieher für die jungen Herren zu suchen.

„Suchen? Ja, suchen wäre freilich leicht. Aber wie sieht es mit dem Finden aus, um das es sich dabei doch handelt, einzig und allein?“ … versetzte Kosel. „Suchen – finden! das sagt man so; doch welche Kluft zwischen suchen und finden liegt, bedenkt man nicht.“

Er vertiefte sich in teils ausgesprochene, teils unausgesprochene Betrachtungen über diese Kluft, bis die gute Pendeluhr Zehn schlug und man schlafen ging.

Das Ende war, daß die Tanten suchten und der Neffe glaubte gefunden zu haben. Eines Tages erschien vor Kosel ein langer, hagerer, dürftig gekleideter Mann mit großem Kopf, großen Zügen und einer Fülle grauer, welliger Haare, der einen Empfehlungsbrief vom Herrn Landesschulrat überbrachte. Er verneigte sich ehrerbietig und sagte etwas, aber so leise, daß es unmöglich war, ihn zu verstehen. Seine Stimme und die knochige Hand, die einen Brief und ein Paket Zeugnisse überreichte, zitterte, und dieses Zittern war Herrn von Kosel schmeichelhaft.

„Setzen Sie sich,“ sprach er und las den Brief des Landesschulrats langsam und aufmerksam durch. „Sie heißen Heideschmied, wie ich mit Vergnügen sehe,“ begann er nach beendeter Lektüre und brauchte zum Glück niemand Rechenschaft zu geben von dem Grunde seines Vergnügens.

„Wilhelm Heideschmied,“ flüsterte der Angeredete äußerst beklommen.

„Und Sie wünschen die Stelle eines Erziehers bei meinen Söhnen zu übernehmen …“

„Ich wäre glücklich …“

„Und der Herr Schulrat empfiehlt Sie warm, ja, ja, warm,“ bekräftigte Kosel. „Es freut mich, Sie gefunden zu haben. Aber, Herr Heideschmied …“ Er warf einen Streifblick auf den schüchternen Mann, den ein Schauer nach dem andern durchbebte: „Meine Söhne sind wild, sehr wild.“

„Das ist recht,“ lautete die überraschende Erwiderung, „das ist mir ganz recht, meine früheren Zöglinge waren auch sehr wild.“

„Dann werden Sie wohl eine gute Methode haben,“ bemerkte Kosel und verbreitete sich ein bißchen und mit häufigen Wiederholungen über den Wert einer guten Methode. Heideschmied hörte andächtig zu, blieb immer gleich bescheiden und ehrfurchtsvoll, aber das Zittern legte sich. Es kam auch nicht wieder zum Vorschein, als Herr von Kosel ihn in den Sibyllenturm führte, um den Damen den Erzieher vorzustellen, den er für seine Söhne gewählt hatte.

Die Schwestern waren gewinnend liebenswürdig, und als man in den Garten ging, um die „Buben“ aufzusuchen, vertraute Renate Herrn Heideschmied an:

„Wir wissen, mit wem wir es zu thun haben. Meine Schwester hat Ihretwegen im Auftrage meines Neffen mit dem Herrn Landesschulrat in Korrespondenz gestanden.“

Auf die jungen Herren mußte ein Treibjagen abgehalten werden wie auf Hasen. Endlich kamen sie in Sicht. Joseph und Leopold zu Pferde, Franz, ein Paar störrischer Böcke kutschierend.

„Steigt ab! steig aus!“ rief Kosel. „Kinder, begrüßt den Herrn Hofmeister!“

„Gleich, Papa, gleich!“ gaben sie zur Antwort und stürmten weiter. Heideschmied sah ihnen mit freudig leuchtenden Augen nach und sprach leise: „Es sind herrliche Kinder, ich liebe sie schon.“

– – – – – – – – – – – – –

Nachmittags saß Kosel im Zimmer Elikas, auf seinem gewohnten Platz, einem niedrigen Fauteuil in der Ecke neben dem Fenster, aus dem sich ein Ausblick über den Gruftgarten bot. Er war durch die Straße vom Parke getrennt, der das Schloß umgab, und bildete eine breite, eingefriedete Bucht in die angrenzenden Felder. Das vergoldete Kreuz der Kapelle glänzte im Sonnenschein zwischen den Bäumen und sprühte feurige Funken durch ihre Wipfel, die der Wind leise schaukelte.

Kosel war in eine seiner dumpfen Träumereien versunken. Ja, dachte er, es kommt wirklich vor, daß wer sucht, findet. Da hab’ ich jetzt einen Hofmeister für die Buben gefunden und habe ihn engagiert, habe einen solchen Entschluß gefaßt – ich allein – ohne sie … Aber ... wer weiß? vielleicht nicht ohne sie. Vielleicht war sie’s, die den Mann geschickt hat, vielleicht wacht sie drüben über ihre Kinder und sorgt für sie, und ist noch bei uns, im Geiste … und das ist so viel … so viel …

Aber dieses „viel“ schien ihm doch lang’ nicht genug. Eine brennende, rat- und hilflose Sehnsucht erfaßte ihn gar oft. Er senkte das Haupt und begegnete einem fest und unverwandt auf ihn gerichteten Blick. Dem Blick des Kindes. Elika saß außerhalb der Gehschule auf dem Teppich, ganz und gar als glückliche Mutter. Sie hielt eine Puppe ans Herz gepreßt, eine lag auf ihrem Schoße, ein halbes Dutzend anderer umgab sie im Halbkreis, teils auf Stühlchen sitzend, teils in Wiegen gebettet. In dem Augenblick jedoch hatte sich ihre Aufmerksamkeit von ihnen ab- und Herrn von Kosel zugewendet. Forschend, durchdringend betrachtete sie ihn. Auf einmal ließ sie ihre Puppe zur Erde fallen, und mit Bedacht und mit einer wunderbaren Energie erhob sich das winzige Ding und stand auf seinen Beinchen.

Frau Budik, die sich still in der Tiefe des Zimmers gehalten hatte, um den gnädigen Herrn in seinen Gedanken nicht zu stören, stieß einen Schrei der Ueberraschung aus. Vorgestern erst hatte sie versucht, die Kleine auf die Füße zu stellen, und sie war hin und her gewankt und hatte gewarnt: „Nicht fallen lassen! nicht fallen lassen!“ …

Bei dem Kind kam alles anders als bei andern Kindern. Sie sprach wenig, aber von Anfang an deutlich und verständlich. Einen einzigen Schritt zu machen, war sie bisher unfähig gewesen – und jetzt ging sie, weil sie wollte, weil sie den Entschluß gefaßt hatte – ging geradeswegs auf ihren Vater zu, legte, bei ihm angelangt, die Aermchen auf sein Knie, sah zu ihm hinauf und sagte:

„Armer Papa!“

Er war verwundert, er blickte sie nicht ohne Interesse an. Regungen der Zärtlichkeit für seine Kinder kamen selten bei ihm vor; nun aber empfand er eine Art von wohlwollender und mitleidiger Zuneigung für seine Jüngste, für die unschuldige Muttermörderin. Er ließ die Hand über die Haare des Kindes gleiten.

„Sie ist herzig,“ sprach er zu Frau Budik. „Schad’, daß sie nicht bei uns bleiben soll.“




Es war die Gewohnheit des Nachtwächters von Velice, sich, nachdem er Zehn getutet hatte, in seinen Mantel zu wickeln, auf eine der breiten, steinernen Bänke auszustrecken, die rechts und links vom Portale des Schlosses standen, und einzuschlafen. Wenn er erwachte, gleichviel ob in stockfinsterer Nacht, ob im Morgengrauen, tutete er Elf. Von der Schloßuhr hatte er keine [263] Berichtigung zu befürchten, die ging längst nicht mehr, weil sie entweder sehr krank, oder vielleicht nur nicht aufgezogen war.

Aus seinem ersten, seinem allerbesten Schlaf wurde der Nachtwächter heute durch heftiges Niesen, in das er ausbrechen mußte, geweckt. Er fuhr auf. Das war kein natürliches, innerlich bedingtes Niesen, das war ein tückisch von außen hervorgerufenes gewesen. Jemand hatte ihn an der Nase gekitzelt, sie juckte ihn noch, und nun war ihm, als ob er ein Kichern vernehme. Sehen konnte er nichts, es war sehr dunkel, und nicht ein Stern am Himmel. „Wer da?“ rief er emporschnellend … Stellte ihm jemand ein Bein, stolperte er über seinen Mantel – wer weiß es? – im nächsten Augenblick lag er auf dem Boden und brüllte: „Diebe! Diebe!“

„Still!“ raunte eine Stimme ihm zu, die er als die des jungen Herrn Joseph erkannte, und eine kräftige Hand preßte sich mit solcher Stärke auf seinen Mund, daß er zu ersticken meinte. „Wenn Ihr nicht schweigt, erfährt der Verwalter morgen, wie Ihr Euren Dienst verseht. Dann freut Euch!“

„Herr Jesus, Sie werden mich nicht unglücklich machen wollen!“ stammelte Kaspar.

„Wir werden schon sehen, was ich will. Jetzt sag’ ich Euch nur eins: drüben, auf der andern Seite des Schlosses, wo unsre Zimmer sind, steht ein Fenster offen, und von ihm hängt ein Seil herab. Haltet Wache bei dem Seil. Ich muß es wiederfinden, wenn ich zurückkomme in einer Stunde oder in zwei.“

„Wohin denn, jetzt in der Nacht, Herr Joseph? Sie sollen zu Hause bleiben …“

„Ja, ja! Ihr werdet mir sagen, was ich soll! Mit Gott, Kaspar, und denkt an den Herrn Verwalter!“

Der Kies knisterte nicht lauter, als wenn ein welkes Blatt über ihn hingeraschelt wäre …

„He! he! Herr Joseph!“ Kasper sagte sich, daß er ihm nach, ihn einholen und zurückbringen sollte. Der junge Herr hat nicht herumzulaufen in der Nacht. So zündete der Wächter seine Blendlaterne an und rannte die Scarpe hinauf in der Richtung, von der aus er meinte, das Knistern vernommen zu haben. Aber o je! o je! – fange du den Wind im Felde! Der junge Herr, der die Kraft eines Bären hatte, hatte zugleich die Leichtigkeit einer Schwalbe. Auf den frisch gerechten Wegen war nicht die Spur eines Fußes zu entdecken. Ja, ja, so einer, der auf verbotenen Pfaden geht, springt über die Wege und läuft über die Wiesen. Der Nachtwächter gab die aussichtslose Verfolgung auf und näherte sich wieder dem Hause. Dunkel und totenstill lag der große Würfel da, nur im Sibyllenturm brannte noch Licht. Das fromme Fräulein Renate erwartete wie gewöhnlich die Mitternacht im Gebete. Kaspar ging weiter, die Mauer entlang, sich zu überzeugen, ob wirklich ein Seil von dem Fenster, das Joseph ihm bezeichnet hatte, niederhing. Es war da. Der vermaledeite Bursche hatte sich wirklich an ihm herunterlassen müssen. Wie wäre er sonst unbemerkt aus dem Hause gekommen? – und lief jetzt weiß der Teufel welchen Abenteuern nach.

Früh fängt er an und man muß sagen: da fällt der Apfel weit vom Stamm. Da war der Vater sein Lebtag anders, dem hat die böseste Zunge „nie nichts“ nachsagen können. – Der Joseph indessen … Was das nur sein mag, das den nicht schlafen läßt? Kaspar bringt eine Weile mit Kopfschütteln zu und schüttelt wirklich allerlei Gedanken heraus, die aber sämtlich nichts wert sind. Zuletzt kommt dennoch ein guter. Nach Valahora wird er gegangen sein. Um Valahora schnüffeln s’ immer herum, die jungen Herren, obwohl es ihnen verboten ist, oder gerad’ deswegen … Und jetzt ist ja der Bornholm da, der Teufelsbraten. Und zu dem schleicht er sich. Gut zu wissen, Herr Joseph, so, so! Jetzt verklagen Sie mich beim Verwalter, Herr Joseph!

Kaspar breitet seinen Mantel auf den Rasen aus und legt sich nieder, um das Seil bequemer zu überwachen.

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Der Fußweg von Velice nach Valahora ließ sich von einem guten Geher in fünfundzwanzig Minuten zurücklegen. Er führte zwischen Feldern, am Rand eines Wäldchens vorbei, immer auf und ab über kleine Erdbuckel bis zu dem großen, der steinerne Rippen hatte, und auf dem das dunkle unwirtliche Valahora sich erhob. EIn Haus, das auf einem Berge steht, sagt gewöhnlich: Komm her! Dieser festungsartige Cyklopenbau sagte: Hüte dich! Geh!

Nichts Traurigeres als sein nur mit schmalen Luken versehenes Gemäuer, nichts Häßlicheres als seine jäh abgestumpften Türme; gewaltige Ansätze, kein Aufwärtskommen, Versprechungen, keine Erfüllung.

Es ging steil zum Schloß hinauf über weichen, seidenglatten Grund, zwischen uralten Kiefern bis zum Wallgraben. Die schlanke Jünglingsgestalt, die zwischen den kahlen Stämmen hinschritt, so rasch und unbeirrt als wär’s am Tage, machte, hier angelangt, Halt. Kein Wunder, wenn ängstliche Gemüter sich an der Stelle nicht besonders behaglich fühlen, ’s ist grausig, wie das Wasser gurgelt, mit manchmal fast menschlichen Lauten!

Josephs Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, deutlich sah er vor sich den unförmigen Steinblock sich abheben vom fahlen Himmel. Der Gedanke an all den Jammer und all die Schuld, die von diesen Mauern beherbergt worden, ergriff ihn. Nicht Jammer und Schuld längst vergangener Tage, nein, traurige Schicksale, die sich in naher Vergangenheit vollzogen hatten. Im Schloß von Velice wurde über die Begebenheiten in Valahora nur mit äußerster Zurückhaltung vor den Kindern gesprochen, im Dorfe aber nahm man keine Rücksicht, da erzählte jeder, was er wußte, und that an eigener Erfindung hinzu, was er aufbrachte. Die Kinder hatten von dem jetzigen Herrn von Valahora mehr gehört, als sie zu verstehen und zu begreifen vermochten. Er war für sie eine von den Zauberschleiern der Mythe umwobene Persönlichkeit, zu der es sie allmächtig hinzog, deren Rätsel zu lösen sie brannten. Es kam ein Tag, der sie einander nahe brachte, und seitdem verkehrte Joseph mit Levin Bornholm, so streng ihm das auch verboten war. Im geheimen natürlich, und nur „auf den Raub“, in der kurzen Zeit, die „der Australier“ auf seinem Gute zubrachte.

Als Joseph die Wallgrabenbrücke überschritten hatte und den Vorhof betrat, wurde er so tückisch, so plötzlich von zwei Wolfshunden angesprungen, daß er Mühe hatte, sich auf den Beinen zu erhalten. „Kusch Jedén! – Dva kusch! kusch! seid ihr toll?“ rief er, und sobald sie den Klang seiner Stimme hörten, verwandelte ihr feindseliges Knurren sich in jubelndes Gebell und in ein zärtliches Gewinsel.

In der Nähe wurde eines der ebenerdigen Fenster geöffnet, jemand fragte: „Seid Ihr’s, junger Herr?“ und zog sich, nachdem die Antwort: „Ja, Bartolomäus“, erfolgt war, wieder zurück. Auf der schmalen Steintreppe aber, die zum Hofe des Hauses führte, erschien ein Mann, der eine hellleuchtende Lampe in der Hand trug.

Ihr grelles Licht beschien sein gebräuntes Gesicht, seine energischen Züge. Er war nach Pflanzerart bequem und leicht gekleidet, trug lichte Beinkleider und eine weite Jacke, die, auf der Brust offen, das bunte Wollhemd und den Ledergurt sehen ließ. Der breitkrempige Strohhut war tief in den Nacken zurückgerutscht, eine Fülle kurz gehaltenen Gelocks umringelte die Stirn und die Schläfen. „Der Tausend!“ rief er Joseph zu, und in seinem Tone lag etwas Spöttisches und Aggressives, „bist du’s? Was willst du?“

„Dir Lebewohl sagen, du reisest ja morgen. Bleibt’s dabei?“

Bornholm nickte: „Gewiß.“




Sie gingen zusammen die Treppe hinauf und durch einen dunklen Flur in das Zimmer, in dem Bornholm bei seinen kurzen Besuchen in Valahora abzusteigen pflegte. Es war gewölbt und hatte nur ein niedriges, aber breites Fenster mit vielen kleinen in Zinn gefaßten Scheiben. Die Unordnung, die in der Stube herrschte, heimelte Joseph an; die exotischen Waffen und Gerätschaften, die da herumlagen, erregten sein Entzücken. Vieles davon, Wurfkeulen, Spieße, Schilde, Holzschwerter, war sein. Bornholm hatte sie ihm geschenkt, aber er durfte sich dieses köstlichen Besitzes nur verstohlen, nur im Hause des Freundes erfreuen. Der Geber war ja ein verpönter Mann, und mit ihm umgehen oder gar etwas von ihm annehmen, galt in Velice für unehrenhaft.

Joseph nahm einen Bumarang vom Tische, wog und [264] schwang ihn. „O, den schleudern dürfen! auf freiem Felde schleudern, jemand in die Beine, Herrn Heideschmied zum Beispiel, das müßt’ eine Wonne sein!“

„Du hast keinen Grund, dich über ihn zu beklagen,“ sagte Bornholm. „Das ist ein sehr bequemer Mann, und mit einem festen Schlafe gesegnet, wenn du so leicht entwischen kannst.“

„Festen Schlaf braucht’s nicht. Kein Wachthund hätt’ mich gehört. – Also morgen wieder fort, Levin,“ setzte er mit einem Seufzer hinzu, verbesserte sich aber sogleich, da Bornholm diesen Ausdruck des Bedauerns sehr ungnädig aufnahm. „Mir ist’s am Ende recht. Wenn ich weiß, du bist da, und ich darf dich doch nicht sehen, das ist mir das Grauslichste.“

Bornholm stellte einen kleinen Koffer auf den Tisch und fing an zu packen, und Joseph hätte ihm fürs Leben gern seine Dienste angeboten, wagte es aber nicht, sonst hieß es gleich: „Mach’ dich nicht überflüssig,“ in dem Tone, der einem ins Herz schnitt, weil er so deutlich sagte: Was hast du hier zu suchen? Geh deiner Wege! – Und nur das nicht! nur nicht von ihm fortgejagt werden, den er liebte und verehrte, trotz all des Schlechten, das ihm nachgesagt wurde … Ja vielleicht, weil ihm so viel Schlechtes nachgesagt wurde, und weil er sich nie, auch nicht mit einem Worte zu rechtfertigen suchte und nie gegen einen Menschen, und wenn es sein ärgster Feind war, eine Anklage erhob. Er haßte und verachtete die Menschen im großen, die ganze Species. Er schlug auch, so viel hatte Joseph, wie ungern Bornholm auch von sich sprach, im Lauf der Zeit doch aus ihm herausgebracht, einzelne tot. In Herbert River, in Alexandraland hatte er Blut vergossen zu eigener Verteidigung und zu der anderer. Beschimpft hatte er keinen, nicht einmal einen Aschanti, nicht einmal ärgere als Aschanti – die Dorfbuben, die …

Vor Joseph tauchte die Erinnerung an den peinvollsten Augenblick seines jungen Daseins auf, an seine Verzweiflung, seine Niederlage, seine Befreiung … Ein Schmerz, eine Wut – eine Dankbarkeit, so heiß wie sie ihn damals durchglüht hatten, damals vor zwei Jahren, schwellten sein Herz und er rief plötzlich aus:

„Weißt du noch, Levin, meine kleine Kitty, der liebe Hund – weißt du, wie die Buben ihr die Pfoten abgeschnitten und sie gezwungen haben, auf den Stumpfen zu laufen?“ Eine unbeschreibliche Qual verzerrte sein Gesicht, er schluckte, er benetzte mit der Zunge seine trocken gewordenen Lippen.

„Wie ein altes Weib,“ brummte Levin. „Immer die alten Geschichten aufwärmen! Vergiß das!“

„Ich will’s nie vergessen!“ rief Joseph. „Weil ich nicht v ergessen will, daß du mich gerettet hast … Ja, ja, ja! … Ich hab’ sie alle erwürgen wollen … Aber es waren ihrer zu viele. Ich war schon niedergerissen … Hätt’ ich mich nur nicht niederreißen lassen!“ knirschte er – „wie du gekommen bist und mich vom Tod gerettet hast.“

„Vor Prügeln hab’ ich dich gerettet, vor weiter nichts,“ sprach Levin.

„Es ist nicht so; wenn’s aber wäre, müßte ich dir nicht auch ewig dankbar sein?“

„Laß mich aus mit deiner Dankbarkeit!“ fiel Bornholm ihm gebieterisch ins Wort und wollte schon hinzusetzen: schöne Gefühle hab’ ich nicht, und mag sie nicht an anderen. Aber er besann sich und sie sprachen von seinen Ländereien, seinen Herden und von der Jagd und von Abenteuern beim Wandern durch die klingenden Wälder, beim Uebersetzen reißender Flüsse und dem Uebernachten unter freiem Himmel, unter dem Zelte oder in Felsenhöhlen in Gesellschaft von Menschenfressern.

„Ich praßle!“ schrie Joseph, „ich verbrenn’ hier vor Sehnsucht, so einen Menschenfresser einmal zu sehen. Wie einem nur ist, wenn die Kerle brüllen: Talgoro, talgoro! – das heißt doch Menschenfleisch? Und ihre Kampftänze! – ich würde gleich mitthun, sag’ ich dir – o Levin – ich sag’ dir – ich praßle!“




„Das kannst du auch zu Hause,“ sagte Levin. „Geh nach Hause prasseln. Es ist bald Zwei und ich möcht’ vor der Abfahrt noch ein paar Stunden schlafen. Auf Wiedersehen, Joseph!“

„Wann?“

„In zwei Jahren vielleicht.“

„In zwei Jahren? – Das erleb’ ich nicht!“

„Hoho!“ Levin lachte.

„Mit dem Hofmeister nicht! … Ich hass’ ihn. Der Schullehrer hetzt die Dorfkinder gegen uns, ja, ’s ist wahr, aber er quält uns nicht mit dem verfluchten Lernen … Der Heideschmied, der möcht’ die Sachen ganz anders anpacken. Nun – der soll seine blauen Wunder sehen. Eh’ du wiederkommst, sag’ ich dir, ist er aus dem Haus geflogen.“

Joseph sprach das alles hastig, wie einer, der seine Rührung zu verreden sucht, während sie aus dem Zimmer gingen und über den Hof und den Vorhof, wo Jedén und Dva sie freundlich empfingen. Vor der Brücke blieb Levin stehen. Sie schüttelten einander die Hände:

„Leb wohl, Joseph, leb wohl, Junge!“

„Leb wohl, Levin. Laß dich nicht fressen drüben. Komm’ wieder!“ Männlich kämpfte er seinen Schmerz und seine Ergriffenheit nieder, nahm sich zusammen und setzte ruhig hinzu: „Und sag’ dem Gärtner, daß er mich einlassen soll und den Leopold auch, so oft wir entwischen können. Er sagt sonst gleich: Ich hab’ keinen Befehl. Vergiß also nicht. Adieu!“

„Ich vergesse nicht. Adieu!“

Es war ein wenig lichter, der schwere Dunst, der auf den Feldern und Wiesen lag, durchsichtiger geworden, am Himmel blinkten matt einzelne Sterne. Levin sah dem Enteilenden nach. Ein herzlicher Wunsch erfaßte ihn, ihm zu folgen, ihn einzuholen, ihm noch einmal tüchtig die Hand zu schütteln und zu sagen: „Laß auch du dich nicht auffressen vom Hergebrachten, vom Alltäglichen und Kleinlichen und von der Philistermoral.“ Aber er widerstand der Versuchung. Möge jeder seine Wege gehen, auch der dort! Wohin sie führten, kümmert Levin Bornholm nicht. Er will keine Teilnahme empfinden und am wenigsten – verraten. Liebe, Freundschaft, Anhänglichkeit – fort damit, fort mit allem, was uns ein Gängelband anlegt, uns beeinflußt, uns zwingt! Ein Vierteljahrhundert hatte er gelebt, und dieses Leben bedeutete im Grunde einen Schiffbruch. Aber Köstliches hatte er gerettet: den Glauben an sich selbst, die absolute Freiheit, die Kraft, den Verteidigungskrieg zu führen, aus dem das Dasein des Mannes besteht, der sich keinem Joche des Herkommens beugt, dem Heiligkeit, Edelmut, Mitleid, Nächstenliebe – Worte sind. Levin kehrte in seine Stube zurück, nahm die Lampe vom Tische und durchwanderte sein trauriges Daheim. Er ging durch düstre, mit Ziegeln gepflasterte Gänge, in denen die Luft selbst eingeschlafen schien, in denen der Schritt nicht hallte, über steinerne Treppen und Treppchen, durch öde Gemächer mit gewölbten Decken, schmalen Fenstern, bestaubter, verwitterter Einrichtung. Er haßte den mittelalterlichen, romantischen Anstrich des Hauses und die abscheulichen Erinnerungen an seine Kindheit, die ihm aus allen Ecken und Enden entgegenstoben. Die Vergangenheit stand da wie ein Feind, aber vor Feinden flieht man nicht, man ringt mit ihnen. Er schritt vorwärts und betrat endlich die Stätte, an der seine Mutter den letzten Atemzug gethan hatte.

Du qualerfülltes Totenzimmer, deine Wände schreien!

Alles noch so wie am Morgen, an dem die Leiche fortgetragen wurde. Der Vater hatte den Raum nie betreten, der Sohn ihn nur verstohlen betreten dürfen. Kein Blick ins Freie aus der zellenartigen Stube. Die zwei durch einen weit vorspringenden Pfeiler getrennten Fenster hatten die Aussicht auf einen kleinen Burghof. Kahle Mauern und einer der steinernen Türme umschlossen ihn, und in die Fensternische mußte man treten und sich tief bücken, um ein Stückchen Himmel zu sehen. Und da stand noch der Schemel, auf dem die Gefangene gesessen und zum Himmel hinaufgeblickt hatte, das bißchen Sonnenlicht und Sternenschein suchend, das in ihre Klause eindringen konnte.

Levin stellte die Lampe auf den Tisch. Grelles Licht fiel auf die kärgliche Einrichtung, ein Schrank, ein paar Holzstühle, ein eisernes Gestell mit einem Waschbecken. An der Wand neben dem Bette hing eine Zeichnung, das Bild Levins als Kind. Darüber ein dürrer Weidekätzchenzweig. Es war auch ein Kruzifix dagewesen; das aber hatte die alte Alwilde, die Dienerin und Gefangenwärterin, der Toten in die gefalteten Hände gelegt.

An den Schrank gelehnt, die Hände in den Taschen, den [266] Kopf geneigt, stand Bornholm und starrte zu dem ausgebröckelten Ziegelboden nieder. Er sah – sah so deutlich wie einst als Kind, den Sarg vor sich, in dem die schöne Leiche seiner Mutter lag. Ein zerschlissenes schwarzes Seidenkleid hatte Alwilde ihr angezogen und ihr ein weißes Tuch über der Brust gekreuzt. Ach, das stille, wachsbleiche Gesicht ... die weißen Lippen … Gab es einen beredten Mund, gab es leidenschaftlich bewegte Züge, die so eindringlich sprechen konnten wie dieses verklärte Totenantlitz? – „Ich bin im Frieden gestorben,“ sagte es, „und es giebt nichts Schöneres als den Frieden.“

Bornholm sah auch sich selbst – sah, wie er sich damals über den Sarg geworfen und gerast hatte in wilder Reue:

Daß er sich belügen, daß er sich Abscheu einflößen ließ gegen seine Mutter, daß es nur eins gab, womit der Vater ihn zu schrecken vermochte, die Drohung: „Warte, du wirst zur Mutter gesperrt!“

Wäre er nicht ein dummer Junge gewesen! hätte er eine deutlichere Erinnerung an seine frühe Kindheit und an seine Mutter gehabt, er würde die Trennung von ihr nicht erduldet, er würde nie geglaubt haben, daß sie eine Sünderin war, die Gewissensqualen zum Wahnsinn getrieben, und nun eine böse und gewaltthätige Irre sei.

Wäre er nicht ein dummer Junge gewesen! Er würde sie nicht erst in ihrer Todesstunde wiedergesehn haben, er wäre zu ihr gedrungen, ihrem Kerkermeister zum Trotz, und wäre bei ihr geblieben und hätte sie getröstet und angebetet, oder sie befreit …

O dummer Junge! dummer Junge!

Ein Lächeln voll Bitternis spielte um Bornholms Lippen; jahrelang schlummerndes Leid erwachte wieder. Er fühlte einen Nachhall des Schmerzes von einst. Die übermächtige Qual der Reue, die ihn zu Boden geworfen hatte, die Wut, mit der er sich die Stirn am Rande des Sarges blutig schlug und seinen Kopf zerschmettern wollte, seinen dummen Kopf.

Reue – an dem Tage hatte er erfahren, wie sie thut, und später die schwächliche, nutzlose Empfindung in sich auszurotten gesucht. Die neue Lehre war verkündet worden, und gierig, mit tausend Lippen, hatte er sie eingesogen. Er hatte alles von sich gewiesen, was nagt und peinigt, er hatte gelebt und genossen und war ein moderner Mensch und ein eifriger Apostel des rosengekrönten Heilands geworden.

Und doch nicht glücklich – doch schon ergriffen von dem nagenden Hunger des Uebersättigten, dem Hunger nach einer Stunde inneren Friedens!




Es war merkwürdig, aber die arme Kleine, die immer kränkelte, immer Kopfschmerzen hatte, Gliederchen so zart, daß man nur staunte, wie sie überhaupt Gebrauch von ihnen machen konnte, und eine Haut, schneerosenbleich, lebte weiter.

Allabendlich wurde Soiree abgehalten im Kinderzimmer. Herr von Kosel saß in seiner Ecke, schaute und schwieg. In seiner Stimmung und in seinem Benehmen genau derselbe wie in den ersten Tagen nach dem Tode seiner Frau. Damals, meinte Frau Budik, sei etwas in ihm gerissen, das nie und nie mehr zusammenwachsen werde.

Anfangs war er den Tanten erstaunlich gefaßt vorgekommen, dann erkannten sie: Er hat noch nicht einmal begriffen, daß es wirklich vorbei sein soll mit seinem Glück. Er klagte nie, er schien nicht einmal sehr traurig, nur verträumt, nur wie einer, der sich in einem Zustand fühlt, der unmöglich dauern kann. Sein Aussehen war so frisch und gut wie je, seine Augen glänzten so hell wie je, aber ihr Blick war unstet und seltsam gespannt. Er horchte auf, wenn sich plötzlich Schritte hören ließen, wenn sich jemand der Thür seines Zimmers näherte. Trat dann ein Diener oder eins der Kinder ein, zog er die Augenbrauen in die Höhe und sagte mit plötzlichem Sichbesinnen: „Ach ja!“

Und so saß er auch still in seiner Ecke, und sehr symmetrisch in der nächsten, zwischen zwei Fenstern, saß Heideschmied und war grau vom Kopf bis zu den Füßen. Nach dem Fenster zu seiner Rechten kam ein breiter Pfeiler, abermals ein Fenster und dann kam die Ecke mit den Tanten. Wie zwei gutmütige alte Dohlen saßen sie nebeneinander in ihren schwarzen Stiftsdamenkleidern und die große, sanfte Renate arbeitete wieder an einem monumentalen Werke der Kunststrickerei, und die kleinere lebhafte Charlotte wechselte von Zeit zu Zeit stolze und glückverklärte Blicke mit Frau Budik, die sich mit dem ehrwürdigen hellgrünen Kachelofen in den Besitz der vierten Ecke teilte; und Charlotte murmelte: „Nein, diese Fratzen!“ und Frau Budik murmelte: „Nein, diese Kinder!“

Ein Höllenlärm herrschte.

Die drei Buben produzierten vor ihrer Schwester äußerst verwegene Akrobatenkünste und ließen dabei eine wilde Vokalbegleitung erschallen. Aschantis brüllen nicht schöner. Zeitweise unterbrachen sie ihr Geschrei, um das Publikum durch täuschende Nachahmung von Tierlauten, durch Krähen, Grunzen, Miauen, zu erfreuen.

Als Königin dieses Festes fungierte Elika. Sie saß auf ihrem hohen Kinderstuhle, die flachen Hände auf das in der Lehne eingelassene Tischchen gelegt. Sie hatte jetzt dünne Locken von seidenleichtem, seidenweichem Haar, die bei jeder Bewegung der Luft ein wenig flatterten. Ihre Wangen bekamen, so oft ein besonders kühnes Kunststück aufgeführt wurde, einen rosigen Anhauch; ihr Mund, nicht klein, aber fein geschnitten, und unglaublich ausdrucksvoll für den Mund eines so jungen Kindes, hatte ein rührendes, ein, wie dem Leiden abgewonnenes Lächeln, das die Leistungen der drei Akrobaten reich belohnte. Wenn Elika aber „Bravo! bravo!“ rief und in die Händchen klatschte, gerieten die Brüder in Begeisterung. Sie stürzten auf die Kleine zu und erstickten sie fast mit Zärtlichkeiten. Man mußte sie vor ihnen retten.

„Wir können noch viel schönere Sachen,“ sagte Leopold einmal. „Kommen Sie nur mit Elika zur Turnstunde in den Garten, Poli, da werden Sie sehn!“

„Da wejn Sie sehn!“ wiederholte Franz mit ernstem Kopfnicken, „und auch die Tanten sollen kommen.“

„Ja, ja, freilich, die Tanten auch!“ riefen Joseph und Leopold und die Tanten versprachen, sich pünktlich einzufinden. Daß auch das Haupt der Familie, daß auch Herr von Kosel geladen werden könne, fiel niemand ein, nicht einmal ihm selbst.

Renate besann sich dessen plötzlich bei Nacht. Es fiel ihr schwer aufs Herz. Mitten unter den Seinen auf einem Isolierschemel stehn, das kann doch nicht angenehm sein.

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An einer der geschütztesten Stellen im Garten, unter alten, hohen Erlen, befand sich Elikas Spielplatz und der Pavillon, in dem sie ihre Puppenwirtschaft eingerichtet hatte. Eine Eremitage mit strohgedecktem Dache, die Wände in- und auswendig mit Baumrinde benagelt. Auf dem Wege neben dem Pavillon war ein Hügelchen aus feinem Sande aufgeschichtet, den Elika siebte, mit dem sie kochte, in den sie ihre Puppen bis an den Hals eingrub, weil das für Kinder so gesund ist.

Bei der Eremitage traf, eine halbe Stunde vor der großen Produktion, Herr Heideschmied mit seinen Zöglingen ein, und während die Jugend beim Sandhügel spielte, nahm der Hofmeister neben Frau Budik auf der Bank am Hause Platz und beugte sein Haupt unter dem Schwall der Rede, der sich alsbald über ihn ergoß. Apollonia hatte sich auf ihr Steckenpferd geschwungen und ließ sich von ihrem hölzernen Pegasus in schwindelnde Höhen tragen. Sie wurde zur begeisterten Dichterin, wenn sie das Lob des Hauses Kosel sang. Das Aeußerste leistete sie in der Verherrlichung der drei jungen Herren. Das waren Kinder von ihrem ersten Atemzüge an, Kinder, wie die Erde keine besseren trägt. Herzen hatten sie – das pure Gold! ’s ist wahr, Apollonia gab dem Eigentümer eines dieser goldenen Herzen hier und da einen Puff, daß ihm die Rippen krachten, aber – „Du lieber Gott, es sind halt Buben!“

„Knaben, ja wohl, sehr lebhafte Knaben,“ flocht hier Heideschmied in die krausen Reden Frau Budiks ein, und diese Worte schienen ihr, sie wußte selbst nicht warum, eine Art Tadel zu enthalten, und jetzt ging sie los wie eine überladene Mine. Die Lobpreisungen begannen von neuem und dauerten – Heideschmied konnte nicht genau sagen wie lang’, denn eine Uhr besaß er nicht, aber sehr lange kam es ihm vor.

Endlich wurden sie unterbrochen. „Poli!“ schrie Joseph aus [267] vollem Halse und mit dem Ausdruck der Bestürzung: „Komm’! schau! die arme Kleine ist tot!“

Frau Budik und der Erzieher sprangen auf, wendeten sich: „Jesus, Maria!“ stöhnte die Wärterin.

Die Knaben hatten den Sandhaufen neben dem Gartenhause zu einem regelrechten Grabhügel zusammengeschaufelt, eine längliche Vertiefung hineingegraben und mit Latten ausgelegt, die den Rand eines Sarges vorstellen sollten. In dem improvisierten Sarge lag auf Gras und Wiesenblumen gebettet mit geschlossenen Augen und über der Brust gefalteten Händen die Kleine und sah in der grünlichen Dämmerung unter den Bäumen wahrhaftig wie eine Tote aus. Zu beiden Seilen knieten Leopold und Franz, hielten ihre Taschentücher an ihre Gesichter gepreßt und heulten aus Leibeskräften.

„Nein,“ rief Apollonia händeringend, „diese Dummheit! hat man je etwas so Dummes gesehn wie diese Buben! Was ist das für ein Spiel? Wer spielt denn mit dem Tod?“

Leopold lachte über den Ausbruch, Franz rang mit wirklichen Thränen und Joseph sagte beschwichtigend:

„Aber Poli, ärger’ dich doch nicht! Sie hat’s ja selbst gewollt. Was soll man denn thun, wenn sie’s will?“

Heideschmied stand regungslos und blickte unverwandt zu dem Kinde nieder. Plötzlich schüttelte es ihn wie Fieberfrost und mit einem trockenen Schluchzen brachte er die Worte hervor: „Ganz wie meine kleine Mili, so ist sie im Sarge gelegen!“

Die Tote jedoch war unzufrieden mit der Unterbrechung des Weinens und Klagens um sie und flüsterte ihren Brüdern zu: „Besser jammern!“




Auf dem Wege zum Turnplatz machte Apollonia Herrn Heideschmied die Bemerkung: Wenn er ein Kind gehabt habe, müsse er auch eine Frau gehabt haben, und er erwiderte mit einem tiefdankbaren: „Gottlob, die Frau habe ich noch!“

Apollonia war erstaunt: „Sie haben eine Frau und sprechen nie von ihr? scheinen sie sehr lieb zu haben und trennen sich von ihr? Das ist merkwürdig.“

Er erwiderte nur: „Ja, die Verhältnisse“, und sie dachte, es seien wohl seine Geldverhältnisse, die er meine; diese mußten, nach allen Anzeichen zu schließen, klägliche sein. Frau Budik unterdrückte die Fragen, die ihr auf der Zunge brannten; es war nicht Zeit, sie zu stellen, man hatte den Turnplatz fast schon erreicht. Er lag am Ende einer breiten Allee von Lindenbäumen. Die Aeste der äußern Reihe spreizten sich, kraftstrotzend, blühend und duftend, über das eiserne Gitter und die Säulen der Mauer, die hier den Garten von der Dorfstraße trennte.

Joseph war vorausgelaufen und hatte sich mit dem Untersuchen der Turngeräte zu thun gemacht. „Herr Heideschmied!“ rief er dem aus Leibeskräften entgegen: „Kommen Sie! sehen Sie, was die Dorfkinder wieder gethan haben, die Spitzbuben, die Sie immer gegen uns in Schutz nehmen!“

Triumphierend wies er ihm nach, daß die Knoten der Schaukelstricke und der Schwungringe locker gemacht waren. „Man sieht’s nicht gleich, aber probieren Sie’s nur und schaukeln Sie sich ein bißchen stark. Im besten Flug schmettern Sie herunter, daß Ihnen die Funken vor den Augen tanzen. Mir ist’s schon einmal so gegangen und dem Leopold auch.“

Heideschmied war betroffen und erstaunte, daß die Tanten, die sich inzwischen eingefunden hatten, es so gar nicht waren. Nicht im mindesten betroffen und überrascht, nur sehr betrübt. „Eine traurige Thatsache und ein großes Uebel,“ sagten sie, „die Feindseligkeit, die zwischen Dorf und Schloß ausgebrochen ist.“

„Und wir haben den Leuten nie etwas Böses gethan!“ rief Joseph.

„Böses, du lieber Gott!“ fiel Frau Budik ein, „zu viel Gutes, das ist der Fehler. Diese Leute“ …. die immer noch schöne und ansehnliche Frau hatte eine ungeheuer verächtliche Manier, die zwei Worte auszusprechen. Es war, als ob sie jeden einzelnen dabei ohrfeigte. „Diese Leute, die selbst nichts kennen als Haß und Neid, begreifen nicht, daß ein andrer etwas Gutes aus freiem Willen thut. Man thut’s aus Angst, meinen sie, oder weil man ein schlechtes Gewissen hat oder weil man sich bei ihnen einschmeicheln möchte.“

„Einschmeicheln?“ schnaubte Joseph, und Leopold fand seine Entrüstung und die Frau Budiks sehr komisch und begriff nicht, wie man sich über Bübereien armer Teufel ärgern könne. Franz Pflanzte sich breit mit ausgespreizten Beinen vor Apollonia hin, stemmte die Arme in die Seiten und sprach zornig:

„Weißt du, Poli, klatsch nicht! Es sind nicht lauter ‚diese Leut‘, es sind auch brave.“

„Und du, ärger’ dich nicht!“ erwiderte sie und setzte, zu den Tanten gewendet, leise hinzu: „Der Bub ist merkwürdig. Aergert sich gleich, und wird gleich puterrot und ganz atemlos. Wenn ihm nur nicht am End ’was ist.“

Charlotte klopfte ihm liebreich auf die Wange und Renate zog ihn an sich und küßte ihn.

Die Produktion begann.

Heideschmied leitete sie und machte die verwegensten Uebungen seiner Schüler mit. Aus Respekt vor den Damen turnte er nicht wie gewöhnlich in Hemdärmeln, sondern purzelte, wippte, wirbelte von den langen grauen Schößen seines Rockes wie von sturmgepeitschten Gewitterwolken umflogen. Man wußte oft nicht, wo Herr Heideschmied anfing und wo er aufhörte, und wo die vordere und wo die rückwärtige Fronte der hageren Gestalt mit ihrem derben Knochengerüste sich eigentlich befand.

Charlotte flüsterte ihrer Schwester zu: „Eine Hoffmannische Figur. Beinahe unheimlich.“

„O sehr!“ erwiderte Renate. Ihr überfeines Gefühl war durch das Groteske des Anblicks etwas peinlich berührt, sie geriet auch ein wenig in Verlegenheit – für den guten Heideschmied. Und ihr war bang um die Kleine, die das mit ansah und gewiß davon träumen und eine schlechte Nacht haben werde.

Renate teilte Frau Budik ihre Besorgnisse mit und die Wärterin gab sich Mühe, Elikas Aufmerksamkeit von Herrn Heideschmieds Evolutionen abzulenken. Es war unmöglich. Sie, die ihm bisher die größte Abneigung gezeigt hatte, wegsah, wenn er sich ihr näherte, sein bescheiden eifriges Werben um ein gutes Wort beharrlich mit „Nein“ beantwortet hatte – verwendete jetzt kein Auge von ihm, war ganz versunken in ernste und nachdenkliche Betrachtung und sagte von Zeit zu Zeit leise: „Bravo, Herr Heideschmied!“

Plötzlich, mit raschem Entschlusse ließ sie sich vom Schoße Frau Budiks herabgleiten und rief: „Auch turnen! Ich will auch turnen!“

Heideschmied kauerte nieder und streckte ihr seine Hände entgegen. „Komm’! komm’!“ sagte er, von Schauern des Entzückens durchrieselt. Seine kleine Mili! Ihm war, als sähe er sie wieder, als sei das Kindlein auferstanden und liefe auf ihn zu.

Mit unendlicher Vorsicht faßte er sie und hob sie in die Höhe. Er fühlte das winzige Körperchen beben zwischen seinen Fingern und das Herz förmlich hüpfen. Nicht vor Angst, vor Freude.

„Höher! noch höher!“ rief sie, „laß mich fliegen!“ Sie streckte die Arme empor und jauchzte: „Ich fange Wolken! Ich fange Vögel! Ich spring’ in den Himmel!“

Von dem Augenblicke an war ihre Freundschaft mit Heideschmied geschlossen.

Auf der Straße hatte ein ungebetenes Publikum sich versammelt. Dorfkinder, Knaben und Mädchen, kleine, die noch kleinere mühsam schleppten, übermütig hutschten, größere, die sich um die Plätze am Gitter balgten, von denen aus man am bequemsten den Turnübungen der jungen Herren und ihres Hofmeisters zusehen konnte. Bei jedem neuen Kunststück ertönten neue Lachsalven, die Jugend auf der Straße höhnte und grimassierte und machte besonders Herrn Heideschmied zum Ziel ihres Spottes.

Als er Elika in seine Arme genommen und emporgehoben hatte, war einer der Humoristen da draußen über eine kleine Katze hergefallen, die ängstlich längs der Mauer vorüberschlich, und hatte sie, die Bewegungen Heideschmieds nachahmend, mehrmals hoch hinauf geschnellt in die Luft und wieder aufgefangen und gerufen:

„So muß man’s machen! So machen Sie’s, Herr Hofmeister!“

Josephs Augen funkelten, er knirschte Heideschmied voll Verachtung an: „Halten Sie das aus?“ und faßte den überhängenden Ast eines der Lindenbäume, ihn zu erklettern und sich von ihm aus auf die Straße, mitten in die feindliche Kinderschar [268] zu stürzen. Aber Heideschmied hielt ihn am Arme fest. Alle Wetter! was für eiserne Finger! Und wie mit ihrem energischen Griff die sanft zuredende Weise kontrastierte, in der der Alte sprach:

„Lieber Joseph, ich verstehe tschechisch noch nicht recht, weiß also nicht, was sie sagen. Mög’ es jedoch sein, was es wolle – ich halte es aus.“

„Ihre Sache,“ murmelte Joseph, ballte die Fäuste gegen die Johlenden da draußen und rief ihnen zu: „Wir wachsen schon noch zusammen!“

Und die draußen kicherten, drohten: „Schon noch!“




Am nächsten Tage klopfte während der Unterrichtsstunde ein kleiner Finger ganz leise an der Thür des „Bubenzimmers“. Die arme Kleine war da und bat um Einlaß. Sie erhielt ihn unter der Bedingung, daß sie nicht mucksen werde, sondern ganz still sitzen in der Ecke des Alkoven, hinter dem Rücken der Brüder. Dort stellte Heideschmied einen hölzernen Sessel hin, auf den er Bilderbücher, ein Blatt Papier und einen Bleistift für die Kleine legte.

„Das ist dein Schreibtisch,“ sagte er, und auf einen Schemel deutend, den er vorschob, „das dein Stühlchen, setz’ dich und sei fleißig und störe deine Brüder nicht. Und Sie, wenn sich einer von Ihnen nach ihr umsieht, muß sie fort!“

„Sofort fort,“ murmelte Leopold, und Joseph wiederholte: „Sofort fort!“

Von Stunde an hieß es: „Herr Heideschmied ist so spaßig, er sagt immer: ‚Sofort fort‘.“ Die zwei jüngeren waren bald überzeugt, daß es so sei, und hätten darauf geschworen, und ihnen wollte Heideschmied die Freude an der geistreichen Erfindung nicht verderben. Zu Joseph aber sprach er nach einiger Zeit:

„Sehen Sie, so entstehen Gerüchte. Es ist merkwürdig, wie man im kleinsten einen Bezug aufs größte finden kann. Viel wichtigere Dinge werden mit nicht mehr Grund von viel vernünftigeren Leuten geglaubt und verbreitet und endlich zur Ueberzeugung vieler, ganzer Klassen, ganzer Völker. Verstehen Sie?“

Joseph verstand ihn vortrefflich, aber er hatte für Heideschmied keine andre Antwort als ein geringschätziges Lächeln. Daß der Mann noch da war, daß er ihn trotz der Versicherung, die er Bornholm gegeben, noch nicht weggebracht hatte, empörte und beschämte ihn. Was klebte sich der Mensch im Hause fest? Zeigten seine Zöglinge ihm nicht deutlich genug, daß er ihnen tödlich zuwider war? Er ließ sich alles gefallen – ums Geld. Er war ein fürchterlich armer Teufel, die elende Handtasche, die er bei seiner Ankunft mitgebracht hatte, enthielt sein Hab’ und Gut. Er sagte es den Knaben unbefangen, als sie ihn fragten, wann denn sein Gepäck ankommen würde.

Joseph und Leopold wollten es so weit treiben, daß er endlich werde nachgeben und sich heben müssen. Ein hartnäckiger Kampf entspann sich, den die Kinder mit gedankenloser, blinder Grausamkeit führten, den der alte Mann heldenmütig bestand.

Einmal betraten sie das Schulzimmer mit der Versicherung: „Sie können thun, was Sie wollen, wir lernen heute nicht,“ und Heideschmied sperrte die Thüren ab, steckte die Schlüssel in seine Tasche und erklärte, die jungen Herren würden nicht in Freiheit gesetzt, bevor der Unterricht genommen sei. Und was er sagte, geschah, und jede seiner Drohungen erfüllte er, und mit Gewalt war bei ihm nichts auszurichten, das alte Gerippe war stärker als sie alle drei zusammen. Noch ein Versuch wurde gewagt; sie fanden sich zum Unterricht gar nicht ein, liefen am Morgen fort und kamen erst zu Tische heim. Damals war Herr Heideschmied furchtbar gewesen. Eine ganze Woche hindurch hatte er alles sequestriert, was die Jünglinge freute und womit sie sich am liebsten unterhielten. Kein Behelf zu irgend welchem Spiel war für sie vorhanden, jeder Verkehr mit ihren Lieblingstieren, Tauben, Hunden, Pferden, abgeschnitten. Acht Tage der Entbehrung für einige Stunden der Freiheit, das war ein schlechter Handel, das sahen sogar so elende Rechner, wie die jungen Herren waren, ein. So blieben sie denn nie wieder aus der Schulstube fort. Sie kamen regelmäßig, mit Herzen voll Groll, und von den nichtsnutzigsten Vorsätzen beseelt. Und immer fanden sie einen impassiblen Heideschmied, der sie sehr ernst und ohne den geringsten Anflug von Spott bedauerte, wenn sie ihre Schuldigkeit nicht gethan hatten, und sich durch keinen noch so tückisch ausgedachten, noch so überraschend ausgeführten Streich um seinen Gleichmut bringen ließ. Eine ihm persönlich angethane Unbill bestrafte er nie, und ganz im geheimen vertraute Joseph seinem Bruder Leopold an, daß ihm das eigentlich gefalle, und ebenso geheim gestand Leopold, daß er sich bei den Unterrichtsstunden gut unterhalte. Das alte Gerippe erzähle hübsch und bringe einem die verfluchten Lernsachen recht angenehm bei.

„Thut nichts, fort muß er doch!“ rief Joseph. „Ich geb’ ihm keine Ruh’. Heute sollen ihm die Knochen scheppern, wenn er sich an den Lehrtisch setzt.“

„So? Was hast gethan?“

Das war nun ein Hauptspaß. Joseph hatte die vorderen Beine von Heideschmieds Sessel angesägt. Der Lehrer erschien, wie immer zur Stunde, lebhaft und freundlich und leitete den Unterricht mit den Worten ein:

„Wir beginnen heute ein hochinteressantes Kapitel unserer Geschichte. Die Thronbesteigung Karls des Fünften, meine Herren!“ Er setzte sich und brach mit schrecklichem Gepolter nieder.

Aus drei jungen Kehlen erscholl ein triumphierendes Gelächter: „Thronbesteigung! schöne Thronbesteigung …“

Im nächsten Augenblick aber schon verstummten die Kinder.

Herr Heideschmied war mit der ganzen Wucht seines großen, schweren Körpers, den Kopf voraus, auf die scharfe Kante eines Tischfußes gestürzt und hatte sich die Oberlippe buchstäblich durchgeschnitten. Die Wunde blutete reichlich und sah ganz abscheulich aus. Die Knaben waren betreten, Joseph geriet in Versuchung, eine Entschuldigung wenigstens anzudeuten, aber er genierte sich vor seinen Brudern. Heideschmied stand auf, preßte das Taschentuch an den Mund, und Joseph fühlte mit quälender Scham, daß der Alte ihn mit einem Blick durchschaute.

„Wie gut, daß die Kleine noch nicht da ist,“ sagte Heideschmied. „Sie wäre gewiß erschrocken. Ich werde heute nicht vortragen; nehmen Sie das Buch, Joseph, und lesen Sie.“

Der Verwundete blieb eine Zeit lang auf flüssige Nahrung angewiesen und wurde noch magerer.

In seinen Zöglingen aber regte sich ein der Reue sehr verwandtes Gefühl. Der „Hauptspaß“ war bei weitem nicht so lustig ausgefallen, als sie erwartet hatten, und überdies folgte ihm ein für sie beschämendes Nachspiel.

Als Heideschmied zum erstenmal mit seiner vom Arzt zusammengenähten Lippe bei Tisch erschien und die Tanten voll Teilnahme fragten, was ihm geschehen sei, antwortete er einfach: „Ich bin gestürzt.“

Die Gesichter der zwei Jüngeren erglühten, Joseph wurde blaß und stierte auf seinen Teller nieder.

„Ich war schuld, daß“ … stieß er hervor, wurde aber durch Heideschmied unterbrochen, der ihm die Hand auf die Schulter legte und sprach: „Kein Wort, Joseph, ich bitte Sie.“ Die Tanten merkten, daß es sich um eine interne Angelegenheit des Schuldepartements handelte, und schwiegen aus Diskretion.

Herr von Kosel merkte nichts.

Nach Tische waren Joseph und Franz im Garten mit der Herstellung eines riesigen Drachen beschäftigt, den die Spätherbststürme wie einen Adler in die Wolken tragen sollten. Elika sah ihnen bewundernd zu, Leopold lief hin und her, von einem quälenden Gedanken besessen. Auf einmal blieb er vor den andern stehen und schrie:

„Sehr unangenehm! Sehr unangenehm!“

Seine Brüder fragten nicht „Was?“, hoben die Köpfe nicht. Joseph murmelte: „Anständig war er. Verflucht anständig!“

„Das ist wahr, er klatscht nicht,“ sagte Franz, der im achten Jahr endlich gelernt hatte, das R deutlich auszusprechen.

Eines Abends nach dem Souper lud Herr Heideschmied Joseph zu einer kleinen Besprechung ein. Der Alte hatte die feierliche Miene eines Menschen, der im Begriff steht, einen ernsten, lange überlegten Entschluß auszuführen. Joseph folgte seiner Aufforderung mehr noch aus Neugier als aus Gehorsam.

[293] Das hellgetünchte riesige Zimmer, das der Erzieher in der Nähe seiner Zöglinge bewohnte, war äußerst einfach eingerichtet. Zufällig schienen die kleinsten Möbel sich in den größten Raum verirrt zu haben. Unter anderm stand da ein altmodisches, mit schwarzem Leder überzogenes Etablissement und nahm sich in dem reitschulartigen Gelaß wie eine Fliegenfamilie aus.

Heideschmied zündete eine Kerze an, stellte sie auf den Tisch und ließ sich auf das untere Ende des Ruhebettes nieder.

Joseph bereute schon, daß er gekommen war. – Der wird noch übermütig, der! Bildet sich noch ein, daß man sein Hund ist und gelaufen kommt, wenn er ruft.

„Wollen Sie nicht Platz nehmen?“ sagte Heideschmied.

„Nein.“

„Nach Belieben. Sie werden aber lang’ stehen müssen, denn ich habe Sie zu einer Unterredung geladen, die nicht so bald zu Ende sein wird.“

„Wenn es sich um eine Explikation handelt, muß ich Ihnen gestehen, daß ich die nicht liebe.“

„Auch ich nicht,“ sprach Heideschmied mit seiner leisen, friedfertigen Stimme, „sie sind überflüssig zwischen Menschen, die einander verstehen, und zwischen Menschen, die einander nicht verstehen, zwecklos. Aber es giebt zwingende Notwendigkeiten. Man wagt manchmal einen verzweifelten Versuch. Einen solchen will ich – bitte, lassen Sie mich ausreden! – will ich unternehmen. Bitte!“ wiederholte er sanft, da Joseph ihm abermals ins Wort fallen wollte.

„Ohne Einleitung! ich werde Sie nicht langweilen, ich komme gleich auf den Hauptpunkt. Sie verachten mich, Joseph, weil ich um Geld diene. Nun, wer ist schuld, daß ich einem höheren Zweck nicht dienen kann? Aber, lassen wir das jetzt … Wir befinden uns im Kampfe. Sie wollen mich aus dem Hause hinausfoltern, ich will mich drin behaupten. Sie denken: wir werden sehen, wer der Stärkere ist. Ich weiß, daß ich es bin. Meine Schultern vermögen mehr zu tragen, als Sie ihnen aufzubürden vermögen.“

„Oho,“ sagte Joseph.

„Diese Stärke verdanke ich der Uebung im Kampfe und dem einen, von dem ich wünsche, daß Sie es nicht zu früh kennenlernen – dem Leiden.“

Joseph fuhr auf: „Jeder Mensch hat seine Leiden. Was wissen Sie von dem, was in mir vorgeht?“

„Vielleicht kann ich es mir denken,“ erwiderte Heideschmied. „Ihre Leiden sind aber anderer Art, als die meinen waren.“ Er lächelte trotz der Schmerzen, die seine Lippe ihm dabei verursachte. „Sie haben Beobachtungsgabe und kennen so ungefähr etwas vom Elend Ihrer Landbevölkerung …“

„Ungefähr etwas,“ wiederholte Joseph mit hochmütigem Achselzucken.

Nur das, denn ernstlich – was Männer ernstlich nennen – [294] kümmern Sie sich nicht darum. So arg es aber auch sein mag, das Elend in den niederen Schichten der Stadtbevölkerung ist ärger, weil es Thür an Thür, oft sogar Ellbogen an Ellbogen mit dem Auswurf wohnt. In diesem Elend bin ich vor fünfundfünfzig Jahren geboren worden.“

Unwillkürlich wich Joseph zurück: „Deshalb also“ … Er vollendete nicht, es war überflüssig; Heideschmied hatte ihn schon verstanden.

„Deshalb, meinen Sie, Ihre instinktive Abneigung gegen mich, und thun sich was zu gute auf Ihren Instinkt. Nun, auch ich durfte mich auf den meinen verlassen. Mit kaum erschlossenen Augen sah ich mehr des Schlechten, als Sie sich träumen lassen können, Joseph … und Beispiele wurden mir gegeben – ein für dergleichen nur halbwegs empfänglicher Boden, und überwuchert wäre er gewesen vom Unkraut des Lasters. Ich blieb verschont, dank meinem Instinkt und einem andern guten Ding – Ekel vor dem Niedrigen. Nicht viele von uns waren damit begnadet. Das Elend hat eines mit der thätigen Barmherzigkeit gemeinsam, es kennt den Ekel nicht. Mich hat er vor manchem bewahrt, wovor meine Eltern mich nicht hätten bewahren können. Wie sollten sie? Sie arbeiteten tags über, der Vater in der, die Mutter in jener Fabrik; er warf sich erschöpft hin, wenn er heimkam, und schlief. Er hatte unterwegs schon gegessen.“

Und getrunken, dachte Joseph.

„Die Mutter fütterte uns, besorgte die Kleinen und wachte dann noch einen Teil der Nacht, nähte, flickte. Ich leistete ihr Gesellschaft. Mir als dem Aeltesten kam es zu, mich nützlich zu machen; ich verfertigte kleine Windmühlen und bunte Kreisel und eröffnete ein Geschäft. Ja – staunen Sie! Ein Kompagnon trug meine Waren aus, während ich mich in der Schule befand oder zu Hause die Kleinen hütete.

Im Anfang ging das Geschäft gut, dann kam es ins Stocken, vielleicht war der Kompagnon nicht sehr reell. Meine Mutter kränkelte, wurde immer schwächer, wurde entlassen. Nun übernahm sie es, unsere Waren auszutragen, sie schleppte noch den schweren Korb – ich machte jetzt außer Spielzeug auch Sachen für den Hausgebrauch, Bürsten und dergleichen – als sie sich selbst kaum mehr schleppen konnte … Aber die vielen Kinder, die warteten, die essen wollten … die vielen Kinder und nur zwei Erwerbende …“

„Drei, mein’ ich doch,“ unterbrach ihn Joseph, „es war doch auch Ihr Vater da.“

Heideschmied schien plötzlich befangen: „Der Vater – ja … o, er war ein Erwerbender, aber mehr sporadisch.“

Eine kleine Pause entstand.

„Summa Summarum, ich hatte allerlei Mühsal in meiner Kindheit,“ fuhr Heideschmied nachdenklich fort. „Mein höchstes Bestreben aber war: die Schule nicht versäumen, nur lernen. Wenn ich etwas gelernt haben werde, wird alles gut, und alle die Meinen werden versorgt sein.“ Wieso? wußte ich freilich nicht, ich glaubte es und war stark durch diesen Glauben … Lauter Gnaden … Wenn ich den Glauben nicht gehabt hätte, was würde ich angefangen haben während des langen Siechtums meiner Mutter, das ihrem Tode voranging? Und nachher … als die Güte und Hilfsbereitheit eines edlen Menschen mir zum Unheil ausschlug? – Einer meiner Professoren hatte mich lieb gewonnen, sich über meine häuslichen Verhältnisse unterrichten lassen und war unser Wohlthäter geworden. Der Vater erhielt durch seine Vermittelung eine gut besoldete Stelle. Leider war sie auch eine verantwortliche und setzte ihn mancher Versuchung aus. Er bestand sie nicht. Da triumphierte der Neid der vielen, die sich einer Bevorzugung – wohl mit Recht – würdiger gefühlt hatten, und wir waren niedergebrochen und sollten nicht mehr aufkommen. Der Neid und in seinem Gefolge die Verleumdung sorgten dafür. Bis dahin meinte ich nur, gekämpft zu haben, mein wahrer Kampf begann erst jetzt. Man muß unter der Last der schlechten Meinung geseufzt haben, um die dunkle Seite des Lebens und seine Grausamkeit zu kennen. Ich sage absichtlich ‚des Lebens‘ und nicht ‚der Menschen‘. Den Menschen im allgemeinen und gar im besonderen geschieht unrecht, wenn wir sie für die Urheber unseres Schicksals halten, sie sind nur sein Motor. Ich ahnte das damals schon und haßte die Nachbarn nicht, die mir ‚Diebssohn!‘ nachriefen, und auch nicht die Schulkameraden, die sich die Taschen zuhielten, wenn ich ihnen in die Nähe kam.

Uebrigens hatte ich eine Stütze an meinem alten Gönner, der nicht aufhörte, sich meiner anzunehmen, mir Lektionen und Stipendien verschaffte und nicht fragte, wohin denn mein Geld kam, wenn ich wieder in defekter Kleidung vor ihm erschien. Mein armer Vater hatte oft versucht, sich aus seinem Elend aufzuraffen, sank aber immer und jedesmal tiefer, bis er sich endlich nicht mehr erhob … Von den Kindern starben einige weg, einige konnt’ ich versorgen. Sie leben und verdienen ihr Brot. Eine ist mir verloren gegangen, eine Schwester. Das Ringen mit der Not wurde ihr zu schwer, und der Anblick unseres armen Vaters erbitterte sie. Sie war jung, sie war schön … ‚Damit läßt sich Reichtum und Wohlleben gewinnen,‘ bekam sie öfter zu hören als ihr gut war, und wenn ich ihr Vorstellungen machte, sagte sie: ‚Laß mich, zu Ehren bringst du uns doch nimmer‘ ... Einmal kam ich heim und fand sie nicht … Die Tage, an denen ich sie suchen ging, ihr nachspürte wie ein Hund, Verzweiflung im Herzen, das waren böse Tage … Sie können mich nicht ganz verstehen, Joseph, aber Sie lieben Ihre Geschwister, vorstellen können Sie sich, wie mir zumut gewesen ist, als ich damals meine Schwester …“

Die Stimme Heideschmieds wurde immer leiser und verschleierter und verlosch völlig bei den letzten Worten.

„Ich verstehe alles,“ sprach Joseph selbstbewußt. „Ich bin kein Kind mehr.“ Er vermied den Alten anzusehen, setzte sich und sagte: „Und dann?“




„Und dann?“ Er warf einen dankbaren Blick auf den Jüngling: „Dann machte ich die Erfahrung, daß man ganz ordentlich gelernt und die Seinen dadurch doch nicht erlöst haben kann. Und dann kam das Freiwilligenjahr, diese bittere Prüfungszeit des Mittellosen, und die Heimkehr, bei der ich alles noch schlimmer fand, als ich ohnedies gefürchtet hatte. Endlich der Tod meines Vaters und das Wiedererwachen des alten Grolls gegen uns. Weil … man muß auch für die moralischen Begriffe der Armen und Elenden schonendes Verständnis haben – weil nach ihrer Meinung unsere Schwester ein Glück gemacht hatte. Das käme uns zu gute, waren sie überzeugt. Und auch diese Schmach stählte mich, und statt unter ihr zu erliegen, bäumte ich mich auf und dachte: Ich werd’ euch schon zeigen!“ …

Der Alte blinzelte Joseph mit einem fast schelmischen Ausdruck an, der seine verwitterten Züge plötzlich erhellte: „Wie ich mir jetzt Ihnen und Ihren Brüdern gegenüber fortwährend denke: Ich werd’ Euch schon zeigen! – Nun also! – Ich will Sie mit Details nicht langweilen, nur sagen … es klingt hoffärtig, ist aber nicht so empfunden: Das Leben hat für den aufwärts Strebenden, der noch andre mit sich ziehen möchte, keine Klippe und keinen Dornstrauch, an dem nicht etwas von meiner Haut und etwas von meinem Blut hängen geblieben wäre. …

Ich stand in mehr als reifen Jahren, als mir die Stelle eines Erziehers in einem guten Hause angeboten wurde. Das Haus gut, o ja! sogar vortrefflich – die Kinder schwierig.“

„Wie bei uns?“

„Aerger. Sie und Ihre Brüder sind gegen mich nicht liebenswürdig, Sie können es aber gegen andre sein. Das konnten meine früheren Zöglinge nicht. Sie waren aus altadeligem Geschlecht, aber“ – er beugte sich über den Tisch und flüsterte Joseph geheimnisvoll zu: „gemeine Seelen. ‚Nicht drei Wochen,‘ prophezeite mir mein Vorgänger, ‚halten Sie es dort aus.‘ Ich blieb zwölf Jahre und habe wieder für eine Gnade zu danken. Die Existenz in diesem Hause war schlecht, aber mein Glück hab’ ich in ihm gefunden.

Gerade um die Zeit, in der mein Mut zu sinken begann und ich oft dachte: Es ist genug, lieber Karrenschieber sein! kam mir Trost in Gestalt einer Leidensgefährtin. Die Schwestern meiner Zöglinge erhielten eine Gouvernante, eine Französin, Mademoiselle Eugénie Villette. Fein, verständig, wacker. Sie hatte es um kein Haar besser als ich und klagte nie. Vier Jahre liebte ich sie im stillen, vier Jahre war sie meine Braut. Dann hatten wir unsre Aufgabe gelöst; ich trat in den Genuß meiner Pension, Eugénie besaß kleine Ersparnisse, wir konnten heiraten.“

[295] „Verheiratet sind Sie auch?“ rief Joseph mit ernstem Bedauern.

„Gott sei Lob und Dank! Glücklich verheiratet, durch die heiligste Pflicht unauflöslich mit dem Liebsten, das man hat, verbunden …“

„Schön verbunden! …. Sie sind ja weggegangen von Ihrer Frau.“

„Nicht gern. Aber – was sein muß, muß sein. Ein so einfaches Wort! und enthält die Fülle der Weisheit und macht stark … Meine Frau schenkte mir ein Kindchen und mit ihm ein neues, fremdartiges Glück. Die Kinder, die ich viele Jahre hindurch leitete, sahen in mir ihren Feind und haßten mich. Dieses kleine Geschöpf liebte mich. Ich war ganz erstaunt, wenn es bei meinem wahrlich nicht anmutigen Anblick lächelte, mir die Arme entgegenstreckte, wie damals Elika auf dem Turnplatz … ihr sah unser Kindlein ähnlich … ich wage kaum es auszusprechen, das Kind des Alters und der Dürftigkeit dem Kind eines blühenden Elternpaares …“

„Es ist gestorben,“ fiel Joseph ein, – „hat Elika ähnlich gesehn und ist gestorben …“

„Ganz jäh, ganz unerwartet. Der Arzt sagte, ihn überrasche es nicht. Wir hatten unsre kleine Milli für gesund gehalten und von einem sorgenfreieren Leben, als das unsre war, für sie geträumt. – Bald nachdem sie uns genommen wurde, klopfte eine alte Bekannte wieder bei uns an – die Armut. Die Familie, der wir unsre Dienste gewidmet hatten, erlitt große Verluste, alle Zahlungen wurden eingestellt. Ich konnte mich schwer entschließen, es meiner Frau mitzuteilen, und erschrak über die Kaltblütigkeit, mit der sie die Nachricht aufnahm.

‚Sollen wir wieder von vorn anfangen?‘ sagte sie, ‚wir waren am Ziel angelangt und sind müde Leute.‘

Ich verstand sie, wußte aber auch, daß meine tapfere Frau die schwächliche Regung, die ihr da gekommen war, in der nächsten Stunde bereuen würde.

So stellte ich ihr vor, daß das, was wir für ein Ziel gehalten hatten, nur eine Etappe gewesen war, auf der ein barmherziges Schicksal uns gegönnt hatte, zu rasten, bevor wir unsre Wanderung fortsetzten. Sie fügte sich. Die Erlaubnis, mich Herrn von Kosel vorzustellen, traf ein. Wir gingen vor meiner Abreise noch einmal an das Grab unseres Kindes, versprachen einander dort, daß wir ausharren wollen in unserm Kampf um eine bescheidene Häuslichkeit, und nahmen Abschied.“

Heideschmied richtete die kleinen, matten und doch scharfsichtigen Augen mit festem Blick auf Joseph: „Glauben Sie noch, daß Sie mich hindern werden, diesen Kampf zu bestehen?“

Joseph brummte etwas Unverständliches.

„Sie glauben es nicht. Sie wissen jetzt, daß Sie einem Gepanzerten gegenüberstehen. Ich bin nicht zu besiegen, weil meine Zuversicht unbesiegbar ist, daß alles noch gut werden muß. Ich halte aus, und meine liebe, brave Frau hat ihre Thätigkeit auch wieder aufgenommen.“

„Was thut sie?“

„Sie giebt Lektionen. War so glücklich, schon zwei zu finden. Dreimal wöchentlich jede, und die eine wird mit einem Mittagsessen, die andre mit einem Nachmittagskaffee honoriert. Es hat sich gefügt, daß beide auf denselben Tag fallen. Das macht wohl meinen Mangel an Appetit erklärlich, den Ihre verehrten und gütigen Tanten oft beklagen. Ich kann nicht essen am Hungertag meiner Frau.“

„Schicken Sie ihr denn nichts?“ fragte Joseph und der Alte erwiderte ausweichend, er habe noch nicht Gelegenheit dazu gehabt.

„Wie kann das sein … Haben Sie denn noch nichts … noch keinen …“ Er kam nicht weiter. Das Wort „Lohn“ wollte er nicht aussprechen und ein andres fiel ihm nicht gleich ein. Dagegen besann er sich, noch nicht die kleinste Münze in den Händen Heideschmieds gesehen zu haben, und besann sich auch der Klagen einiger Hausleute über die Unpünktlichst, mit der ihre Gehalte ausbezahlt wurden. – Herr v. Kosel sei gar so zerstreut. – – –

„Der Papa ist so zerstreut,“ sagte er laut, „man muß den Papa mahnen – haben Sie ihn nicht gemahnt?“

„Doch, doch! … mit schuldiger Rücksicht. Zudringlichkeit liegt außerhalb meiner Machtsphäre. Auch giebt es oder könnte doch Häuser geben, in denen der Erzieher ein Jahresgehalt bezieht …“

„Ach nein – ach, der Papa!“ Die Röte brennender Scham stieg Joseph ins Gesicht. „Man muß ihn mahnen,“ wiederholte er, und nun geriet der Hofmeister in Bestürzung:

„Lassen Sie das, ich bitte Sie! Ich komme zu dem Meinigen, bin ganz unbesorgt … Wenn ich noch nichts erhalten habe, habe ich auch noch nichts verdient. Noch keinen Erfolg zu verzeichnen, doch bleibt er nicht aus … Wenn alles so sicher wäre! Sie kommen mir vor, Joseph, wie ein edles Instrument, das bisher nur Mißtöne von sich gab, weil meine ungelenke Hand nicht versteht, es zu behandeln. Trifft sie’s aber einmal, schlägt sie die richtige Taste an – ich weiß, dann giebt es einen schönen Klang.“ Er stand auf und Joseph folgte seinem Beispiel.

„Gute Nacht, Joseph.“

„Gute Nacht, Herr Heideschmied.“ Ein letztes Widerstreben gegen ein warmes, liebevolles Gefühl, dann ein völliges Unterliegen. Er stürzte auf Heideschmied zu und fiel ihm um den Hals.

„Sie sind ein nobler alter Mensch!“ sagte er, wendete sich und ging mit großen nachdrücklichen Schritten aus dem Zimmer.

Noch nicht zur Ruh, noch nicht zu diesen Kindern – den Brüdern. In den Garten, in die kalte Novembernacht!

Die freie Luft blies sehr bald kühlend über seine spontane Begeisterung hinweg.

Joseph mußte sich schadlos halten für die Weichheit, die ihn einen Augenblick überkommen hatte, und vertraute den entlaubten Bäumen, den grauen Wolken und den matt glitzernden Sternen:

– „Nicht mahnen … ein alter Esel ist er doch!“




Das war ein stolzer Tag, an dem Leopold entdeckte, daß Elika lesen könne. Fast ganz allein hatte sie es gelernt mit Hilfe des alten, außer Gebrauch gesetzten Lesespiels ihres Bruders Franz. Ueberraschend schnell drang sie auch in die Geheimnisse der Schreibkunst ein, und man kam um einen Genuß, als sie ihr Ziel erreicht hatte. Es war ergötzlich gewesen, sie zu sehen: an ihrem Tischlein sitzend, das liniierte Blatt vor sich, die Fingerchen so fest um den Federstiel gekrallt, daß ihre zarten Gelenke ganz weiß wurden, formte sie sorgsam und mühevoll große A mit dicken Bäuchen und eckige O und schraubenförmige I. Aber das war nur der erste Anfang, und bald erklärte Heideschmied, sie mache Fortsprünge, nicht Fortschritte. Wenn ihre Brüder zu ihr sagten: „Warum plagt sie sich? Sie muß ja nicht, sie braucht ja nicht,“ erwiderte sie: „Aber ich will!“

„Und warum will sie?“

Ja, das sagte sie nicht, das mochten die Brüder nur erraten!

Sie rieten und rieten und errieten es nicht, und erst als ihre allzu straff gespannte Neugier nachzulassen drohte, wurde sie befriedigt.

Elika lernte schreiben, damit sie ihnen Briefe schicken könne.

Sie lachten: „Uns will sie Briefe schicken? Ueber den Gang? Aus ihrem Zimmer in unseres?“

„O nein! von viel weiter her.“ Und jetzt nahm sie die kluge und wehmütige Miene an, die jeden rührte und entzückte: „Ihr werdet im Garten sein und an gar nichts denken und auf einmal werden zwei kleine goldene Wolken sich auseinanderschieben und drei Briefe werden herunter fallen. Ein rosenfarbiger, ein grüner und ein lichtblauer, und die werden für euch sein und ihr werdet gleich wissen von wem, und drin wird stehen, wie schön es im Himmel ist und wie gut es mir geht und alles.“

Da heimste sie für ihre liebreiche Absicht die größte Dankbarkeit ein. Joseph gab ihr einen Zärtlichkeitsklaps auf den Kopf, Franz hatte Thränen in den Augen und Leopold sagte, man müsse ihr wieder etwas schenken. Von all den Huldigungen war ihr der Klaps doch die liebste. Joseph stand ihrem Herzen am nächsten. Von ihm ließ sie sich nicht nur bedauern, sie bedauerte ihn wieder. Er lernte so schwer, unter so schrecklichen Qualen! und hatte schon heute vergessen, was ihm Heideschmied gestern mit Mühe eingetrichtert.

[296] „Vor allem müssen Sie das Lernen erlernen,“ sagte der Alte und gab ihm alle mögliche Anleitung und die besten Ratschläge und Elika bekräftigte:

„Ja, so mußt du’s machen.“ Sie blieb bei ihm als Polizei und als Trösterin und wenn er von seinem Buche aufblickte und durchs Fenster sah, hielt sie ihm ihre Hände vor die Augen, küßte ihn und flehte ihn an: „Ach, Joseph, schau’ nicht!“

Manchmal wurde er sogar gegen sie ungeduldig und stieß sie weg. Ach, brennend sehnte er sich ins Freie! Was verstand sie, ein Mädchen, eine arme Kleine, von dem, was in ihm vorging? Sie ahnte nicht, wie es ihn hinauszog, immer! immer! Zur Sommerszeit, wenn alles wächst und atmet, sich in wehender, würziger Luft, im sonnigen Lichte des Lebens freut, und in den Stürmen des Herbstes bei fallendem Laub, und im Winter, bei wirbelndem Schnee, immer! immer! Nie so sehr aber, als eben jetzt im rauhen, kernigen Vorfrühling seiner Heimat, der so herb scheint und so voll Wonne und Süße ist, so wenig verspricht und so viel hält … Ins Freie! Draußen im Freien, ob im Genuß der Natur, ob im Kampf mit ihr, war er ein König gewesen, im Gefühl seiner Jugend, seiner Kraft und Selbstherrlichkeit. Und jetzt fühlte er sich als Knecht im Frondienst, als Zugtier, eingespannt in ein verabscheutes Joch. Vor Büchern hockend, deren tote Buchstaben ihm nie und nie lebendig werden wollten!

Nein, sie konnte sich keinen Begriff von dem machen, was er litt, und sollte auch nicht! Er wollte sie ja davor bewahren, etwas Schreckliches kennenzulernen in ihrem kurzen Leben. Wenn sie ihn gar zu kummervoll ansah, auf seine gefurchte Stirn deutete und auf seine zusammengezogenen Brauen und traurig sagte: „Solche Falten! solche Falten!“, schlug er ein wildes Lachen auf.

„Am End’ auch graue Haare? Pfui! … Marsch und marsch und marsch!“ Und er schleuderte seine Bücher in die Ecken, gegen die Decke und das letzte auf den Boden und hüpfte mit einem Fuße so geschickt, so schnell, so unablässig drüber hin und her und lachte dazu so toll, daß die Kleine mitlachen mußte.

Sein Verhältnis zu Heideschmied hatte sich plötzlich geändert. Alle Hausleute bemerkten die Wandlung und freuten sich ihrer. Der gute, bescheidene Hofmeister, der einen so schweren Stand hatte mit den jungen Herren, war eine beim Hofstaate sehr beliebte Persönlichkeit und erfreute sich sogar der schwer zu erringenden Gunst Frau Apollonia Budiks. Die Tanten verehrten ihn geradezu und es war für sie ein schwerer Schlag, als Joseph ihnen, am Morgen nach seiner Unterredung mit dem Erzieher, seine Vermutung mitteilte, daß „der alte Heideschmied“ noch kein Honorar bekommen habe.

„Wär’s möglich? könnte Felix so etwas vergessen?“ fragte Renate, als Joseph das Zimmer verlassen hatte. Charlotte geriet gleich wieder in eines jener Extreme, in die sie so leicht verfiel, und erwiderte mit schmerzlicher Härte: „Du solltest lieber fragen: Wär’s möglich, daß er nicht vergessen hätte? Woran denkt denn der? … Aber wir, Renate, wir zwei, daß wir uns nicht gedacht haben, daß er an nichts denkt! Daß wir ihn nicht erinnert haben! Es ist eine Schande für uns, für die ganze Familie und läßt sich nie wegputzen! bleibt auf uns sitzen.“ Sie rang die Hände: „Diesem Manne gegenüber! dieser in Menschengestalt unter uns wandelnden Delikatesse! Heute noch wüßten wir nichts und hätten nie etwas davon erfahren, wenn Joseph nicht gescheiter als wir – es erraten hätte!“

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Mit flammenden Wangen erschien sie vor ihrem Neffen und fand ihn vertieft in eine Zeitungsanzeige. Ach diese Zeitungen! er verschlang nicht sie, er las ja wenig, sie verschlangen ihn. Alle acht Tage abonnierte er auf eine neue und gab die alten nie auf, ordnete sie, verwendete unendliche Zeit, um nach einer fehlenden oder auf einen ungewohnten Platz geratenen Nummer zu suchen.

„Ich störe dich,“ sagte die Tante mit einem Anflug von Ironie, „das macht aber nichts, denn es handelt sich um etwas Wichtiges.“

Er sah sie freundlich und ganz abwesend an und sprach: „Ich bitte dich, setz’ dich.“

Sie hatte Mühe, einen zeitungsfreien Sessel zu finden, aber endlich gelang’s und Kosel pflanzte sich vor sie hin, ein Postpaket mit amerikanischen Stempeln in der Hand.

„Es ist merkwürdig, was jetzt geleistet wird,“ begann er. „Das ist die ‚Union‘. In Washington erscheint sie und hat eine Viertelmillion Abonnenten. Eine Viertelmillion. Denk nur – das Papier!“

„Viel, erstaunlich viel Papier … Was ich dir sagen wollte, Lieber, du hast doch mit Heideschmied die Gehaltsangelegenheit besprochen? Bei seinem Eintritt ins Haus, nicht wahr? Hundert Gulden monatlich verlangte der Schuldirektor in seinem Namen. Wenig Geld für eine große Leistung: unsere drei Löwen bändigen und abrichten! Nun ist Heideschmied schon länger als ein halbes Jahr im Hause. Du entrichtest sein Honorar doch pünktlich, Lieber?“

Er schien aufmerksam zugehört zu haben, Charlotte war gerührt und bereute schon ihren entwürdigenden Verdacht.

Ihr Neffe blickte sie noch freundlicher an als früher und sagte: „Diese Papiermühlen in Amerika. Ja, was das für Mühlen sind, was die leisten! Wir könnten das nicht, wir sind weit zurück.“

Sie wurde gleich wieder böse. Er hatte ihr gar nicht zugehört, seine Gedanken waren in den amerikanischen Papiermühlen. „Weit zurück, jawohl! im Rückstand, das bist du, mit dem Honorar des guten Heideschmied, und das ist äußerst sträflich, es ist eine Pflichtvergessenheit –“ … Sie hielt inne, sie fürchtete, ihm weh gethan zu haben.

Er hatte sie nicht aus den Augen gelassen und schien sie doch nicht zu sehen. Seine Miene hatte etwas Visionäres, von innen heraus Leuchtendes. Ein Forscher, dem eben die Lösung eines schwierigen Problems eingefallen ist, mag sich so ausnehmen. „Zurück, ja, weit zurück sind wir. Wir können es nicht herstellen. Das kommt vom Wasser.“

Charlotte entfloh. Sie wollte sich nicht über ihn ärgern. Er war schließlich doch sehr bedauernswert und hatte nichts als sein unfruchtbares Spintisieren. Man lasse ihn dabei, störe seine Kreise nicht.

„Heideschmied hat noch keinen Heller bekommen!“ rief sie, in den Sibyllenturm zurückgekehrt, ihrer Schwester zu, „und bekommt keinen, wenn er wartet, bis Felix es sich zum Bewußtsein bringt, daß man Hofmeister zu besolden pflegt. Da müssen wir eintreten, bestes Herz, müssen diesen Sprung in der Ehre des Hauses verkitten.“

„Aber wie, liebes Herz?“

Wenn die Schwestern sich in Bedrängnis befanden, gebrauchten sie gegeneinander zärtliche Ausdrücke.

„Ich glaube, so. Ich überreiche Heideschmied in Felix’ Namen die rückständige Besoldung und sage ihm: Mein Neffe übersendet Ihnen dieses erste Mal Ihr Honorar halbjährlich, wird es Ihnen aber von nun an monatlich zustellen lassen, wenn es Ihnen paßt?“

„Eine Lüge?“

„Eine Notlüge; dann – es geht nicht anders! – nimmst du Heideschmied in die Küchenrechnung.“

– „Charlotte, welcher Einfall! … Unmöglich. Soll ich ihn einschalten zwischen dem Fleischer und dem Gewürzkrämer, oder wo?“

„Das braucht nicht zu sein. Setz’ ihn obenan.“

So trat der mäßigste Mann im Hause an die Spitze der Küchenrechnung.

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Das Leben ging gleichmäßig hin. Zwei Jahre nachdem Heideschmied sein schwieriges Amt angetreten hatte, unternahm er ein Wagnis. Er fuhr mit seinen Zöglingen nach der Kreisstadt, wo Franz in der Volksschule aus der vierten, Joseph und Leopold auf dem Gymnasium aus der zweiten Klasse Prüfung ablegten, Franz und Leopold bestanden schlecht und recht. Joseph fiel durch.

Bald darauf wurde Familienrat gehalten und beschlossen, zum Beginn des nächsten Schuljahrs nach Wien zu ziehen. Herrn von Kosel würde einige Zerstreuung gut thun, den Knaben das Studieren in öffentlichen Schulen leichter und lieber sein als das Studieren zu Hause. Und für Elika, die in letzter Zeit um [298] ein paar Deka ab- statt zugenommen hatte, wäre es gut, einige Monate unter den Augen einer ärztlichen Celebrität zu verbringen.

So zog die Familie nach Wien und blieb dort vollzählig bis zum Frühling. Länger hielt Kosel es in der Stadt nicht aus. Auf Elika waren die Augen der ärztlichen Celebrität ohne Wirkung geblieben. Sie kam ebenso blaß, schmal und zart heim, als sie abgereist war. Heideschmied und die Knaben blieben in Wien und trafen erst zur Ferienzeit im gelobten Lande Velice ein. Leopold hatte die dritte, Franz die erste Gymnasialklasse absolviert. Joseph war wieder durchgefallen. Der vierzehnjährige Mensch, der aussah wie ein siebzehnjähriger, der Prachtbursche, der einen so klaren Verstand hatte, und so vieles konnte und wußte, was sich nicht erlernen läßt, war nicht imstande, in seinen hellen Kopf hineinzubringen, was Tausende dummer Jungen von zwölf Jahren in ihren Schädeln beherbergen.

Eine gute Frucht trug die Wiener Expedition aber doch; die Familie machte die Bekanntschaft Frau Heideschmieds und das war ein wirklicher Gewinn. Die unansehnliche kleine Frau mit den müden Augen, der zierlichen Gestalt und den abgearbeiteten Händen gewann alle Herzen und wurde als zukünftige Erzieherin Elikas nach Velice mitgenommen.

Als Joseph dahin zurückkehrte und schon am ersten Tag nach Valahora eilte, fand er das alte Haus herrenlos. Bornholm hatte sich auch in diesem Jahre vergeblich erwarten lassen. Hingegen traf in einem anderen alten Schlößchen eine sehr liebe Nachbarin ein.


„Die drei V“, Velice, Valahora, Vrobek, liegen nahe beieinander an der breiten und gut erhaltenen Landstraße, die sich fast immer auf- oder absteigend zwischen Feldern, Obstgärten, Wiesen und Wäldchen meilenlang an den Ausläufern der Beskiden hinzieht. Das stattliche Schloß Velice weithin sichtbar im Bouquet seiner Gärten, rechts und weiter ab vom Verkehr das düstere Valahora, und kaum eine Viertelstunde davon entfernt das kleine Vrobek. Jetzt nicht mehr größer als ein Bauerngut, aber geziert mit einem köstlichen Wohnhaus im Zopfstil, einem Kleinod. Allerdings nur noch für den Antiquar; dem Unkundigen gar zu alt und verfallen. Den Besitzern hatten längst die Mittel gefehlt, das hübsche Bauwerk in gutem Stand zu erhalten. Ihr geringes Vermögen war bis auf einen Bruchteil durch das lange Siechtum der alten Leute aufgezehrt worden. Sie hatten, von ihrer Tochter begleitet und gepflegt, ihre letzten Jahre fern von der Heimat im Süden zugebracht und rasch nacheinander in einem Städtchen Welschtirols ihr bißchen Leben ausgehaucht.

Verwaist kehrte ihr einziges Kind, die letzte der jüngeren Linie Kosel, nach Vrobek zurück. Seelenallein kam sie von der Bahnstation in dürftigen Trauerkleidern. Sie klopfte an die Thür des Bürgermeisters, der auch Pächter ihres Gütchens und Hüter ihres Hauses war.

„Ich bin wieder da, Bürgermeister, und melde mich.“

Er betrachtete sie eine Weile, sein Blick ruhte auf ihrer feinen Gestalt, ihrem freundlichen lieblichen Gesicht. „Ja, Sie sind’s,“ sagte er dann, nahm die Pfeife aus dem Munde und steckte sie noch brennend in die Rocktasche: „Also, wenn Sie’s sind, herzlich willkommen! Wollen Sie ins Schloß, gnädiges Fräulein, so hole ich die Schlüssel.“

„Ich bitte, Herr Bürgermeister.“

Er begleitete sie. Der kleine Garten, der das Haus umgab, war eine Wüstenei geworden. Von dem Lattenzaun standen nur noch einzelne Stücke sozusagen aufrecht, der größte Teil hatte sich morsch und müde ins Gras gelegt und war unter ihm und üppig wucherndem Unkraut verschwunden.

Vor der Hausthür blieb Luise zögernd stehen: „Wie sieht’s da drin aus?“ fragte sie – ihre Augen lächelten, aber die ausdrucksvollen Lippen verrieten eine schmerzvolle Spannung, eine tiefe Wehmut.

„Wie halt immer. Viel Fledermäus’. Aber die sind gut gegen das Ungeziefer.“

Er schloß auf und ging voran, um auch den Fensterladen und das Fenster in der kleinen achteckigen Halle zu öffnen, von der aus die Treppe ins obere Geschoß hinaufführte. Licht und Luft drangen herein, liebe Heimatluft, liebes, heimatliches Sonnenlicht. Es beleuchtete grell alle Risse in den Mauern, alle klaffenden Lücken in den Kapitälen, Kanten, Sockeln, Verzierungen der Pilaster und die Schadhaftigkeit der Treppe und ihres Geländers und die Wellenlinien des Deckengewölbes.

Er war eben aufrichtig wie ein Freund, der geliebte Sonnenschein, brachte die Wahrheit an den Tag, vertuschte nichts.

Der erste Besuch, den Luise am folgenden Tage machte, galt den Verwandten in Velice. Man empfing sie mit offenen Armen, und was das Haus vermochte, wurde ihr von den Tanten zur Verfügung gestellt. Aber – sie war gewohnt, selbst eine Stütze zu sein. Sie nahm Hilfe von andern, auch von den Teuersten, Verehrtesten, nur ungern und zögernd an. Am liebsten half sie sich doch selbst, hantierte mit Nadel und Schere, mit dem Hammer und der Leimpfanne und auch mit der Maurerkelle, und gar oft ersparte die Axt im Haus den Zimmermann.

Zwei Gehilfen standen ihr bald zur Seite. Eine rüstige, von Charlotte empfohlene Magd und Neffe Joseph, der ihr vom ersten Tag an einen Kultus der Begeisterung und Bewunderung widmete. Wie vom Himmel war sie ihm gefallen, diese Tante, deren er sich kaum noch erinnerte, an die er nie gedacht hatte. Und wenn er es gethan hätte, ihm wäre doch nicht in den Sinn gekommen, daß eine Tante auch jung und hübsch sein könne. Nun war ihm eine solche beschert worden, und – o guter Gott! – er durfte sich ihr nützlich machen, sich vor ihr in seinem Glanze zeigen und mehr sein in ihren Augen als ein durchgefallener Schuljunge. Er setzte seinen Ehrgeiz darein, ihr verwahrlostes Heim in ein behagliches und trauliches zu verwandeln. Er verstand den Taglöhnern Eifer einzuflößen, gab den Werkleuten Handgriffe an, auf die sie von selbst nicht gekommen wären, war unerschöpflich an guten Einfällen, unermüdlich in ihrer Ausführung.

„Wenn ich dich nicht hätte, was würde ich anfangen?“ sagte sie oft, und dann war er glückselig für den ganzen Rest des Tages und darüber hinaus und so lange, bis sie ihm wieder etwas Liebes sagte.

Fast täglich kamen die Tanten herüber und staunten über die Thätigkeit, die entfaltet wurde, und beteiligten sich nach Kräften an ihr. Renate nähte Kapuzen aus hübschem Kattun für die gänzlich verschlissenen, seidenen Ueberzüge der Sitzmöbel, und Charlotte übernahm die Tapeziererarbeit und wurde einmal sogar überrascht, wie sie auf eine Leiter stieg, um einen Fenstervorhang zu befestigen.

Auch Kosel fand sich manchmal in Vrobek ein, warf zerstreute Blicke umher, schien nichts zu sehen und sah doch hier und da etwas. Er hielt auch kleine Vortrüge über die Nützlichkeit gut gebohnter Fußböden und undurchlässiger Dachdecken. Einmal durfte Elika ihn begleiten und sie kamen zu dem kleinen Hof am Ende des Gartens, der einst einen Meier, eine Kuh und einige Schafe beherbergt hatte. Auch ein Paar Pferde war damals vorhanden gewesen, die der Meier an Wochentagen in der Wirtschaft verwendete und Sonntags vor die Kalesche spannte. Er selbst schlüpfte dann in einen kurzschößigen, graumelierten Frack mit Wappenknöpfen, die einst versilbert gewesen waren und nur einiger Ermunterung bedurften, um wie Gold zu glänzen, und kutschierte seine Herrschaft nach Velice in die Kirche. Eine eigene Kirche besaß Vrobek ebensowenig wie Valahora.

Kosels Jugenderinnerungen erwachten beim Anblick des Miniatur-Meierhofs mit seltener Lebhaftigkeit.

„Da sind Pferde gestanden,“ sagte er zu seiner Tochter und deutete auf die leeren Stände. „Mit denen sind dein Großonkel und deine Großtante zur Kirche gefahren.“ Und nun spann er seine Erzählung in Gedanken weiter. Er war als Kind angewiesen worden, dem alten mürrischen Onkel und der Tante, die ihn immer so ungut ansah, unter dem Kirchenthor das Weihwasser zu reichen. Er besann sich, wie es ihn durchfröstelt hatte, wenn die steifen kalten Finger der beiden Alten die seinen berührten. Als großer Junge noch hatte er eine unüberwindliche Scheu vor den einzigen Menschen gehabt, die ihm nie einen freundlichen Blick gegönnt. Und als Luise zum erstenmal in die Kirche mitgenommen wurde, und ihr hübsches, kluges Kindergesicht glückselig lächelnd hinter dem Elternpaar hervorgeguckt, [299] und sie dem Vetter ein kleines altes Gebetbüchlein triumphierend entgegen geschwungen – da hatte er förmlich aufgeatmet. Sie war immer nett gewesen.

„Papa,“ unterbrach ihn Elika in seinen Betrachtungen, „und was war denn da?“ Sie zeigte auf den dritten leeren Platz.

„Da war die Kuh, die Schekovska.“

„Schekovska hat sie geheißen?“

„Tante Luise hat sie so genannt.“

„Und warum hat Tante Luise sie so genannt? War sie vielleicht ein Scheck?“

Er lächelte: „Nein, braun war sie.“

„Und warum steht heute keine Schekovska da?“

„Schau hinauf. Es würde ihr ja auf den Kopf regnen.“

„Du mußt das zumachen lassen, Papa,“ entschied Elika. „Du mußt das ganz schön machen lassen und dann mußt du eine Kuh herschicken. Joseph sagt, die Tante Luise hat keine einzige Kuh, und wir haben so viele. Wieviele haben wir?“

So gut er konnte, gab er Rechenschaft. Im Gespräch mit ihr war er nicht zerstreut, alles, was sie sprach, gefiel ihm, interessierte ihn. Apollonia hatte recht, zu behaupten, im Geistigen sei ihm Elika „absolut“ ähnlich, keiner seiner Söhne gleiche ihm so sehr wie sie.

Kosel dachte darüber nach, wie leid ihm sein würde, wenn er sein kleines, geistiges Ebenbild nicht mehr um sich haben könnte. In der weichen Stimmung, die ihn ergriffen hatte, versprach er seiner Tochter alles, was sie wollte. Ja, der Stall wird neu aufgebaut und eine Kuh wird hinein gestellt und Elika darf dann der Tante sagen: „Das schenk ich dir.“ So wünschte sie’s und so sollte es sein; alles so wie seine kleine kluge Tochter es wünschte.

„Ja, wenn es dich freut,“ sagte er immer.

O, es freute sie! Erbauerin eines Stalles und Spenderin einer Kuh sein, das ist doch was! Aber sie ließ nicht allzuviel von ihrer Freude zum Durchbruch kommen, sie hatte eine bestimmte Ahnung von der Macht, die sie als arme Kleine besaß.

Luise mußte eine Zeit lang den untern Teil des Gartens meiden, durfte nichts hören und nichts sehen bis zu der Stunde, in der sie eingeladen wurde, eine wiedererstandene alte Bekannte begrüßen zu gehen.

Ganz Velice hatte sich zur Ueberraschungsfeier in Vrobek eingefunden. Vor dem restaurierten Höfchen standen Kosel und die beiden Tanten, Apollonia, die unerhört Konservierte, prangte neben ihnen in der Farbe der Rose ohne ihre Vergänglichkeit. Etwas abseits hielt sich – ein Bild stillen Glückes – das Ehepaar Heideschmied. Er, würdig und stolz, sie fein, freundlich und voll Anmut noch im Alter. Wenn er zu ihr niederblickte, schimmerte helle Wonne durch das Grau seines Teints, und er hatte etwas vom verschleierten Mond. Joseph war ins Haus gelaufen, um Luise abzuholen, und als sie kamen, legte Leopold eben einen Kranz um die Hörner der neuen Schekovska, die aber diese Zierde lieber in ihrem Magen beherbergt hätte. Franz war auf das Dach geklettert, saß rittlings auf dem Firste und krähte wie ein Hahn.

Elika stand an der offenen Stallthür im weißen Kleide, das Köpfchen zur Seite geneigt, und ihre sanfte Duldermiene schien zu sagen: Wem du diese Freude verdankst, mußt du durch andre erfahren, ich bin zu bescheiden, ich verrat’ es nicht.

[325] Elika hatte ihr achtes Jahr erreicht, wuchs in die Höhe und blieb dabei beunruhigend zart und schmächtig. Nicht oft gab es einen Tag, an dem sie ohne Kopfschmerzen blieb, kam aber einmal einer, dann entschädigte er sie für eine lange Zeit der Leiden; eine ungewohnte Erscheinung trat ein – die arme Kleine war seelenvergnügt.

„Ich hab’ nicht gewußt, wie gut das ist, vergnügt sein,“ sagte sie zu Joseph und brachte es nach und nach dahin, sich durch körperliche Schmerzen die Laune nicht verderben zu lassen.

Den Gedanken, daß sie früh sterben werde, gab sie nicht auf. Er war ihr immer noch lieb. Sie spielte mit ihm, dichtete an ihm herum, stellte sich vor, wie der Abschied von Papa und von den Tanten, von den Brüdern und von den Hausleuten sein werde. Sie wollte an jeden einzelnen rührende Worte richten und sterben bei offenen Fenstern im Schein der aufgehenden Sonne, wie eine Heldin und wie eine Heilige.

Ihr Lerneifer hatte sich abgekühlt, seitdem sie des Lesens und Schreibens kundig war. Unter allen Gegenständen, die ihr Heideschmied in unnachahmlich liebenswürdiger und den Wissensdurst reizender Weise vortrug, liebte sie nur Geschichte, und besonders die alte, die der Sagenzeit am nächsten ist. Ihr Gebiet, das Daheim ihrer Träume, war das Märchen. Ein wonniges Glücksgefühl durchdrang sie, wenn sie vor dem Gartenhause, indem ihre Puppen verblichen und verstaubten, unter den alten Erlen auf und ab ging wie eine kleine Schildwache, ihr Buch in der Hand, und Märchen las. Mit größtem Entzücken die des alten französischen Märchensammlers Perrault. Sie hatte in wenigen Monaten von Frau Heideschmied französisch sprechen und lesen gelernt.

O Prinzessin Gracieuse, o Prinz Percinet, wie wurdet ihr geliebt! Wie wurdest du gehaßt, elende Fee Grognon! Und du Holde mit den goldenen Haaren, und du blauer Vogel und du gelber Zwerg, welche Gefühle der Lust und Unlust erwecktet ihr! … Und du guter dummer Königssohn mit der ellenlangen Nase, die sich in eine wohlproportionierte nicht verwandeln durfte, ehe du sprachst: „Ich seh es ein, meine Nase ist zu lang!“ wie wurdest du verspottet! O lachen und weinen, gesegnete Qual seliger oder gruseliger Erwartung, die dadurch nicht im geringsten vermindert wurde, daß die eifrige Leserin ihre Bücher, die unerschöpflichen Quellen all der Wunder, fast auswendig wußte.

Wenn die Brüder von der Lehrstunde kamen – und ihr erster Weg führte [326] sie immer zur Kleinen, ob sie im Garten oder auf ihrem Zimmer war – versank die Märchenwelt. Sie lief den Brüdern in die Stallungen nach, und bald mußte für sie auch ein Pony gezäumt und gesattelt werden. Kosel selbst nahm ihr Pferdchen an den langen Zügel, und sie trabte neben ihrem zerstreuten Papa einher, der ihr oft zulächelte, ihr aber gar keinen Unterricht gab. So wurde sie eine ungeschulte, aber kecke Reiterin und nahm die „arme Kleine“ nicht mit auf den Rücken des Pferdes. Die legte sie ab mit ihrem weißen Kleidchen, wenn sie ihre „Amazone“ anzog, um wieder hineinzuschlüpfen, sobald sie von ihrem Rößlein gehoben wurde.

Auf dem Turnplatz zeichnete sie sich ebenfalls aus, vor einem ständigen Publikum, das jetzt weniger feindselige Elemente zählte, weil die Kleine mit ihrer um Liebe und Mitleid werbenden Miene öfters vor ihm erschien und Geschenke verteilte.

Seitdem Joseph den größten Teil des Tages in Vrobek zubrachte, war überhaupt ein längerer Waffenstillstand eingetreten, und erst gegen das Ende der Ferienzeit wurde er unterbrochen.

In den Gärten Leopolds und Franz’ waren neu angelegte Blumenbeete zerstampft, Bäume ihrer schönsten Zweige beraubt worden. Zum Ueberfluß flogen eines Morgens Steine von der Straße herüber, von denen einer die Schulter Elikas streifte. Da sprang Franz über den Zaun, erwischte den Uebelthäter und bläute ihn durch.

Auf das hin Klage der Eltern des Gezüchtigten beim Bezirksgericht, Zeugenverhör, wachsende Erbitterung der drei jungen Herren, als die Entscheidung des Gerichtes günstig für die Dorfbewohner ausfiel.

Um die Zeit fand ein Ereignis statt, dessen wirklicher Hergang für die Schloßbewohner in Dunkel gehüllt blieb. In ganz Velice hätte nur ein Erwachsener genaue Auskunft darüber geben können: der Herr Schullehrer. Und der schwieg, verriet nicht, daß er Zeuge einer Schlacht gewesen war.

Etwa zwanzig Knaben aus dem Dorfe hatten die drei Brüder gestellt. In einem Hohlweg, der zwischen Bauernfeldern lag.

„O je, die Herren!“ rief der rote Vichoda, grinste und riß höhnisch die Mütze vom Kopf.

Baros, der Bürgermeisterssohn, bläst sich auf, steckt die Hände in die Taschen:

„Woher? Vom Bauernfeld. Was haben Sie auf dem Bauernfeld zu suchen?“

Sogleich ging’s zu wie im ersten Auftritt von „Romeo und Julie“.

„Sucht ihr Händel?“

„Wenn ihr Händel sucht, ist’s recht.“

„Wir stehen zu Diensten.“

„So, ihr drei?“

„Hierher, Franz, Leopold, hier Schloß!“

„Hier Dorf!“

„Gesindel!“

„Wer – Gesindel?“

„Wer fragt.“

„Oho: Wartet ihr!“

Eine Schar wilder Jungen stürzt sich über die drei. Die sind gewandter als die Gegner, mutiger, ruhiger. Ein halbes Dutzend Feinde haben sie bald unlustig gemacht, den Krieg fortzusetzen. Doch ist die Ueberzahl zu groß, sie müssen endlich weichen, und der älteste und kühnste von ihnen kommt nicht dazu, seine ganze Kraft zu entfalten, weil er beim Angriff immer zugleich für die Verteidigung seiner Brüder sorgt.

Der Kampf war schon heiß entbrannt, als der Schullehrer, von einem Spaziergang heimkehrend, in die Nähe des Schlachtfeldes kam. Ein Strauch wilder Rosen an der Biegung des Weges verbarg ihn, und behaglich konnte er zusehen, wie die jungen Herren geklopft wurden.

Am härtesten bedrängt war Franz und auch am erregtesten von allen. Joseph verfolgte ihn mit den Augen und rief ihm einmal ums andere zu:

„Aergere dich nicht, wehr dich!“

Leopold bewahrte seinen guten Humor. Seine Spottreden prasselten und flogen, mancher Schlag, der ihn treffen sollte,ging fehl, weil der Angreifer beim Ausholen hatte lachen müssen. Aber die Schläge, die er austeilte, trafen alle und saßen fest. Jetzt unterliefen ihn ein paar Buben, er verlor das Gleichgewicht und war schon im Stürzen, als Joseph zu Hilfe kam und ihn aufrecht erhielt. Im nächsten Augenblick waren ihrer zehn über den beiden und die verdienten sich heute wieder ihren Spitznamen: die Löwen. So schön und großartig war ihre Kampfweise, daß einige, die mitgethan hatten, austraten, um zuzusehen. Sogar einen Bundesgenossen bekamen sie. Hanusch, der Sohn des Zimmermanns, ein Knopf von einem Burschen, stämmig wie ein Amboß, mit Fäusten wie Holzschlägel, rief auf einmal: „Hie Schloß!“ und parierte einen Hieb, der nach Joseph geführt wurde.

Nun gellte ein Schrei der Wut aus dem Getümmel, aus dem eben noch der Kopf des Bruders Franz geragt hatte. Eine Schar kleiner Jungen warf sich über einen, der am Boden lag.

Joseph brüllte: „Franz! Franz! sie haben ihn niedergerissen!“

Mit der Bewegung eines kräftigen Schwimmers keilte er die Arme in das Rudel der Feinde, schob sie auseinander und schleuderte sie hinter sich, daß sie reihenweise hinpurzelten, Leopold und der Hanusch vom Zimmermann deckten ihm den Rücken. Ein paar Schritte und er ist bei Franz, ein paar Fußtritte und die kleinen Bedränger kugeln nach rechts und nach links. Den letzten hebt er beim Hosengurt in die Höhe und der zappelt mit allen Gliedern wie eine aufgespießte Kreuzspinne.

Der Schullehrer eilt aus seinem Versteck herbei und zetert: „Mein Wenzi! Lassen Sie ihn! Ruhe! Ruhe!“

Joseph wendet sich, spricht kein Wort, wirft mit einer verächtlichen Gebärde dem Lehrer seinen Sprößling in die Arme und blickt zu Franz nieder.

Leopold kniet schon bei ihm und will ihn aufrichten. „Laß, laß, ich kann schon allein,“ sagt er, sieht mit unheimlich glasigen Augen um sich und sinkt zurück.

„Wenn er tot ist, müßt ihr alle sterben!“ donnert Joseph die Bauernkinder an, einige bleiben trotzig stehen, die meisten wenden sich eingeschüchtert ab, der Schullehrer tritt hinzu, seinen Wenzi führend, erschrickt und ruft:

„Franz! Jesus Maria, was ist ihm?“

Leopold hat die Hand auf das Herz seines Brudes gelegt – es schlägt – nach kurzem Stillstand schlägt es wieder, hastig, unregelmäßig … aber es schlägt doch wieder. „Was habt ihr ihm gethan?“ fragt Leopold, der immer Ruhigere, seine Angst verbeißend.

„Wir haben ihm nichts gethan!“ antwortet einer und der rote Vichoda setzt boshaft hinzu:

„Er hat sich nur geärgert.“

„Ja, ja, nur geärgert,“ klingt’s im Chor.

Und jetzt, ganz energisch setzt Franz sich auf, wischt mit der Rechten übers Gesicht, sie blutet. „Nichts haben sie mir gethan,“ sagt er laut.

„Franz! Herr Franz!“ wimmert eine Kinderstimme. Wenzi macht sich vom Vater los und läuft auf Franz zu und küßt ihm die blutende Hand, und stellt sich hin und heult und plärrt wie nur ein slavisches Kind heulen und plärren kann. Bäche fließen aus seinen Augen in seinen Mund, über sein Gesicht, das auf einmal voll Falten ist und ordentlich alt aussieht. „Lieber Herr Franz, ich hab’ Ihnen nichts gethan, ich hab’ Sie nur gebissen, ein wenig, ein wenig gebissen!“

Am nächsten Tag ging im Dorfe viel junges Volk hinkend und mit verbundenen Köpfen umher, und Heideschmied staunte über die blauen Flecke, mit denen seine Zöglinge bedeckt waren. Da ihnen aber nichts fehlte und sie seine Fragen über den Ursprung dieser vorübergehenden Tättowierung ausweichend beantworteten, versuchte er nicht, sich in ihr Vertrauen zu drängen.

Diese Schlacht war die letzte, die zwischen der kriegerischen Dorf- und Schloßjugend geschlagen wurde. Wie immer ihre Beziehungen zu einander sich auch gestalteten, zu Thätlichkeiten kam es nicht mehr.


[327] Elika war unzufrieden mit ihrem Bruder Joseph. Er kümmerte sich viel weniger um sie als früher, ihr Einfluß auf ihn verminderte sich. Wenn sie sonst geklagt hatte: „Joseph, ich bin müd’“, „Joseph, ich hab’ Kopfschmerzen“, hatte er sie immer unendlich bedauert. Hieß es aber gar: „Joseph, ich hab’ Herzweh“, dann kam er um alle Seelenruhe. Hatte doch der Arzt in Wien den Ausspruch gethan, Elika könne infolge ihrer Blutarmut herzleidend werden. Franz erfuhr es und erzählte es ihr, und seitdem bekam sie „Herzweh“, wenn ihr etwas Unangenehmes begegnete. Es war keine Lüge – sie sagte überhaupt keine Lüge. Das leidige Schmerzgefühl stellte sich wirklich bei der geringsten Veranlassung ein, und sie versäumte nie, ihre Umgebung nachdrücklich darauf aufmerksam zu machen.

Und dann war Joseph unendlich besorgt und liebreich, und was sie nur wünschte, hätte er ihr bringen und verschaffen mögen.

Und jetzt machte sie oft ganz vergeblich ihre traurigsten Kopfschmerz- und Herzwehaugen, er bemerkte es nicht. Es fiel ihm auch seltener ein als früher, ihr etwas zu schenken, und sie kam sich dadurch sehr zurückgesetzt vor. Joseph sollte nichts besitzen, das er ihr nicht gern dargebracht hätte.

Als Beweis seiner Liebe verlangte sie’s, nicht aus Habgier; sie nahm, um zu geben. Wenn sie auch nicht den „Schenkteufel“ (Apollonias Wort) in sich hatte, wie ihre Brüder, gab sie doch auch gern, nur anders. Ihre Brüder besaßen die göttlich leichtsinnige Großmut, die schenkt, aus Freude am Schenken, sie gab mit Bedacht und bedauerte sich dabei, weil sie nun die oder jene Lieblingssache nicht mehr hatte. Sie brachte Opfer und erwartete Bewunderung und Joseph hatte ihr die seine bisher immer gezollt. In letzter Zeit freilich auch nicht mehr so warm wie sonst.

Elika kam sich beschädigt, beraubt, aus seinem Herzen verdrängt vor, und ein verläßlicher Spürsinn sagte ihr durch wen.

Wo brachte er jeden freien Augenblick zu? Von wem sprach er fortwährend, wenn er heim kam? Und was Elika nicht begreifen konnte und was sie verdroß und ihr lächerlich erschien: der ganze Mensch veränderte sich, wenn Tante Luise unerwartet ins Zimmer trat. Da bekam er ein andres Gesicht, wurde verlegen bis zur Bestürzung, und seine Stimme klang gequetscht und fremd.

Was sollte das heißen? Was hatte das zu bedeuten? Sie wußte es nicht, aber es beleidigte und empörte sie, und sie ließ ihn bei solchen Gelegenheiten nicht aus den Augen. Unbarmherzig verfolgte ihn ihr spöttischer Blick, und er geriet oft in Versuchung, die Faust zu erheben gegen die boshafte kleine Kröte und sie niederzuschmettern. Aber dann, sobald sie bemerkte, daß er begann, die Herrschaft über sich zu verlieren, daß Gefahr drohe, neigte sie ihr Köpfchen zur Seite und sah hilflos drein, und der starke Joseph war entwaffnet.

Daß sie von ihrer Bedeutung für ihn verloren hatte, ihm weniger wichtig geworden war, davon gab er sich keine Rechenschaft. Und würde man ihn aufs Gewissen gefragt haben, er hätte antworten dürfen: sie ist mir so lieb wie je. Aber sich viel mit ihr zu beschäftigen, war ihm nicht mehr möglich. Seine Seele war zu voll von Qual und Bitternis. Der Umgang mit seinen Geschwistern hatte allen Reiz für ihn verloren, ihre Freuden und Leiden, ihre Spiele und ihre Studien erschienen ihm kindisch.

Die anderen aber, die Erwachsenen, die waren blind; sogar sie, die das Ziel seiner Wünsche und der Inhalt seiner Gedanken war, die leidenschaftlich Angebetete, behandelte ihn wie einen unreifen Knaben, zu dem sie freundlich bemutternd sprach: „Sei fleißig, Joseph! Lerne, ich bitte dich, lerne! Ich habe dich so lieb, ich möchte gar zu gern auch stolz auf dich sein.“

Sie ahnte nichts von der Grausamkeit dieser Bitte. Er hätte alles für sie thun können, rauben, morden – aber lernen konnte er nicht.

Ihre Nähe fing an, eine Qual für ihn zu werden, nach der er dürstete, ihre liebreiche Art war ihm ein Balsam, schlimmer als Gift.

Manchmal brachte er es über sich, einen ganzen Tag vergehen zu lassen, ohne Vrobek zu betreten, wo er sich notwendig und erwartet wußte. Dann kam Luise am Abend zu den Tanten und fragte:

„Was ist mit meinem Getreuen? Warum hat er mich heute verlassen?“

Joseph wurde gerufen und ließ sagen, er habe keine Zeit, er müsse studieren, oder er war schon im Augenblick, in dem Luise im Schloß erschien, auf und davon gerannt über Stock und Stein wie wahnsinnig. Sehr oft trieb es ihn wieder nach Hause zurück, er wartete im Garten auf sie und ging ein Stück Weges mit ihr, und dann noch ein Stückchen und immer noch ein Stückchen weiter. Entließ sie ihn am Ende des Waldes von Valahora mit einem herzlichen: „Jetzt aber gute Nacht, du Kind!“ wie oft that er da nur dergleichen, sich heimwärts zu wenden, umraste einen Hügel, der ihn vor ihr verbarg, und stand an der Thür des Hauses, wenn sie dort ankam, und sagte ihr ein zweites Mal Lebewohl.

Und nun mußte er erst recht hören: „Du Kind!“

Gegen Ende des Ferienmonats sagte Herr Heideschmied: „Lieber Joseph, wir müssen nun wieder anfangen, ernstlich zu studieren. Es ist allerhöchste Zeit, dieses Mal müssen Sie durchkommen in der dritten Klasse.“

Er blieb starr, als ihm Joseph mit eiserner Ruhe, mit der Festigkeit eines unwiderruflich gefaßten Entschlusses erwiderte: „Ich lasse mich nicht mehr prüfen, Herr Heideschmied. Es ist aus.“

„Joseph, Joseph,“ stammelte Heideschmied traurig und leise. „Sie müssen studieren, mein armer Joseph. Sie müssen die Matura ablegen. Sie werden doch nicht drei Jahre als gemeiner Soldat dienen wollen?“

Der Jüngling hatte ein verächtliches Achselzucken: „Und was weiter? … Zum Militär – lieber heut’ als morgen … Kommisbrot würg’ ich hinunter, Ihre Ambrosia der Buchweisheit hol’ der Teufel!“

Heideschmied sah ihn betrübt an und sagte: „Sie sind heute sehr aufgeregt.“

Da sprang Joseph empor und warf sich ihm in die Arme mit einer Wucht, die ihn wanken machte. Das Herz des Jünglings pochte wie mit Hammerschlägen an der Brust des alten Mannes, er schluchzte. „Ich schäm’ mich,“ brach es aus seiner gewürgten Kehle hervor: „Ich ertrag’s nicht mehr. Ich dank’ Ihnen, Herr Heideschmied, für alle Mühe, die Sie sich mit mir gegeben haben. Ich bitte Sie auch um Verzeihung, ich war im Anfang schlecht gegen Sie, ja, ja, schlecht und gemein, verzeihen Sie mir, Herr Heideschmied!“

Er stürzte aus dem Zimmer und ließ sich vor Abend nicht wieder blicken.

Luise war am Nachmittag nach Velice gekommen, kurz bevor ein schweres Gewitter, das seit Stunden drohte, niederging. Nach dem Souper wurde eingespannt, und sie fuhr in noch strömendem Regen heim. Das Gartenthor war hinter dem Wagen geschlossen worden, der Kutscher bog eben im scharfen Trabe auf die Straße ein, als ihm ein herrisches „Halt!“ zugerufen wurde. Joseph stand da unter einem Baume. Beim Schein der Laterne sah Luise, daß er totenblaß war und daß seine Augen düster flackerten. Plötzlich sprang er auf das Trittbrett und steckte den Kopf unter das Wagendach.

„Joseph, mein lieber Junge,“ sagte Luise und legte ihre Hand auf seine zerzausten Haare. Er nahm diese Hand, küßte und küßte sie. Durch den Handschuh fühlte Luise das Glühen seiner Lippen:

„Leb’ wohl – sehr wohl … Hörst du?“ keuchte er, stand im nächsten Augenblick auf dem Boden und befahl dem Kutscher: „Vorwärts!“

Im Hause auf dem Gang traf er Elika auf dem Wege nach ihrem Zimmer, lief ihr nach und flüsterte ihr zu: „Wenn Poli eingeschlafen sein wird, dann steh’ auf und öffne die Thür von deinem Lernzimmer. Ich muß dir etwas sagen, dir allein. Gieb acht, daß Poli nicht erwacht.“


[330] Apollonia brachte die Kleine zu Bett, löschte die Lichter und stellte den Schirm vor die Nachtlampe. Die Studierstube nebenan war nur durch einen Vorhang von Elikas Schlafzimmer getrennt. Sie führte auf den breiten gewölbten Bogengang durch eine Doppelthür, die abends von innen verschlossen wurde. Kaum war das geschehen, kaum hatte Apollonia ihr Gemach betreten und dessen Thür hinter sich zugezogen, als Elika sich aufsetzte und lauschte. Jetzt legte die Wärterin ihre Kleider ab, jetzt wusch sie sich und jetzt murmelte sie ihr Abendgebet, und Elika wußte jede Bewegung auswendig, die sie dabei zu machen pflegte, lächelte und dachte: Ich seh’ mit meinen Ohren. Und jetzt endlich richtete Apollonia sich von ihren Knien auf und ging zur Ruhe. Der Lichtstreif, der unter dem Thürspalt sichtbar gewesen war, erlosch. Einige Augenblicke noch und sie wird ein ganz klein wenig schnarchen, ganz lieblich, und Elika wird sich zur Gangthür schleichen und sie öffnen und dann wird Joseph kommen und ihr ein großes Geheimnis sagen. Etwas von der Prüfung gewiß und daß er nicht mehr lernen will. Und was wird dann geschehen? Was wird er thun? Was hat er vor? … O nur das eine nicht! das könnte sie nicht ertragen, nicht überleben … Joseph! Sie erschrickt, sie hat den Namen fast laut ausgerufen. Hält den Atem an, horcht. Gottlob, Poli schnarcht weiter. Elika darf’s wagen. Sie steht auf, geht zur Thür, dreht den Schlüssel im Schloß und kriecht dann wieder in ihr Bett zurück.

Gleich darauf stand Joseph vor ihr. Unhörbar, in Socken war er gekommen, hatte seinen alten Lodenanzug angethan, trug seinen alten Lodenhut, einen Knotenstock und seine Schnürstiefeletten in der Hand, einen Rucksack auf dem Rücken. Das alles legte er sachte auf den Boden und sagte mit tief gedämpfter Stimme: „Sei ganz still, rühr’ dich nicht, daß Poli nicht erwacht. Ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu sagen. Ich gehe fort.“

So hatte sie richtig geahnt. Das Schlimmste, das ihr geschehen konnte, geschah. „Von mir fort? Mich verlassen? Was wird unsere Mutter im Himmel sagen, wenn du mich verläßt?“ fragte sie. Schmerzlich, vorwurfsvoll bohrte ihr Blick sich in den seinen.

Joseph nickte: „Von dir und von allen. Aber von dir nehm’ ich Abschied, weil ich Vertrauen zu dir hab’ und weil ich etwas von dir will. Dein Geld. Du bist reich. Wir haben nichts, die Brüder und ich. Gieb mir dein Geld.“

„Damit du von mir fortreisen kannst? Nein, ich geb’ dir nichts.“

„Gut, dann geh’ ich ohne Geld. Adieu. Ich bring’ mich auch so durch.“ Er stand auf, aber da umklammerte sie seinen Arm und flüsterte ihm zu:

„Nimm alles, ich geb’ dir alles, aber nimm mich mit.“

„Närrin,“ sprach er, „du bist ja eine Närrin. Ich gehe nach Hamburg auf ein Schiff. Ich gehe als Schiffsjunge nach Australien.“ Ich gehe zu meinem Freunde Bornholm, hatte er hinzusetzen wollen, unterdrückte es aber. Wozu brauchte sie das zu wissen? Auch sie hielt ja Levin für einen Missethäter.

Sie sah ihn groß und bewundernd an. Nicht der leiseste Zweifel stieg in ihr auf. Hätte sie gesagt: „Ich geh’ nach Australien,“ niemand, außer Poli, wäre erschrocken, und die wohl nur aus Gefälligkeit. Aber Joseph! Wenn er sagte: „Ich thu’s“, dann geschah’s. Nach Hamburg wollte er und auf ein Schiff – und nach Australien als Schiffsjunge. Ihr schwindelte und graute. Sie hatte eben die Geschichte eines armen, mißhandelten Schiffsjungen gelesen.

Joseph stand noch an ihrem Bette, sie hielt seinen Arm noch umklammert und preßte ihr Gesicht an seine Brust: „Du weißt nicht,“ sagte sie, „was ein Schiffsjunge ausstehen muß.“

„Weißt du, was ich hier ausstehn muß?“

„Alles wegen der dummen Prüfung.“

„Ja, die Prüfung! – und das andre, das ich nicht sagen kann – nicht dir und keinem – kaum mir selbst … Verstehst du? … Nein, nein, du kannst es nicht verstehn, du bist zu klein …“ Wie er litt! wie er rang, wie es in ihm kochte, während er ihr diese Worte zuraunte.

„Sag’, sag’! ich versteh’ alles,“ flüsterte sie. „Du schämst dich vor Tante Luise … Was hast du dich vor der zu schämen?“ Sie verzog verächtlich den Mund, im Ton ihrer Stimme lag der volle Haß der Eifersucht: „Vor der!“

Da stieß Joseph sie von sich, daß sie zurückfiel in die Kissen. „Adieu,“ murmelte er dumpf, wollte fortstürzen, besann sich aber und sagte schon halb abgewendet: „Wenn sie mich morgen suchen, weißt du nichts, sagst du nichts, kein Wort. Die Hand drauf.“ Er streckte ihr die Rechte entgegen. Sie faßte sie mit ihren beiden Händen.

„Ich sag’ kein Wort. Bleib’, bleib’ noch! nimm das Geld.“

„Willst du es mir denn geben?“

„Alles, alles geb’ ich dir!“

Er holte die kleine silberne Sparbüchse aus dem Glasschrank und mußte sie mit dem Messer aufsprengen, denn der Schlüssel befand sich in Polis Verwahrung.

Elika war wirklich sehr reich. Sie hatte zehnmal soviel Gulden als sie Jahre zählte. Joseph wollte nicht alles nehmen, er brauchte es nicht, ein zukünftiger Schiffsjunge fährt dritter Klasse. Aber seine Schwester zwang ihm das Ganze auf. Früher war sie reich gewesen, jetzt sollte er es sein.

Dann fingen sie an Abschied zu nehmen. Joseph empfahl ihr seinen alten Teckel und seinen Kanarienvogel und sagte: „’s ist Zeit, ich geh’.“ Er mußte die ganze Nacht durch marschieren, um am Morgen die große Kreuzungsstation zu erreichen. Auf einer kleinen Station in der Nähe durfte er sein Fahrbillet nicht lösen, da kannte man ihn, hätte Rechenschaft geben können von der Richtung, die er eingeschlagen hatte:

„’s ist Zeit,“ wiederholte er und wollte fort, aber Elika hielt ihn zurück mit ihren Fragen.

„Wenn du in Hamburg bist, was thust du dann?“

Ja, dann mußte er sich eben erkundigen, was zu thun sei, um als Schiffsjunge aufgenommen zu werden. Alles, was er wußte, war, daß man dazu in Hamburg keine Legitimation braucht, und daß von dort in nächster Zeit einige große Kauffahrer nach Australien segeln, wußte er auch. Vom Schiff aus versprach er, ein Telegramm ans Land zu schicken.

„An mich?“

„Nein, sonst merken sie, daß du etwas weißt. An Papa. Wenn das Telegramm ankommt, bin ich schon auf hoher See. Leb’ wohl, arme Kleine!“ Er wollte sich wieder in Socken davonschleichen, aber Elika versicherte ihn: „Wenn Poli so schnarcht wie jetzt, kannst du in Nagelschuhen tanzen, sie hört dich nicht.“

Joseph mußte sich wieder auf den Sessel setzen, sie stieg aus dem Bette, kniete vor ihm nieder und schnürte ihm die Stiefel zu, sorgfältig und rasch mit ihren dünnen geschickten Fingerchen. Und er ließ sich’s gefallen und tippte einigemal zärtlich auf ihren blonden Scheitel.

Sie war fertig, stand auf, betrachtete ihn voll Stolz und sprach: „Du bist mein großer Bruder.“

Auch er erhob sich, nahm seinen Rucksack und seinen Hut vom Boden auf und murmelte etwas, das wie ein abermaliges Lebewohl klang.

Die Thränen wollten Elika ersticken, doch sie weinte nicht. Wer einen so großen Bruder hat, weint nicht. Er hat einen Kummer, der ihn hinaustreibt in die Welt, auf die hohe See, in die Stürme, in Not und Tod, und weint nicht. Auch sie wollte nicht weinen. Dann aber durfte sie ihm nicht mehr die Hand geben, ihn nicht einmal mehr ansehen … Sie wich vor ihm zurück.

Am Himmel war ein fortwährendes Wetterleuchten und das Nebenzimmer, in das die Kinder traten, von fahlem, zuckendem Licht erhellt.

„Sperr’ ab hinter mir, vergiß nicht,“ sagte Joseph. Seine Sümme klang ungefähr so, wie wenn er mit Tante Luise sprach, und bevor Elika antworten konnte: „Ich werd’ doch nicht vergessen,“ war er fort.

Sie drehte mechanisch den Schlüssel im Schloß und stand da, barfüßig, in ihrem Hemdchen: „Ich werd’ – doch – nicht – ver – ges – sen –“ hauchte sie leise, unbewußt, mit zuckenden Lippen und starrte die Thür an, durch die Joseph verschwunden war. Und plötzlich überkam es sie mit Todesschrecken: Er ist fort, mit Todesschmerz. Und ich hab’ ihm nicht Lebewohl gesagt, ich hab’ ihm nichts gesagt, nicht einmal: Du hast mich immer [331] beschützt, ich dank’ dir, nicht einmal gefragt: Wann kommst du wieder?

Und jetzt ist er fort!

Aber nein, das ist Unsinn, ist unmöglich, so geht ein Bruder nicht fort von seiner Schwester. Er hat nur geglaubt, daß er fort kann von ihr, und wird schon sehen, daß er’s nicht kann, und wird zurückkommen und sie wird ihn auslachen. Sie stand und wartete und wartete und lehnte die Stirn an die Thür und schloß die Augen und wurde sehr schläfrig. Auf einmal fuhr es ihr durch den Kopf, daß sich Joseph einen Spaß mit ihr gemacht hatte. Nun dann – warte! Sie war sogleich umgestimmt, ging ins Schlafzimmer zurück zu ihrem Schranke, versteckte die aufgesprengte Sparbüchse in eine seiner Ecken, schlüpfte in ihr Bett und sann Rachepläne aus, über denen sie einschlief. Ihr Schlaf war aber unruhig und sie hatte einen schweren Traum. Sie sah ein Schiff auf hoher wilder See mit dem Sturme ringen. Turmhohe Wogen fegten alle Menschen vom Verdecke weg, ein einziger hing noch am Maste, sie kannte ihn, es war Joseph. Und nun fuhr ein Blitz vom Himmel und schlug in den Mast, und krachend stürzte er nieder.

Elika fuhr auf aus dem Schlafe in Angstschweiß gebadet, mit ungestüm pochendem Herzen. Am Horizont erglomm und erlosch ein fahles Leuchten, der Donner grollte, der Sturm pfiff und rüttelte an den Fenstern und Thüren des alten Hauses. Und plötzlich schoß ein wilder, toller Regenguß nieder, nahm den Kampf auf mit dem Sturme und besiegte ihn und prasselte fadengerade nieder auf die Bäume, auf das Dach und verwandelte die Traufen in brausende Wasserstürze. Das war lustig anzuhören vom Bette aus; aber die Armen, die draußen sind auf freiem Felde, die Armen, die auf offener Straße wandern – o die Armen!

„Joseph!“ rief die Kleine unwillkürlich aus, und nun war ihre Wärterin erwacht, trat an die Thür und horchte. Elika rührte sich nicht. Poli soll glauben, daß sie aus dem Traume gerufen hat, Poli soll wieder zur Ruhe gehen und schlafen, so tief wie früher. Das braucht die Kleine zur Ausführung des Entschlusses, den sie gefaßt hat, der ihr Gewißheit verschaffen soll. Sie hält den Zweifel nicht aus, der von neuem in ihr lebendig geworden ist.

Und nun wieder warten, eine endlose, fürchterliche Viertelstunde! Alles still nebenan. Sie wagt es – erhebt sich leise, unhörbar, schlüpft in die Badeschuhe, zieht ihr Röckchen an und schleicht hinaus auf den Gang.

Der Regen prallt vom steinernen Geländer ab, spritzt ihr ins Gesicht, in die Augen, der Boden ist überschwemmt. Sie ist naß bis auf die Haut, ehe sie zu dem geschlossenen Gange kommt, auf den die Thür des Betsaals mündet, und die des Zimmers, das Joseph bewohnt, und weiter dann der Eingang zur Treppe des Sibyllenturms. Tiefste Dunkelheit herrschte, Elika tappte sich an der Wand weiter. Da fiel plötzlich ein Lichtschein auf den Boden vor ihr; die Thür des Betsaals hatte sich geöffnet und heraus trat Tante Renate, eine Laterne in der Hand. Elika kauerte nieder und hielt den Atem an. Die Tante schritt weiter, ohne sich umzusehen, aufrecht in ihrer stillen, feierlichen Art. Vor dem Zimmer Josephs hielt sie an. Ihre Lippen bewegten sich nicht und doch sah man, daß sie betete. Mit einer schönen, großen Gebärde voll inbrünstiger Andacht machte sie das Zeichen des Kreuzes über die Thür, setzte ihren Weg fort und verschwand am Ende des Ganges.

Nun regte sich nichts mehr. Hastig, in fiebernder Eile, schritt Elika dem Zimmer Josephs zu. Sie wußte, daß sie es unverschlossen finden werde. Sich einsperren ist feig, sagte er.

Sie war bei ihm. Er hatte wieder geraucht, der Ungehorsame. „Joseph!“ rief sie in die Dunkelheit hinein und brauchte nicht zu fürchten, gehört zu werden. Es war niemand in der Nähe, Joseph wohnte schon seit einem Jahre allein und unbeaufsichtigt. „Schläfst du, Murmeltier, oder thust dergleichen? Hör’ einmal auf mit deinen Dummheiten, mein Guter.“

Keine Antwort, aber ein dumpfes Knurren ließ sich hören. Der alte, blinde, halbtaube Teckel war aufgestanden vom Polster neben dem Schreibtisch, stieß jämmerlich an ein paar Stühle an und trottete herbei auf seinen kurzen Pfoten. Er beschnüffelte die Füße Elikas, winselte, richtete sich an ihr auf und leckte wie bittend, wie heischend ihre Hände.

„Dackerl, wo ist dein Herr?“ fragte sie entsetzt. In Josephs Gegenwart hatte der Hund keine Liebkosung für einen andern.

Die Kleine trat an den Tisch, suchte unter Mineralien, ausgegrabenen Pflanzen, Samenproben, die dort in wüster Unordnung lagen, nach dem Feuerzeug, fand es und machte Licht.

Das Bett war unberührt. Er ist fort. Er hat gethan, wie er gesagt hat und was nicht geschehen darf – was sie verhüten wird. Auf, auf, das Haus! Einspannen, satteln, ihm nach! Sie weiß den Weg, den er genommen hat. Man holt ihn ein.

„Hilf, Heiland, hilf!“ ruft Elika zu dem Christusbilde über dem Bett empor. Es sieht ernst zu ihr nieder, vorwurfsvoll. Die Augen Josephs – alle finden es – haben Aehnlichkeit mit den Augen des Menschensohns. Und diese Augen sprechen: einer von euch wird mich verraten.

Aufschluchzend im schwersten Kampf, in einem nie gekannten Schmerze, sank die Kleine vor dem Bette nieder und küßte die Kissen, auf denen sein liebes Haupt geruht hatte. „Ich nicht,“ sprach sie, „deine Schwester nicht.“


„Gott im Himmel, wie sieht das Kind heute wieder aus!“ jammerte Apollonia am nächsten Morgen. „Schneeweißes Gesicht und rote Augen. Hat gewiß nicht geschlafen, hat gewiß Kopfschmerzen!“

Elika warf einen Blick in den Spiegel und erschrak. Sie konnte unwillkürlich zur Verräterin an Joseph werden. Es stand auf ihrer Stirn geschrieben: Ich habe etwas Schreckliches erlebt, ich habe einen großen Schmerz. Bald wird Joseph vermißt werden, man wird ihn suchen und nicht finden und dann gewiß fragen: Warum war Elika so verweint? und gewiß erraten: Sie hat um seine Flucht gewußt. Was sie dann thun und sagen werde, ahnte sie nicht, ihr war nur, als stände sie vor einer furchtbaren Gefahr, und sie betete zu Gott um Errettung aus ihrer Seelenpein, aus der entsetzlichen Klemme zwischen Verrat und Lüge.

Im Hause herrschte Bestürzung, als alle Nachforschungen nach Joseph fruchtlos blieben und Luise und Heideschmied sich seines seltsam aufgeregten Benehmens erinnerten, das sich sehr wohl als ein Abschied von ihnen erklären ließ. Kosel und die Tanten glaubten nun bemerkt zu haben, daß er ihnen am letzten Abend vor dem Schlafengehen mit besonderer Innigkeit die Hand geküßt hatte, und voll Rührung erzählten seine Brüder, wie gut er noch gewesen und zu ihnen gekommen war, als sie schon im Bette lagen, und ihnen „so lieb“ gesagt hatte: „Gott befohlen, Murmeltiere!“ Und Frau Heideschmied, die ihn die Marseillaise gelehrt, sprach von dem hinreißenden Ausdruck, mit dem er am Tage vor seiner Flucht den Vers: Le jour de gloire est arrive! gesungen hatte. Ueberhaupt war in letzter Zeit jedem Hausgenossen etwas Ungewöhnliches im Wesen Josephs aufgefallen. Jeder wollte von ihm außerordentlich berücksichtigt worden sein, jeder wußte täglich Neues von ihm zu sagen. Nur Elika wußte und sagte nichts. Sie war zu merkwürdig! sie verheimlichte ihr Leid, sie sprach den Namen Josephs nicht aus.

„Und doch,“ jammerte Apollonia, „frißt ihr die Sorge um ihn das Herz ab. Tag und Nacht sehnt sie sich nach ihm, hat keinen andern Gedanken. Ich seh’s ja, ich kenn’ sie ja. Sie ist wie der Papa, der weint auch nicht und spricht auch nicht und vergißt auch nicht.“

Große Beruhigung brachte allen Bewohnern von Schloß Velice ein Telegramm aus Hamburg: „Bin gesund, morgen auf See, Brief folgt, Grüße. Joseph Kosel, Schiffsjunge.“

Auf See! Schiffsjunge! die Brüder erfaßte ein Taumel. Joseph ist auf See, auf hoher See, ist ein Schiffsjunge auf einem großen ungeheuren Schiff. O, der sucht sich kein kleines aus!

Franz rannte in die Werkstätte zu Hanusch, der sein Freund geworden war seit der letzten Schlacht, und brachte ihm triumphierend die berauschende Kunde und fragte: „Möchtest du nicht auch ein Schiffsjunge sein? Möchtest du nicht auch auf hohe See?“

Hanusch blieb kühl. Von einer See, die in die Höhe steigt, konnt’ er sich keinen rechten Begriff machen, und zweifelte eigentlich an ihr.

Charlotte lief dem Herrn Pfarrer entgegen, als er sich zur [332] Abendunterhaltung einstellte: „Herr Pfarrer! Herr Pfarrer! Telegramm von Joseph! Schiffsjunge ist er, in Hamburg hat er sich anwerben lassen!“

„Gott behüt’ ihn,“ erwiderte der hochwürdige Herr. „Soll keine besonders erbauliche Gesellschaft sein, die der Schiffsjungen. Aber er hat gute Grundsätze. Wir wollen auf seine guten Grundsätze hoffen.“

Vater Kosel konnte sich eines Gefühls des Stolzes auf seinen kühnen und unternehmungsfreudigen Sohn nicht erwehren. Auch hatte er vor kurzem in einer Zeitung einen Aufsatz über Vererbungstheorie gelesen, der ihm viel Stoff zum Nachdenken gab und Joseph völlig entschuldigte. Die Familiengeschichte wies viele Kosel nach, die tapfere Soldaten gewesen waren, und einen, der ein großer Reisender war. Wer solches Blut in den Adern hat, ist schwer an häusliches Leben zu gewöhnen. Man kann ihn nicht am Lehrtisch festhalten und über Büchern seinen Thatendrang vergessen machen.

Herr von Kosel sagte das in Gegenwart von Leopold und Franz. Heideschmied hätte hinspringen und beiden zugleich die Ohren zuhalten mögen.

Renate schüttelte den Kopf zu solchen Gesprächen. „Lieber Felix,“ erwiderte sie, als er das Blut der Ahnen zum etwa dreißigstenmal von neuem anzapfte, „ich glaube nicht, daß unsre Religion – die übrigens lauter Duldung und Vergebung lehrt – uns gestattet, Verstorbene für das Unrecht Lebendiger verantwortlich zu machen.“

Oh non, Monsieur!“ versetzte Frau Heideschmied in zierlicher Bescheidenheit. Ihr Mann warf ihr einen zustimmenden Blick zu und sprach: „Nicht nur Thatendrang und Löwenmut haben unseren Joseph zur Flucht getrieben. Auch Furcht …“

„Furcht? Kann ich nicht zugeben.“

„– Vor der Prüfung, gnädiger Herr. Ich glaube, es wäre nützlich, seinen Brüdern die Sache auch von diesem Standpunkt aus zu beleuchten. Seit seiner Entweichung brennen ihnen die Köpfe, sie sind überhaupt nur noch für Geographie zu interessieren und auch da nur für überseeische. Sie stellen oft Fragen – mir wird angst und bang …“

Er liebte seine Zöglinge von ganzem Herzen, aber er liebte auch seine Stellung sehr, und die wäre unhaltbar geworden vom Augenblick, in welchem die beiden jüngeren Kosel gleichfalls das Weite gesucht hätten. Ein Erzieher ohne Erziehungsmaterial wäre ein Demosthenes, der nicht zu Worte kommt.

So hielt er denn seine Studenten in guter Hut und empfahl den Hausleuten und besonders dem Kaspar die äußerste und zugleich diskreteste Wachsamkeit. Die jungen Herren sollten zwar nicht aus den Augen gelassen werden, sich aber nicht gehemmt, beeinträchtigt fühlen in ihrer persönlichen Freiheit. Die Aufgabe war schwierig und mißlang. Leopold und Franz gerieten in Aufruhr, Heideschmied geriet in Mutlosigkeit und war nahe daran, allen seinen Ueberzeugungen zum Trotze die Dazwischenkunft der Familienautoritäten anzurufen. Da kam Hilfe – die Hilflose bot sie.

Eines Morgens klopfte ein kleiner Finger an seiner Thür, Elika verlangte Einlaß. Sie erschien als Parlamentär und überbrachte das Versprechen ihrer Brüder, daß sie jeden Gedanken an Flucht verbannen wollten, wenn ihnen ihre frühere Ungebundenheit wiedergegeben würde.

„Keine Aufsicht, lieber Herr Heideschmied,“ sagte Elika, „das mögen sie nicht, sie sind das nicht gewöhnt. Sie lassen Sie bitten um Vertrauen, sie werden ihm Ehre machen, sagt Leopold und Franz sagt: Das Mißtrauen ärgert uns.“

Sie stand vor ihm und sah zu ihm hinauf mit feuchten, leuchtenden Augen. Ihr ganzes kleines Wesen strömte Rührung und Ergriffenheit aus, und Heideschmied hatte einen schweren Kampf mit sich zu bestehen, um sie nicht in seine Arme zu nehmen, ans Herz zu schließen und auszurufen: Was du willst, Seelchen. Wie du willst, befiehl über deinen gehorsamsten Knecht! Aber er beherrschte sich, er behauptete seine Würde, belobte den guten Willen, den sie zeigte, sich zur Friedensbotin zu machen, und versprach, die Sache mit dem Vertrauen in Erwägung zu ziehen.

Er that es und faßte wunderbar schnell einen Entschluß, der den Wünschen der beiden Jünglinge völlig entsprach. Die „Polizeispitzelei“, wie sie sich ausdrückten, hörte von einem Augenblick zum andern auf. Das hatte die arme Kleine ganz allein durchgesetzt. War es nicht wunderschön, und konnte man ihr dankbar genug sein? Sie selbst mußte zugeben, daß es nicht leicht möglich sei.

„Seid also dankbar, wenn ihr schon wollt,“ sagte sie, schwer mit den Thränen kämpfend, „und bleibt immer und immer bei mir! Bis ich tot bin, müßt ihr bei mir bleiben; wenn ihr fort gingt und ich wäre eine Schwester ohne Brüder, stürb’ ich gleich.“

Und sie baten Elika, das Sterben nur noch aufzuschieben so lang’ als möglich, und wenn noch so lang’, wollten sie doch bei ihr bleiben.

[357] Der von Joseph verheißene Brief traf endlich ein. Er war aus Sidney und seine Ankunft verursachte einen förmlichen Aufruhr in Velice. Sie hatte schon Sensation gemacht auf dem Postamt im nahen Marktflecken, wo Kaspar, der nach ländlichem Brauche das Amt des Nachtwächters und des Boten bekleidete, ihn in Empfang nahm.

„Aus Australien, am Ende gar vom jungen Herrn Joseph,“ sagte die Frau Expeditorin. „O, wenn ich um die Marken bitten dürft’ für meine Tochter!“

„Aus Australien!“ Viele Leute hörten es und Kaspar fühlte plötzlich Flügel an den mit schweren Halinas belasteten Beinen (es war Winter) und lief und behielt eben noch Atem genug, um [358] jedem, dem er begegnete, zuzurufen: „Brief aus Australien, Brief vom jungen Herrn Joseph!“

Er zog mit einem Geleite Neugieriger zum Schlosse, Hanusch und der Wenzi vom Schullehrer folgten ihm sogar hinein. In der Halle trafen sie Elika und ihre Brüder Ball spielend und riefen alle zugleich: „Brief aus Australien! Brief vom Herrn Joseph!“

Leopold und Elika schrieen auf. Franz brachte nur einen heisern Laut hervor und wurde kreidebleich, wie damals bei der großen Rauferei. Doch schob er die Schwester ungeduldig fort, die voll Besorgnis fragte, was ihm sei. – Nichts war ihm, den Brief Josephs sehen wollte er, wissen, was drin stand. Wie ein Löwe stürzte er auf Kaspar los, entriß ihm die Posttasche und stürmte keuchend die Treppe hinauf zu seinem Vater.

„Da! da!“ brachte er wie ein halb Erstickter hervor und legte die Tasche vor Herrn von Kosel hin, der sich eben mit Ordnen von Zeitungen beschäftigte.

Nun kam auch Elika. Sie hatte Herrn Heideschmied, und Herr Heideschmied hatte seine Frau und diese hatte Apollonia gerufen. Leopold war in den Sibyllenturm gelaufen, um die Tanten herbeizuholen. Das Zimmer Kosels füllte sich und in dem Kopetzkys liefen die Hausleute zusammen, und auf dem Gange standen Kaspar und seine Gefolgschaft.

Hanusch schrie plötzlich: „Wenn er um mich schreibt, steig’ ich zu ihm hinauf auf die See!“ und machte einen Purzelbaum.

Charlotte las den Brief Josephs vor. Er lautete:
 „Lieber Vater! gute Tanten! Brüder! Elika!
 Alle, alle meine Lieben!

Wie geht es Euch? mir geht es gut. Ich habe viel zu thun und lauter Sachen, die ich gern thue. Ich meine immer, daß ich in Velice nicht gewußt habe, wie lieb ich Euch habe, und doch wünsche ich Euch nicht hierher, das Leben hier wäre nichts für Euch, aber für mich ist es das rechte.

Lieber Vater, verzeih mir meine Flucht und befiehl mir nicht, daß ich zurückkomme, schreibe mir, lieber Vater, daß Du es mir nicht befiehlst. Ich könnt’ ja nicht gehorchen.“

„Das Blut,“ sprach Kosel und Renate fiel klagend ein:

„Joseph! Joseph! So etwas sollte er nicht sagen, der geliebte Junge.“

Charlotte las weiter: „Ich kann nicht studieren, lieber Vater, lieber Herr Heideschmied, und wenn einer wie ich bin einmal sagt: Ich kann nicht, dann muß man es ihm glauben. Es ist auch ganz unvernünftig, von allen zu verlangen, daß sie sich hinsetzen und dasselbe lernen sollen. Es können auch nicht alle dasselbe essen. Dem einen schlagt das ...“

„Schlägt,“ berichtigte Herr Heideschmied. Charlotte ließ sich nicht unterbrechen.

„Dem andern jenes an, und nie gilt’s als Schande für den Magen, wenn er eine Speise nicht vertragt …“

„Verträgt,“ flüsterte Herr Heideschmied.

„Aber ein Gehirn haben, das andere Nahrung braucht als der Schulrat ihm vorschreibt, das ist eine Schande, und Schande vertrag’ ich nicht. Leichter noch die Trennung von zu Hause. So bin ich fort. Ich bin viel weiter als Sidney, kann aber noch nicht schreiben, wo ich bin, erst in ein paar Jahren sollt Ihr es erfahren.“

„In Jahren?“ – Renate unterdrückte einen Ausruf des Schmerzes, Thränen traten ihr in die Augen. Elika kam heran, drückte ihr Gesicht an das der Tante und sagte ihr ins Ohr:

„Wir haben ihn gut lieb, wir zwei!“

Am Schlusse seines Briefes bat Joseph alle, ihm den Kummer zu verzeihen, den er ihnen durch seine Flucht gemacht hatte, er bat sie, sich jetzt schon anf seine Rückkehr zu freuen, wenn er auch nicht viel gescheiter heimkommen werde als er gegangen sei, denn mit dem Lesen sähe es schlecht aus. „Gedrucktes kommt mir selten zu Gesicht, höchstens hier und da eine alte Zeitung . . .“

„Eine Zeitung?“ sagte Kosel, „die hätte er wohl schicken können. Es wird gewiß eine sein, die in Sidney erscheint,“ fuhr er nach reiflicher Ueberlegung fort, „und wahrscheinlich in englischer Sprache. Es wäre merkwürdig, wenn er schon englisch lesen könnte. Freilich, in Neusüdwales muß er es lernen, weil er sich sonst den Engländern nicht verständlich machen kann.“

Apollonia staunte: „Nein, daß der gnädige Herr das wußte. Ja, was der nicht wußte! Also englisch ist es dort, wo Joseph ist. Und ob es wohl so Häuser hat wie bei uns, das Sidney?“

„Viel größere, was denkst du denn, Poli,“ belehrte sie Leopold. „Sidney ist der größte Handelsplatz von ganz Australien und hat einen wundervollen Hafen, in den Tausende von Schiffen einlaufen, beinahe eine halbe Million Einwohner, eine Universität …“

„Die Joseph nicht beziehen wird,“ seufzte Heideschmied.

„Und giebt’s dort auch Kirchen?“ fragte Apollonia.

„Natürlich, und sogar einen anglikanischen Bischof.“

„Und einen katholischen Erzbischof,“ sagte Renate.

Ganz zuletzt sandte Joseph auch einen Gruß an Tante Luise. Er hatte noch ein paar Worte hinzugefügt, sie aber unleserlich gemacht.

Von seiner Lebensweise sprach er vorläufig nicht. Im nächsten Briefe sollte es geschehen.

Er wiederholte seine Bitte, ihn nicht zurückzurufen, weil er nicht gehorchen könnte. Nur eines möge Gott verhüten, man möge ihm nicht schreiben müssen: Elika ist krank und sehnt sich nach dir. Wenn es aber so wäre – will ich es wissen … Gott behüt’ uns davor, aber ich will es wissen …“

Elika verstand ihn wohl, es hieß: Wenn sie sich allzu sehr nach mir sehnt, krank wird aus Sehnsucht, dann komme ich zurück, so schwer es mir wird, komme ich …

Sie hatte die Macht, ihn zurückzurufen, es lag in ihrer Hand … Was niemand vermochte, vermochte sie. Wer mehr kann als andere, ist der schwach? … Zum erstenmal in ihrem Leben fragte sie sich: Bin ich denn wirklich eine arme Kleine?

Unter den vielen Briefen an Joseph, die am nächsten Tage unter der von ihm angegebenen Adresse eines Handlungshauses in Sidney auf die Post geschickt wurden, war auch einer von Luise und einer von Elika. Sie schrieb:
 „Lieber guter Joseph!

Den besten Dank sage ich Dir hiermit, Joseph, daß Du glücklich angekommen bist, und gesund bist und zufrieden, ich bin auch gesund und zufrieden. Wir denken immer an Dich und erzählen uns von Dir. Und ich meine immer, Du wirst ein großer Feldherr werden und die Engländer besiegen, und mich zu Dir rufen und wir geben den Negern ihr Land zurück, werden ihre Könige, gewöhnen ihnen das Menschenfressen ab und machen sie zu guten Menschen. Du wirst die kleinen Buben und ich werde die kleinen Mädchen erziehen. Franz aber glaubt, daß Du lieber Viehzucht treiben willst. Wir lesen immer von Australien und ich studiere mit den Brüdern, und Herr Heideschmied sagt: ‚Leopold und Franz unterrichte ich; Elika lernt.‘ O lieber lieber Joseph! bleib’ nur gesund und schreib’ uns oft und sehr viel. Wir werden Dir auch alles schreiben. Leider, lieber Joseph, hustet Deine arme Tacki, und ich muß Dich vorbereiten, daß Du sie kaum mehr am Leben finden wirst, wenn Du erst in einigen Jahren wiederkommst. Ich frage sie nicht mehr: Wo ist dein Herr, Tacki? Sie wird zu traurig davon. Die Kuh von Tante Luise hat ein schönes Kalb bekommen, das schreibt sie Dir aber selbst. Leopold ist mit dem Falben gestürzt. Gleich schreibst Du, wo Du bist, Nichtsnutziger! O, Joseph, ich hab’ Dich lieb, ich bet’ für Dich alle Abend mit Tante Renate in der Kapelle und in der Früh’ in meinem Bett. Ich bete auch immer, daß ich gesund bleibe und mich nicht zu stark nach Dir sehne.

Lieber guter Joseph!

mein ganzes Herz liegt auf diesem Blatt Papier,
ich siegel’s ein und schick’ es Dir.
 Deine Dich liebende Elika.“




Um diese Zeit war’s, daß Apollonia sich als Heldin zeigte. Sie machte Elika den Uebergang aus der Kinderstube ins Gouvernantendepartement so leicht als möglich. Langsam entwöhnte sie ihren Pflegling von all den kleinen Diensten, die sie ihm bisher geleistet hatte.

Sie zog sich unauffällig von ihm zurück und forderte die feinfühlige Frau Heideschmied bei jeder Gelegenheit selbst auf, ihre Stelle einzunehmen.

Die erste Nacht aber, in der Elika nicht mehr unter ihrer [359] Obhut, sondern unter der der Erzieherin schlafen ging und – o Glück! in einem großen Bette – brachte Apollonia am leeren kleinen des Kindes weinend und betend zu.

Uebrigens blieb alles unverändert, es wurde nicht ein Sessel von der gewohnten Stelle gerückt. Herr von Kosel kam wie sonst zur bestimmten Nachmittagsstunde, setzte sich in seine Ecke und blickte in den Gruftgarten hinab. Apollonia nähte oder stickte Garnierungen für die weißen Kleider aus schwerem oder leichtem Stoff, die Elika trug.

Manchmal unterbrach sie sich in ihrer Beschäftigung und machte im stillen Betrachtungen über ihren Herrn. Die Leute lachen über ihn, weil er fast immer nachdenkt und nur selten redet. Wär’s nicht eher zum Lachen, wenn er fast immer reden und nur selten nachdenken thät?

Einmal, als er ihr besonders verträumt vorkam, bemühte sie sich, ihn zu zerstreuen, und begann von ihrer gemeinsam verlebten Kindheit und Jugend zu sprechen, und wie gescheit das gewesen war von der gottseligen Frau Mama, daß sie Apollonia noch zu rechter Zeit aus dem Hause entfernt hatte: „Ich dumme Gans hätte mich am Ende gar in Sie verliebt, gnädiger Herr, wie so viele im Schloß und im Dorf. Ja, es ist nicht anders! Am Sonntag in der Kirchen war alle Andacht weg, da haben sie sich gedrängt und gestoßen, um nur recht weit vorzukommen und Hinaufschauen zu können ins Oratorium, wo Sie waren mit der gnädigen Mama und den lieben Tanten.“

„Ach geh’, Poli!“ sagte Kosel und war doch etwas geschmeichelt. „Das bildest du dir ein. Ich habe nie etwas davon bemerkt.“

„Sie nicht! O, Sie gewiß nicht! Sie waren viel zu unschuldig dazu. Aber die gnädige Mama, die schon, und hat auch mit dem Herrn Pfarrer darüber gesprochen. Und der hat die Eltern von die Mädeln verwarnt, und die waren wütend und gar die jungen Burschen und die Männer, und ich glaub’ immer, viel von der Feindschaft der Leut’ gegen das Schloß stammt von daher.“

Mit den letzten Worten hatte Apollonia alles verdorben. Die heitere Stimmung, in die es ihr gelungen war, Kosel zu bringen, verwandelte sich in eine melancholische. Er seufzte schwer, und bange Ahnungen stiegen in ihm auf.

Wohin sollte diese Feindschaft noch führen? Durch Thätlichkeiten hatte sie sich seit längerer Zeit nicht mehr geäußert, aber sie gärte dumpf und verborgen weiter und der Schullehrer nährte sie. Fortwährend wurden Klagen beim Bezirksgericht eingereicht und waren meist lächerlich und sinnlos.

Einige Weiber, die man zum „Roßhaarzupsen“ aufgenommen hatte, schwuren hoch und heilig, daß ihnen im Amtshause vergiftetes Bier geschänkt worden war. Die Quelle, die den Teich im Schloßgarten speist und durch Bauernfelder läuft, war in neue metallne Röhren gefaßt worden. Sie erregten die größten Bedenken. Es wurden ihnen allerlei für den Boden und Getreidewuchs schädliche Eigenschaften angedichtet. Unten im Dorf hatte der Blitz eingeschlagen, weil Herr von Kosel oben auf seinem Schlosse einen Wetterableiter stehen hat – einen Ins-Dorf-Hinableiter. Dieser Hinableiter muß weg, und die Röhren müssen weg, und es wird geklagt, und weil’s in einem geht, auch gleich wegen des vergifteten Biers!

Herr von Kosel begann an den Velicern zu verzweifeln und mit dem Gedanken an eine Auswanderung nach Neusüdwales zu spielen. Seinem Sohne ging es dort gut, warum sollte es nicht ihnen allen dort gut gehen?

Nach langer Zeit hatte Joseph sich entschlossen, zu gestehen, daß er bei Levin Bornholm war. Auf der Besitzung seines Freundes, vier Tagereisen weit von Sidney. Er bat die Tanten, sich deshalb ja nicht zu beunruhigen, ja nicht zu glauben, daß Bornholm einen schlechten Einfluß auf ihn nehme. O nein! Levin sei nicht roh wie die meisten Squatter, er behandle seine Untergebenen streng aber gerecht und sorge für sie. Bornholm hatte Herden von Tausenden von Schafen und führte einen großartigen Wollhandel. Joseph genoß sein Vertrauen schon so sehr, daß ihm die Leitung einer Karawane übertragen worden war, die aus vielen mit Wollballen beladenen mit je zwanzig Ochsen bespannten Wagen bestand. Einen davon kutschierte das Weib des Ochsentreibers. Nun planten sie eine Reise mit wissenschaftlichen Zwecken, Bornholm und er, und diese Art der Wissenschaft zu dienen ließ Joseph sich gefallen.

Ach, seine Geschwister begleiteten ihn im Geiste durch die märchenhaften Wälder, durch die Riffe, die Buchten, über die Flüsse Australiens. Sie erlegten mit ihm giftige Schlangen, kultivierten Menschenfresser und kannten sich alle drei in der Geographie des fernsten Weltteils besser aus als in der ihres eigenen Vaterlandes. Herr Heideschmied, der Franz eines Abends auf die Pracht des Sternenhimmels aufmerksam machte und auf das feurige Blinken Arkturs, erhielt von ihm die Antwort:

„Was kümmert mich Ihr Sternenhimmel und Ihr Arktur, wenn ich nicht das Südliche Kreuz sehen kann!“




Elika hatte um Josephs willen noch eine schwere Stunde zu bestehen gehabt. Sie war in dem Augenblick in ihr ehemaliges Zimmer getreten, in dem Apollonia beim Aufräumen des Schrankes die erbrochene Sparbüchse gefunden hatte. An diese Sparbüchse hatte die Kleine gar nicht mehr gedacht, und eine schreckliche Ratlosigkeit ergriff sie, als die Wärterin ihr möglichst schonend mitteilte, daß alles Geld, das der gute Papa und die guten Tanten ihr geschenkt hatten, gestohlen sei.

„Nein, nein, nicht gestohlen!“ rief Elika und fuhr mit beiden Händen nach ihrem Kopf. „Poli, ich bitte dich, ich bitte dich … glaub’ nur nicht, daß es gestohlen ist …“

„Nicht gestohlen – aber fort. Wer hat’s genommen? Du selbst? Elika!“

„Ich – ich …“ Was thun? Wenn sie sagte, wem sie das Geld gegeben hatte, was mußte sie dann nicht alles sagen? Daß sie gewußt hatte um Josephs Flucht und sie hätte verhindern können, und gewiß – sollen! die Leute wecken, ihm nachsetzen, ihn einholen lassen … Nein und hundertmal nein, das sagt sie nicht – Poli kann ja nicht schweigen, die Kinder hatten es schon oft erfahren: nie ganz schweigen, höchstens halb und halb, wenn man sie „fürchterlich“ bittet. Elika fleht also und beschwört:

„Frag’ mich nicht! frag’ nicht! Ich hab’s verschenkt, mehr sag’ ich nicht, lieber sterben!“

Guter Gott, da war das Kind wieder da mit seinem Sterben! Wenn einem das Kind nur damit nicht käme, das hält man ja nicht aus. Und verschenkt also, der Engel – alles, was er hatte, verschenkt? Und will nicht einmal sagen, wem er aus der Not geholfen hat. O der gute Engel!

„Lob’ mich nicht!“ … Im Ton des tiefsten Schmerzes stieß die Kleine es hervor, und Apollonia erschrak über ihre Aufregung und suchte sie zu beschwichtigen und beteuerte, daß sie schweigen und auch nie wieder fragen werde, wohin das Geld des guten Engels gekommen sei.

In derselben Nacht aber hatte Apollonia von Joseph geträumt, war plötzlich aus dem Schlafe aufgefahren und dann lange wach gelegen. Und allerlei war ihr „vorgegangen“. Etwas höchst Merkwürdiges – und geradezu wunderbar, daß es ihr nicht früher zum Bewußtsein kam. Jetzt mit einem Mal stand es vor ihr. Damals in der Nacht, in der Joseph entfloh, hatte ein herzzerreißender Schrei Apollonia geweckt. Die Kleine stieß ihn aus: „Joseph!“ rief das Kind. Sie hatte gewußt, was geschah, eine Ahnung hatte es ihr gesagt, ein zweites Gesicht. Sie hatte den Bruder gesehen, sich aus dem Hause stehlen, in Nacht und Sturm des Weges ziehen, und ihn gerufen voll Todesangst! Und was sie gelitten hatte durch ihr unheimliches Traumleben, hatte sich am nächsten Morgen in ihren Zügen ausgesprochen; es war jedem aufgefallen. Apollonia beeilte sich, ihre spät gemachte Entdeckung der Tante Renate mitzuteilen. Diese meinte:

„Es kann auch Zufall sein; ich glaube, daß Sie nicht davon sprechen sollten.“

Aber zwei Geheimnisse auf einmal bewahren konnte Apollonia nicht, das war zuviel von ihr verlangt. Wenigstens Frau Heideschmied mußte sie sich anvertrauen, und doch auch der Frau des Kochs, mit der sie besonders innig befreundet war. Und die schwieg nicht, die erstaunliche Thatsache kam im ganzen Hause herum. Man setzte hinzu, schmückte aus, und bald war Elika von dem Nimbus einer kleinen Hellseherin umgeben.

Sie betete viel und heiß, mit exaltierter Frömmigkeit. Sie [360] fühlte sich im Gebete, unter der unmittelbaren Einwirkung des höchsten Wesens, von Schauern der Ehrfurcht und Glückseligkeit durchrieselt im Bewußtsein seiner Nähe.

Sie hatte Augenblicke süßer, wonniger Begeisterung. Besonders abends im Oratorium der Schloßkapelle, wenn sie ruhesehnend und schon etwas schläfrig dort kniete neben Tante Renate auf dem verschossenen Sammet des Betstuhls und ihren Gutenachtgruß an den lieben Gott sprach. Sie hatte ihn selbst „gedichtet“. „Meine Gedanken flattern mit müden Schwingen, aber zu Dir. Die Augen meiner Seele sind verschleiert, schauen aber aus nach Dir!“

Durch die hohen Fenster blinkten die Sterne, und ein andres Sternlein, das ewige Licht in seiner geschliffenen Krystallschale, grüßte zu ihnen hinauf. Elika lieh ihm Worte: „Das Flämmchen spricht zu euch Sterne, es sagt: Euer Licht hat der Finger Gottes entfacht, das meine die Andacht der Menschen, unsterblich sind wir beide.“

Wenn der Mond einen verklärenden Lichtstrahl herein warf und ihn ruhen ließ auf dem großen Engel, der mit entfalteten Flügeln über dem Altare schwebte, ein goldenes Kreuz in der ausgestreckten Rechten, da hefteten Elikas Augen sich wie gebannt auf ihn, da meinte sie, dem Blick der seinen zu begegnen, ihr wendete er sein schönes Angesicht zu und hielt ihr das Zeichen des Heiles entgegen. Seine stummen Lippen sprachen nur ihr vernehmbare Worte himmlischer Liebe und geheimnisvoller Verheißungen.

Ihren Brüdern erzählte sie nichts von ihren Entzückungen beim Gebete. Sie hatte kein Mitteilungsbedürfnis über die Vorgänge in ihrer tiefsten Seele. Ihre Brüder hingegen sagten ihr alles, was ihnen durch die Köpfe und die Herzen flog, sie war die Vertraute ihrer Zukunftspläne. Leopold, der seine Studien immer noch etwas von oben herab betrieb, aber die Prüfungen glanzvoll bestand, wollte Staatsmann werden und das Vaterland aus allen Wirren erlösen. Franz gedachte sich der Landwirtschaft zu widmen. Ihm machte das Lernen fortwährend große Schwierigkeiten, doch gelang es der sieghaften Lehrkunst Heideschmieds, ihn durch die Schulen zu quetschen.

Dem Einfluß seiner eigenen biedern und sympathischen Persönlichkeit verdankte der Junge auch etwas. Die Gesichter der strengsten Professoren am Gymnasium heiterten sich auf, wenn er sorgenvoll dreinschauend erschien, tief und ehrerbietig grüßte und mit heroischer Anstrengung seinen Denkapparat in Bewegung setzte. Jedes einzelne seiner hellen, kurzgehaltenen Haare strebte empor und schien um Beistand zum Himmel zu rufen. Falten bildeten sich auf der breiten, vorspringenden Stirn, die Augen glänzten, die Flügel der kurzen Nase zitterten und der Mund, der liebe, schöne, unschuldige Mund öffnete sich, die Spitze der Zunge kroch schüchtern hervor und benetzte die glühenden trockenen Lippen. Und die Antwort, die der prüfende Professor unfehlbar auf seine erste Frage erhielt, lautete:

„– Ja – ja – ja – ja – ja!“

Wenn man ihn aber nur mit einer kleinen Nachhilfe auf den rechten Weg wies, ihm nur Mut machte, dann ging’s, dann holperte er weiter und trug immer Censuren davon, die er, streng genommen, nicht verdient hätte, und nur erhielt, weil die Herren Professoren erwarteten, es werde im nächsten Jahre besser gehen.

Seit einiger Zeit war übrigens der starke blühende Junge ein Sorgenkind geworden. Der Arzt hatte ein Herzleiden bei ihm konstatiert und dringend empfohlen, ihn vor Gemütsaufregungen und vor heftiger körperlicher Anstrengung zu bewahren. Möglichst unauffällig; er selbst brauchte den Grund des unbehaglichen Gefühls, das er oft haben mußte, nicht zu kennen. „Man schiebt alles aufs Wachsen,“ meinte der Arzt, „und wenn er einmal glücklich über die Entwicklungsjahre hinausgebracht ist, haben wir viel gewonnen.“




In aller Gemächlichkeit verdiente sich Leopold sein Zeugnis der Reife und sollte bald nach Wien auf die Universität kommen. Ein Glück, nach dem er sich das ganze Jahr hindurch heiß gesehnt hatte. Selbständig sein, endlich selbständig, endlich sein eigener Herr! Es ging ihm ja gut zu Hause, und er liebte die Seinen, aber die Unabhängigkeit ist doch das Schönste, und ein Mann wird man nur draußen in der Freiheit, in der Welt!

Der Tag der Abreise war schon bestimmt und je näher er kam, eine um so größere Ungeduld erfaßte den Jüngling. Er fing an, die Stunden zu zählen … doch – er zählte und rechnete ohne Elika. Die arme Kleine wurde immer trauriger, immer blasser. Frau Heideschmied, ihre begeisterte Verehrerin und unterthänige Sklavin, hörte sie des Nachts in ihrem Bette schluchzen. Sie sekundierte im stillen. Der Schmerz des Kindes war ihr Schmerz, Elikas geringste Verstimmung brachte sie um alle Freudigkeit, Elikas geringstes Unwohlsein schien ihr der Beginn einer schweren Krankheit, und sie beunruhigte mehr als einmal die Tanten mit der Versicherung:

Mesdames, elle se meurt!“

Es kam so weit, daß Charlotte zu ihr sagte: „Verzeihen Sie mir, liebe Frau Heideschmied, aber Ihre Aengstlichkeit übersteigt schon die Grenzen – des Unvernünftigen.“

Indessen machte der Trübsinn, in den Elika versank, als der Augenblick der Trennung von Leopold mehr und mehr heranrückte, dem ganzen Hause Kosel und allen, die zu ihm gehörten, große Sorge.

Die Kleine sprach nicht von dem bevorstehenden Abschied, man sah aber, daß sie an nichts anderes dachte. Sie bat ihren Bruder nicht ein einziges Mal, daß er ihr das Opfer bringen möge, dazubleiben; wenn sie aber mit ihm sprach, klang ein leiser Vorwurf aus ihrem Tone, und aus ihren Augen fluteten ihm solche Wogen des Leids entgegen, daß er es nicht aushielt, daß er sich vorkam wie ein Verbrecher, wie ein Schwestermörder, und nach schwerem Kampf mit sich selbst eines Morgens erklärte: „Ich hab’ es mir überlegt, ich bleibe. Das erste Jahr Jus kann ich am Ende auch in Velice durchmachen.“

Elika dankte nicht mit Worten, aber sie lebte wieder auf, sie entzückte ihre Brüder, erheiterte das ganze Haus mit ihrer lieben Munterkeit, die in alle Herzen eindrang wie mildes, lauteres Licht.

„Jetzt bist du wieder nett,“ sagte Leopold zu ihr, und sie antwortete: „Weil ich glücklich bin.“

„In einem Jahr geh’ ich aber doch,“ sprach er nach kurzer Ueberlegung mit Festigkeit.

„Ach was – in einem Jahr!“ – Er wußte wohl, was das heißen sollte: Geh’ du nur in einem Jahr! Mir thut’s dann nicht mehr weh. Ich bin dann nicht mehr da.

Sie sah oft danach aus, als ob sie in einem Jahr nicht mehr da sein sollte, und plötzlich, ohne sichtbare Veranlassung, war das blasse Alabastersäulchen in ein frisches rosiges Mädchen verwandelt, das von Lebenslust sprühte und, schwimmend und rudernd, reitend und pferdelenkend, mit ihren Brüdern wetteiferte an Geschicklichkeit und Kühnheit.

Im Gegensatz zu ihrer früheren Lernfaulheit war sie jetzt von einem fieberhaften Wissensdurst ergriffen. Sie hatte zu oft auf ihre Frage: Warum? die Antwort erhalten: Weil Gott es so eingerichtet hat, um nicht endlich zu der weiteren Frage: Warum hat Gott es so eingerichtet? zu gelangen.

Sie fühlte sich immer etwas beleidigt, wenn ihr erwidert wurde, darüber ließen sich höchstens Vermutungen anstellen, die aber selten das Rechte träfen. In die Absichten Gottes einzudringen, vermag kein menschlicher Verstand. Das glaubte sie einmal nicht! Tante Renate, die so fromm ist, der Herr Pfarrer, der ein Priester ist, werden doch die Absichten Gottes kennen. Sie wollen ihr nur nicht sagen, was sie wissen, sie finden sie noch zu jung, zu kindisch. Nun, wenn die Menschen ihr allerlei verheimlichen, und Versteckens mit ihr spielen, nimmt sie ihre Zuflucht zu Büchern. Bücher sind offenherzig, die braucht man nur aufzuschlagen und sie geben uns großmütig und freimütig ihren ganzen Reichtum.

Und jetzt war keines der Bücher ihrer Brüder mehr vor ihr sicher; sie studierte mit glühendem Eifer und eisernem Fleiße wochen- und manchmal sogar monatelang, aber – einmal das, einmal jenes, und Heideschmied prophezeite ihr:

„Ihr Wissen wird immer Stückwerk bleiben, Elika.“

[362] Seit Joseph fort war, hatte sie sich mit großer Innigkeit an Luise geschlossen. Ihr kam vor, daß diese junge Tante sie ungemein zu schätzen wußte und ein Verständnis für sie habe, das den Großtanten fehlte. Besonders Renate, deren Leben eine lange Uebung in der Selbstbeherrschung gewesen war, sah die Launen, denen Elika sich hingab, ihr Schwanken von einem äußersten zum andern als etwas höchst Beklagenswertes und als einen Freibrief auf alle möglichen zukünftigen Leiden an.

Einige Wochen vor ihrem dreizehnten Geburtstag erbat sich die Kleine als liebstes Geschenk die Erlaubnis, vierzehn Tage ganz allein bei Luise in Vrobek zubringen zu dürfen. Apollonia packte einen Koffer, und schon geraume Zeit vor der Uebersiedlung hielt Elika ihre Bekannten im Dorfe und die Arbeitsleute im Garten an und sprach mit großem Ernste:

„Wenn ich Sie nicht mehr sehen sollte vor meiner Abreise, sage ich Ihnen also heute Lebewohl.“

Man fand das herzig und rührend und die wenigsten versäumten, sie ihrer Hingebung zu versichern. Beim wirklichen Abschied empfahl sie ihren Brüdern, sie morgen, und den Tanten, sie spätestens übermorgen zu besuchen. Ueberhaupt solle nur ja täglich jemand aus Velice hinüberkommen, sich nach ihr zu erkundigen.

Dann fuhr sie fort und lehnte sich aus dem Wagen und winkte mit dem Taschentuche, so lange auch nur die Spitze eines Rauchfangs vom Schloßdache zu erblicken war. Sie fühlte einen großen Trennungsschmerz und kostete ihn aus mit Hochgenuß.

Im raschen Trabe war der Weg längs der Parkmauer zurückgelegt worden, nun ging es den Berg hinunter, zwischen zwei Reihen alter Apfelbäume. Ihre Früchte waren schon abgenommen. Es war ein gutes Obstjahr gewesen. Zu Hügeln aufgeschichtet lagen Aepfel, Pflaumen und Nüsse auf den Feldern und daneben die Wächter im leichten oder schweren Branntweinrausche.

In einer Viertelstunde war die größere Hälfte der Reise zurückgelegt, Valahora kam in Sicht.

„Du! Du!“ rief Elika ihre Tante an, „schau hin. Bartolomäus hat alle Fenster aufgemacht. Was heißt denn das? was geschieht ihm denn? Dem muß was sein, daß er sich entschließt, die Fenster aufzumachen. … Oder,“ unterbrach sie sich plötzlich und eine helle fliegende Röte stieg ihr ins Gesicht, „lüftet er, weil er seinen Herrn erwartet? … Luise – wenn Bornholm käme, käme Joseph mit …“ Sie konnte nicht weiter sprechen, ihr Atem versagte.

Luise nahm sie in die Arme: „Mache dir keine falschen Hoffnungen. Joseph denkt noch nicht an die Heimkehr. Das sieht man ja aus seinen Briefen.“

In Vrobek kam Elika sich doch ein wenig vor wie eine verwunschene Prinzessin. Es war alles gar so einfach; das Zimmer, in dem Luise sie neben dem ihren einquartiert hatte, wie jenes weißgetüncht und spärlich eingerichtet. Am Abend brachte die Tante sie zu Bette und blieb bei ihr, bis der Kleinen die Augen zufielen. Aber sie hatte einen unruhigen Schlaf, eine Deckenrutschung fand statt und Elika erwachte im blanken Hemdchen, fröstelnd, zähneklappernd. Da dachte sie sogleich, daß sie Fieber habe, malte sich rasch und lebhaft die ganze Traurigkeit eines Sterbens in der Fremde aus und schlief, wieder fest in ihre Decke gehüllt, sanft und ruhig bis zum Morgen. Als aber Luise kam, um ihr beim Ankleiden behilflich zu sein, und fragte, wie sie geschlafen habe, antwortete sie: „Elend!“ und glaubte es.


Im Laufe des Vormittags kam Besuch aus Velice, am Nachmittag unternahmen Luise und Elika einen Spaziergang nach dem Walde von Valahora.

„Wir sollten auch ins Schloß,“ meinte die Kleine. „Es ist dort hübsch gruselig. Man glaubt, jetzt und jetzt wird man in das schreckliche Zimmer des Blaubart kommen. Aber man kommt nur in ganz natürliche Zimmer mit alten Kanapees und Sesseln.“

„Woher weißt du das?“ fragte Luise. „Du warst nie in Valahora; es ist euch ja verboten, hinzugehen.“

– Nun – – sie gingen doch. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit vertraute sie’s der Tante an. Neulich erst waren sie dort gewesen, hatten auf der Promenade Herrn und Frau Heideschmied gesagt: Spazieren Sie nur weiter, wir kommen schon nach, wir wollen nur die Hunde im Forsthaus besuchen, und waren nach Valahora gelaufen.

„Eine Lüge, Kind!“

„Nur eine halbe, nur eine viertel! Wir haben wirklich Hunde besucht, die schlimmen Wolfshunde von Herrn Bornholm, die Kinder von Jedén und Dva. Uns thun sie aber nichts. Und Bartolomäus, der so bös’ ist, thut uns auch nichts. Er nimmt mich und trägt mich im ganzen Haus herum, wenn ich will. Du wirst sehen, wie lieb mich der hat, der alte Bartolomäus.“

Sie plauderte eifrig, sie suchte Luisens Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie hatte längst etwas bemerkt, das die Tante nicht bemerken sollte. Im „Wetterwinkel“ stiegen Wolken auf, die von Zeit zu Zeit ein fahles Leuchten durchzuckte. Der übrige Himmel schimmerte in feurigem Blau, die Sonnenstrahlen stachen und brannten. Wenn ein so schreckliches Gewitter käme wie an dem Tage, an dem Joseph das Haus verließ! Im Wald möchte sie von ihm überrascht werden, sich aber früher verirrt haben, die Nacht im Freien zubringen müssen. Das wäre eine Wonne! Das wäre! Herrlich stellte Elika es sich vor. In Australien würde Joseph erschrecken, wenn er davon erführe.

Sie hatten die Anhöhe überschritten, die er zu umgehen pflegte, wenn er Luise heimbegleitete, und hinter der er dann am Gartengitter wieder zum Vorschein kam, um ihr ein allerletztes Mal Lebewohl zu sagen. Eine breite Allee von Linden- und Kastanienbäumen führte durch schöne, gute Felder, die einst zu Vrobek gehört hatten und dann vom Ankömmling aus Schweden erworben worden waren, bis zum Walde.

An seinem Saume standen uralte Eichen. Kolosse mit riesigen Stämmen, schrundig und grau. Einige, schon wipfeldürr, reckten trotzig ihr stolzes Geäst; andre, vom Blitz zerspellt und zu Tod verwundet, entfalteten noch an jungen Zweigen einen dunklen Blätterreichtum. Die Bäume ringsum, knorrige Linden, die Birke, die Jungfrau des Waldes, Buchen und Erlen schienen ehrfurchtsvoll zurückzuweichen vor dieser greisen Majestät. Nur niederes Gebüsch drängte sich in ihre Nähe und Schlingpflanzen krochen an ihr hinauf mit kleinen grünen Füßchen und sogen ihr Parasitenleben aus ihrer Rinde.

Er war schön, der von jeglicher Forstkultur verschont gebliebene Wald, in dem die Natur frei und ungehindert ihre göttliche Willkür walten lassen durfte. Steile, steinige Halden, von Wasserfäden durchrieselt, schilfumkränzte, dunkle Weiher, üppige Wiesen wechselten mit dicht wucherndem Gebüsch, düstre Nadelholzbestände, durch die man hinschritt wie auf einem Teppich von Atlas, mit Abhängen und Anhöhen voll Wurzeltrieben und Brombeersträuchen.

Die wunderbare Stille des Waldes, die lebendige Stille, in der das winzige Insektenvolk lautlos sein geschäftiges Wesen treibt, wurde manchmal durch Vogelgezwitscher unterbrochen und durch ein Huschen und Flattern …

„Schau, ein Hase! … Schau, Rebhühner!“ … flüsterte Elika. „Und dort im Gebüsch, schau nur, ein Reh!“ …

„Ich habe keine Ahnung, wo wir sind,“ sagte Luise, etwas unruhig geworden. Elika behauptete, sich vortrefflich auszukennen, sie würden nun gleich auf einen Fußsteig kommen, auf dem man in ein paar Minuten zum Schloß hinaufgelange. Der Fußsteig zeigte sich aber nicht, vielmehr wurde der Wald dichter, unwegsamer, und plötzlich fuhr heulend und pfeifend ein Windstoß über die Wipfel. Die schlanken Bäume bogen sich, die mächtigen widerstanden, aber wie eine grollende Klage tönte es herab von ihren Kronen.

Luise wollte umkehren, den Weg nach Hause getraute sie sich zu finden: „Eilen wir!“ rief sie, „es steigt ein Gewitter auf.“

„Es ist schon da!“ erwiderte Elika. „Hast du den Blitz gesehn? … Und der Himmel über uns ganz schwarz!“ …

Mit unglaublicher Schnelligkeit war es heraufgestiegen. Wie dunkle, kompakte Massen türmten sich die Wolken, aus denen Feuerpfeile blendend niederschossen. Unmittelbar beinahe folgte ihnen ein dumpfes schweres Rollen. Wenige Sekunden nur noch zwischen Blitz und Donner; das Gewitter stand senkrecht über dem Wald. Eine unbeschreibliche, atembeklemmende Spannung lag in der Luft. Noch fiel kein Tropfen Regen, und dieser wilde harte Kampf der Elemente glich einem ungeheuren und thränenlosen Schmerz.

[363] „Nur heraus aus dem Walde! nur ins Freie, wir wollen zurück,“ sagte Luise in peinlicher Angst um das ihr anvertraute Kind.

Dieses Kind aber, dieses unberechenbare, war von einem Uebermutsrausche erfaßt: „O nein! weiter wollen wir. Wir sind ganz nah’ von Valahora, sag’ ich dir, Tante. Der nächste Blitz wird es uns zeigen.“

Wieder lief sie voran, stieß aber plötzlich einen Schrei aus und taumelte. Einen Augenblick war alles rings um sie von grellem Licht blendend erleuchtet, der Boden zitterte. Mit hartem, knatterndem Gedröhn war ein Wetterstrahl an der höchsten Tanne herunter in die Erde gefahren.

„Um Gottes willen, Elika!“ Luise stürzte auf sie zu und riß sie an sich: „Es ist nichts … nichts geschehen … bist nur erschrocken, du arme Kleine!“

„Nur erschrocken, die arme Kleine,“ antwortete statt der noch Sprachlosen spöttisch eine tiefe Männerstimme. Bornholm trat auf die beiden zu. „Kommen Sie heraus aus dem Wald. Was haben Sie beim Gewitter im Wald zu suchen?“ Er wendete sich und winkte ihnen, zu folgen.

Zwei Hunde sprangen herbei; zwei Freunde, Jedén und Dva. Sie tupften mit den Nasen an die Hände und an das Kleid Elikas und wedelten diskret mit den Schwänzen. Die Freude des Wiedersehens laut zu äußern wagten sie nicht. Ihr Herr war da.

„Es ist Herr Bornholm,“ flüsterte die Kleine kaum hörbar, und Luise fühlte den zarten Körper, den sie an sich gepreßt hielt, erbeben. „Ich erkenn’ ihn an seinen Hunden … O Jesus! Vielleicht ist Joseph auch mitgekommen.“ Sie erhob die Stimme so laut sie konnte: „Herr Bornholm, ist Joseph auch gekommen?“

„Nein,“ erwiderte er, ohne sich umzusehen.

Sie waren auf dem Fußpfad angelangt, den Elika vorhin gesucht hatte und der zwischen hohem Gras und niederem Gebüsch steil zur Burg hinaufführte.

In Güssen strömte jetzt der Regen nieder; das Gewitter grollte weiter und ein Wirbelsturm fegte den Wandernden kalte Duschen abwechselnd in den Rücken und ins Gesicht. So gut es ging, suchte Luise die Kleine vor dem Unwetter zu schützen, hüllte sie in ihr Tuch, spannte ihren Sonnenschirm über sie aus und kämpfte wacker mit dem Sturm, der sich seiner bemächtigen wollte. Es gelang ihm. Der Schirm flog über Bornholm hin und schlug ihm beinahe den Hut vom Kopfe. Er wendete sich lachend:

„O weh! das schützende Dach ist fort; jetzt zerfließt das Zuckerpüppchen.“

Im Hof wurden sie von Bartolomäus empfangen. Sein mürrisches Gesicht verwandelte sich in ein bestürzt mitleidiges, sobald er Elika erblickte. Viel Worte machte er nicht, aber er nahm sie in die Arme und trug sie das steinerne Treppchen hinauf in den Gang.

„Is naß und kalt wie Fischerle, arme Kleine,“ sagte er, „und weint.“

„Weil sie einen Spaziergang im Regen hat machen müssen,“ versetzte Bornholm.

Elika bäumte sich auf: „Weil Joseph nicht gekommen ist!“ Mit einem Schrei rangen die Worte sich aus ihrer Kehle: „Weil Sie ihn dort gelassen haben, allein bei den Menschenfressern. Das ist schlecht von Ihnen!“

Sie schluchzte, sie umklammerte den Hals des alten Bartolomäus und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust.

Levin blieb ganz ungerührt. „Was glauben Sie denn, kleine Person?“ sagte er. „Wenn Sie glauben, daß Joseph einen Beschützer braucht, irren Sie, er ist selbst ein Beschützer.“

„Sie werden uns von ihm erzählen, Herr Bornholm,“ fiel Luise ein, „wir bitten darum. Wir fragen aber auch: wollen Sie uns Gastfreundschaft gewähren, bis der Regen aufgehört hat?“

„Selbstverständlich, Fräulein von Kosel. Ich weiß, daß Sie es sind,“ beantwortete er ihren erstaunten Blick. „Joseph hat Sie mir sehr treu geschildert.“

Er stieß die Thür seines Zimmers auf und schloß sie hinter den Eingetretenen.


Bartolomäus legte die Kleine vorsichtig auf den Diwan, und während Luise ihr das durchnäßte weiße Kleidchen, die Schuhe und die Strümpfe auszog, holte er einen dicken Plaid Bornholms herbei, in den Elika gewickelt wurde. Sie weinte noch immer. Ganz leise jetzt, aus tiefstem, schwerverwundetem Herzen, in dem echt kindlichen ätzenden Schmerz, der einem Gefühl von gräßlicher Verlassenheit entspringt: – Was wissen sie von mir, diese Erwachsenen, die so hart sind, so dumm und keinen Trost geben – und nichts können als nur sagen: „Weine nicht.“

„Weinen S’ nicht,“ wiederholte Bartolomäus zum zehntenmal. „Was weinen S’ denn?“

„O Bartolomäus, mein Guter,“ erwiderte Elika und brach, als sie zu sprechen begann, in neues Schluchzen aus, „rufe Herrn Bornholm … Er soll mir wenigstens … wenigstens … von Joseph erzählen … O Bartolomäus, mein Guter, ich werde sterben und werde meinen Joseph nicht wiedersehn!“

Das war zu viel für den Alten; er nahm das Kleidchen, die Schuhe und die Strümpfe, würgte etwas von „Herd“ und „trocknen“ hervor und verließ das Zimmer.

Luise kniete bei Elika nieder: „Hast eine arge Enttäuschung gehabt, arme Kleine. Weine dich aus; das ist gut. Wird es bald gut sein? Was meinst du? … Wie deine Augen rot sind! … und wie deine Lippen brennen!“ Sie wischte ihr mit dem Taschentuche die Thränen vom Gesicht, drückte ihre kühle Wange an den Mund Elikas, küßte und herzte sie, die sich ihre Liebkosungen in Gnaden gefallen ließ und immer nur zwischen zwei – nun doch schon trockenen – Schluchzern seufzte:

„Wann kommt denn Herr Bornholm?“

Der Ersehnte erschien endlich. Einen Augenblick blieb er auf der Schwelle stehen, mit der Miene eines Menschen, der einen unangenehmen Eindruck empfängt; trat an den Tisch am Fenster und legte eine Speerspitze und ein hölzernes Kampfmesser zu den Waffen, die sich dort befanden.

Wie bös’ der ist! Es verdrießt ihn, daß wir uns hier so häuslich eingerichtet haben, dachte Luise und sprach: „Wir werden Ihre Güte nicht mißbrauchen, Herr Bornholm. Wir wandern bald heim. Der Regen hat, scheint mir, fast aufgehört.“

„Schwer zu konstatieren von hier aus,“ er deutete nach dem Fenster mit den wenig durchsichtigen Butzenscheiben. „Aber warum setzen Sie sich nicht?“

Luise nahm Platz in einem großen, altmodischen Fauteuil und Levin ihr gegenüber auf der Lehne des Diwans, bis zu der die Füßchen Elikas lange nicht reichten.

„Was hat Joseph mir sagen lassen?“ fragte sie. „Er hat mir gewiß etwas sagen lassen und dem Papa und allen.“

„Durch mich hat er Ihnen nichts sagen lassen,“ erwiderte Bornholm und schlug gemächlich ein Bein über das andre. „Wir haben eine Partie ins Innere des Landes gemacht und uns vor ungefähr sechs Wochen getrennt. Ich war damals noch nicht entschlossen, nach Europa zu reisen.“

Während er sprach, ließ er Luise nicht aus den Augen. Sein Blick glitt an ihr herab, von dem zerknitterten, weißen Krägelchen, das den Hals eng umschloß, an dem übereinfachen, dunkelblauen Perkalkleide, das bespritzt und feucht in schlaffen Falten an ihrem zierlichen Körper herunterhing, bis zu den beschmutzten Schuhen, auf denen er hartnäckig haften blieb.

Wieder glaubte sie sich entschuldigen zu sollen: „Ja, ja, ich seh’s, mein Kleid trieft, meine Schuhe haben arge Spuren auf dem Fußboden hinterlassen. Bartolomäus wird mich verwünschen. Verzeihen Sie nur, Herr Bornholm.“

„Was denn?“ unterbrach er sie. „Was liegt denn daran? Aber Ihnen läuft Wasser aus den Schuhen. Wollen Sie so nach Hause gehen?“

„Ohne weiters.“

„Keine Angst vor Erkältung?“

„Nicht die geringste.“

Elika bemeisterte schwer ihre Ungeduld während dieses Zwiegesprächs. „Erzählen Sie von Joseph, Herr Bornholm!“ rief sie mit dringendem Flehen. „Erzählen Sie!“

Er wendete den Kopf zu ihr und sagte gleichgültig: „Ich bin ein schlechter Erzähler, kleine Person.“

[364] „So erzählen Sie schlecht, aber erzählen Sie doch … Was thut er? Hat er Pferde und Hunde? Wie ist er angezogen? was bekommt er zu essen?“

„Hat er Ihnen denn das alles nicht geschrieben? So oft ich ihn in seiner Wohnung finde, finde ich ihn schreibend, und jedesmal sagt er: ‚Ich schreibe nach Hause‘.“

„Das ist etwas ganz andres, was er schreibt und was einer erzählen kann, der bei ihm war … Also, Herr Bornholm! ... Also!“ …

Ihr Drängen langweilte ihn, er verbarg es nicht. Die Antworten, die er auf ihre Fragen gab, wurden immer karger, jeden Satz ließ er sich mühsam erpressen. Sie hielt lange stand, ihre Ausdauer, ihre Geduld bewährten sich. Endlich aber waren sie doch erschöpft. Die sanften, schutzflehenden, um Liebe werbenden Augen der armen Kleinen sprühten Zornesfunken, ihre bleichen Wangen flammten, sie bäumte sich auf und stieß in unbezwinglicher Empörung die Worte hervor:

„Sie sind bös’! Ich glaube, daß Sie ein böser Mensch sind, der andern alles zuwider thut.“

Levin Bornholm, der Klotz, beantwortete ihre heftige Anklage mit einem unpassenden: „Je nun.“ Der Angriff, den er erfahren hatte, machte ihm keinen Eindruck. Er sah Elika nicht einmal aufmerksamer an als früher, und als er sich wieder zu sprechen bequemte, sprach er zu Luise: „Sie haben nicht nur keine Angst vor nassen Füßen, Sie haben auch keine vor übler Nachrede.“

Luise machte große Augen zu dieser unerwarteten Apostrophe: „Da irren Sie. Ueble Nachrede wäre mir sehr unangenehm.“

„Und trotzdem setzen Sie sich ihr aus?“

„Wodurch?“

„Dadurch, daß Sie hierher kommen, zu mir, den die öffentliche Meinung verfemt.“

„Not bricht Eisen – ich bitte abermals um Verzeihung, Herr Bornholm,“ sagte sie und sah ihn dabei mit einem sehr lieben Lächeln an.

Ihm war, als offenbare sich ihm eine Seele voll lauterer Heiterkeit, und eine verdrießliche Regung ergriff ihn. Wie beschränkt und gedankenlos muß man sein, um heiter sein zu können, überhaupt – und nun gar Die! Ist arm wie ein Digger und steht allein wie die Chamberssäule … „Haben Sie je von der Chamberssäule gehört?“ sprach er plötzlich und mußte selbst lachen über das Unmotivierte der Frage, mit der er da hereinplatzte.

„Ich nicht,“ erwiderte Luise; er kam ihr jetzt entschieden etwas verrückt vor.

„Aber ich!“ Elika hatte sich allmählich von ihrem Zornesanfall erholt und mischte sich ins Gespräch: „Sie steht am Finkefluß und ist ein Monolith und das allerletzte Ueberbleibsel von einem Gebirge.“

„Richtig, kleine Person. Hat Joseph Ihnen das geschrieben?“

„Nein, ich hab’s gelesen. Joseph hat zuletzt von der Regenzeit geschrieben. Die kommt ja bald, nicht wahr, Herr Bornholm?“ Warte, dachte sie, jetzt erwisch’ ich dich, jetzt wirst du mir doch erzählen! „Die Regenzeit muß traurig sein. Was thut Joseph während der Regenzeit, Herr Bornholm?“

Er nannte sie im stillen eine schlaue Katze und antwortete obenhin: „Nun, allerlei.“

„Ich glaube,“ führ sie fort, „daß er die seltenen Pflanzen trocknen wird, die er auf der ‚Landpartie‘ mit Ihnen, die eine große Reise war, gesammelt hat, Orchideen und Stackhousien und solche Sachen, und ich glaube, daß er auch kleine Tiere und Vögel ausstopfen wird, was sehr grauslich ist. Finden Sie nicht auch, Herr Bornholm?“

„Wie man’s nimmt. Ein Squatter hat vom ‚Grauslichen‘ andere Begriffe als Sie.“

„So ist er ein Squatter? Er ist doch kein Squatter. Das sind Sie, und er ist nur bei Ihnen in der Home-station.“

„Sehen Sie, Sie wissen alles. Wozu fragen Sie?“

Nun genug! Sie wollte ihn nicht mehr fragen, gar nicht mehr, es lohnte nicht der Mühe. Die Antworten, die er gab, waren zu einsilbig und läppisch. Sie wünschte sich fort von Valahora, auf zehn Meilen, auf hundert Meilen.

Wie eine kleine Mumie hatte sie dagelegen und zog nun mühsam einen Arm nach dem andern aus seiner festen Umhüllung. Ihr weißes Hälschen kam zum Vorschein, schmal und zart wie das eines siebenjährigen Kindes. „Der Plaid kratzt mich,“ sagte sie, „er ist so grob.“

„Wie sein Eigentümer, meint die ‚arme Kleine‘,“ ergänzte Bornholm, richtete die Worte aber nicht an sie, sondern an Luise.

„Gehen wir, Tante,“ sprach Elika und ihrer starken Willenskraft gelang’s, ihrer Stimme einen reinen und sichern Klang zu geben. „Das Gewitter ist vorbei und der Regen macht mir nichts. Bitte, rufe Bartolomäus, er soll mir meine Schuhe bringen.“

Levin stand auf. „Das besorg’ ich.“ Er sah zum Fürchten streng und unwirsch aus und ging mit großen Schritten der Thür zu, und sogar der Anblick seines breiten Rückens hatte etwas Bedrohliches.

Bartolomäus kam herein, das Kleid Elikas und ihre Strümpfe auf dem Arm; in der Hand ihre Schuhe, die er Luisen entgegenhielt: „Anziehn kann nicht, sind sie naß,“ verfügte er.

Nach einigem Protestieren mußte das Kind sich bequemen, wohleingepackt in dem groben Plaid, von ihrem alten getreuen Eckart nach Hause getragen zu werden.

Die Karawane überschritt schon den Hof, als Bornholm aus dem Gang auf die offene Treppe trat. Er hatte sich doch noch verabschieden wollen bei Fräulein von Kosel. Sie war recht sympathisch, trotz ihrer lächerlich verzärtelnden Affenliebe für das kleine Ungetüm von Nichte.

Aber die Gäste hatten Eile, sein Haus zu verlassen, sie schlugen ein rasches Tempo an. Zuerst Bartolomäus mit seiner leichten, sorglich getragenen Bürde. Der bissige Kettenhund in eine Wartefrau verwandelt – sehr lächerlich! – dann Luise, dann die Jungen Jedéns und Dvas, bellend, jappend, sich zeitweise überkugelnd.

Das Gewitter vergrollte langsam, der Regen hatte aufgehört. Luise erhob den Kopf und sah zum Himmel empor, an dem sich einzelne helle Streifen zeigten. Dann, schon im Begriff, um die Ecke der Hofmauer zu biegen, blickte sie zurück, bemerkte Bornholm und nickte ihm freundlich grüßend zu.

„Keine Schönheit und auch nicht mehr ganz jung. Ungefährliche Nachbarschaft. Aber danken hättest du dürfen für ihren Gruß, australischer Rüpel,“ sagte sich Levin.

[389] Heller, lieblicher Herbstmorgen, köstliches Geschenk des alternden Jahres. Nach all dem Blüten- und Früchtesegen, den es verschwenderisch gespendet hat, noch so leuchtender Sonnenglanz, so erquickende Wärme, so mild wehende Luft! Jeder Blick über die lichtverklärte Erde wird Wonne, jeder Atemzug wird Dank. Luise empfand ihn, sein herrliches Gefühl durchdrang und erweiterte ihr Herz. Selig, wer es hat! selig, wer seinen himmlischen Reichtum auszuströmen vermag im vollen Maß – ohne Maß.

Luise preßte ihre Hände, die sich unwillkürlich gefaltet hatten, zusammen: Für alles Dank! auch für die Fähigkeit, zu danken.

Sie war unter dem Hausthor stehen geblieben und überblickte ihr Vorgärtchen: ein Rasenplatz mit einer Gruppe Monatsrosen, von einem Resedenkranz umgeben, und, vor dem neu aufgerichteten, grün angestrichenen Zaun junges Flieder- und Jasmingebüsch, das hoffentlich schon im nächsten Jahre blühen wird. Das Vorgärtchen machte den ganzen Luxus aus, den sie sich gestatten durfte; hinter dem Hause pflegte sie einige Gemüsebeete, da machte der Nutzen sich so breit, als der Raum es irgend zuließ; einige Obstbäume, der Schuppen mit dem Holzvorrat, eine kleine Bleiche füllten ihn aus. Am „End’ der Ende“ kam dann die zierliche Meierei, der eine Magd vorstand. Ein ältliches Wesen, an äußeren Vorzügen arm, an guten Charaktereigenschaften groß und im Besitz des wohlverdienten Vertrauens ihrer Gebieterin.

Als Luise über die Schwelle trat, wurde sie angenehm überrascht. Da stand an die Wand gelehnt ein Flüchtling – ihr windverwehter Sonnenschirm, und trug alle Spuren einer im Freien auf feuchtem Grunde zugebrachten Nacht. So ganz echt konnte seine braunrote Färbung wohl nie gewesen sein und erschien jetzt marmorartig gesprenkelt und gefleckt. Ja, das kommt davon, wenn einer eine Luftreise unternimmt, der nicht fliegen kann. Seine Eigentümerin betrachtete ihn, wendete ihn hin und her: in defektem Zustand ist er heimgekehrt, aber besser doch als gar nicht. Und der ihn gebracht hat, der redliche Finder, muß wie ein Einbrecher über den Zaun gestiegen sein, denn das Gitterpförtchen ist noch verschlossen.

Wer mag das gewesen sein? Ein Heger, oder einer der Jünglinge aus Velice, der vor Tau und Tage einen Spaziergang unternommen hat?

Sie nahm sich nicht Zeit, lang’ darüber nachzudenken, sie spannte den Wiedergeschenkten auf, mehr zu seinem als zu ihrem Nutzen, und ging ihre Wirtschaft bestellen. Wenn auch nur klein, gab sie doch zu thun, ein paar Stunden vergingen, ehe Luise zurückkehrte. Sie meinte ihren Gast noch schlafend zu finden. Indessen wurde sie in der Nähe des Hauses von den zirpigen [390] Tönen des greisen Spinetts begrüßt. Es stand im Salon, neben der Thür, die auf einen schmalen Altan mit bauchigem Gitter führte und geöffnet war. Elika musizierte. Sie spielte in allerfreiester Manier – eine offenbar eigene Komposition. Einem ohrenbeleidigenden Allegro folgte ein wunderliches Andante, dem eine Coda angehängt war, die kein Ende finden konnte. Höchst lächerlich und doch wieder rührend, dies ausdauernde Suchen und nicht Finden. Endlich beschied sie sich, die Kompositeurin gab die vergeblichen Versuche, ihr Gefühl musikalisch zum Ausdruck zu bringen, auf, und die Sängerin machte sich ans Werk. Ihre junge, noch etwas schrille Stimme erhob sich und schmetterte laut, jubelvoll und begeistert in die Lüfte hinaus:

„Willkommen du neuer, du sonniger Tag,
Du reiner, du heller, pulsierender Schlag
Vom klopfenden Herzen der Zeit!“

Es war aus, fing aber gleich wieder von neuem an. Unermüdlich, mit immer höherem Schwung trug Elika ihr Jubellied vor. Sie ließ sich durch Luisens Eintreten nicht stören, saß da, wie sie aus dem Bette gestiegen war, in einem langen Nachthemde, das ihr bis an die Knöchel reichte, und trat das Pedal mit nackten Füßchen.

„Hör’ nur zu,“ sagte sie, „das ist mir eingefallen gleich beim Erwachen, wie ich gesehen hab’, daß es so schön ist.“

„Das Wetter?“

„Freilich. Gefällt dir mein Lied? … Ja? Nein? Sag’s aufrichtig.“

„Soll ich wirklich? Nun, ich weiß nicht recht; es kommt mir ein bißchen wie ein Unsinn vor. Aber jetzt an deine Toilette, Kind!“

Am Nachmittag kam ganz Velice herüber. Die Tanten mit Frau Heideschmied und Apollonia zu Wagen, Kosel und seine Söhne zu Pferde, Herr Pfarrer und Herr Heideschmied zu Fuße. Man versammelte sich im Salon, dem sogenannten „gemütlichen Prunkgemach“. Für die Gemütlichkeit sorgten die traulichen Kattunschlafröcke der Möbel, den Prunk vertraten die Wände. Als man von ihnen die zerfetzten Tapeten herabgerissen hatte, waren schadhafte, aber schöne Panneaux zum Vorschein gelangt, die sorgfältig aus den Rahmen gelöst, geputzt, geflickt und gestopft wurden. Eine herrliche Winterarbeit, an der die Damen aus Velice und ihre Gefolgschaft sich eifrig beteiligten. Nun erfreute der alte Wandschmuck sich wieder des Tageslichtes. Bescheiden und würdig grüßte er herunter in seinen diskreten Farben, seiner korrekten, braven Zeichnung. Goldene Karossen fuhren, kühne Reiter sprengten vorbei, blauseidene Herren verbeugten sich zierlich vor rosaseidenen Damen unter einem grünlich schimmernden seidenen Himmel. Und die Wölbungen und die Decke zeigten, nachdem sie gehörig gefegt worden und jede Spur der häuslichen Niederlassung auch der letzten Fledermausfamilie weggetilgt war, noch Ueberreste von Freskomalereien. Was sie vorstellten, war aber nicht mehr zu erkennen. – Und das ist gut, dachte Renate, denn es war gewiß etwas Mythologisches.

Liebe alte Renate! Da saß sie jetzt in ihrer Sofaecke, hörte der Schilderung zu, die Luise und Elika von ihrem gestrigen Abenteuer im Walde machten, hatte den großen Arbeitssack vor sich auf dem Tische liegen und hatte ihn noch nicht einmal aufgemacht.

Die Jahre verflogen immer rascher, wie ihr schien, und jedes der leise hineilenden legte ihr eine schwerere Last, unter der ihre einst hohe und tannengerade Gestalt sich immer etwas tiefer, immer etwas schiefer neigte, auf den Rücken. Unaussprechlich sorgenvoll konnte sie manchmal aussehen, so tief bekümmert, daß die Optimistin Charlotte unruhig wurde und wie in diesem Augenblick ihre Hand auf die der Schwester legte und in aufmunterndem Tone fragte:

„Nun, was ist denn?“

„Nichts zum Glück!“ sagte Leopold. „Aber wie war Ihr denn, als der Blitz so nahe von Ihr eingeschlagen hat?“ Wenn er Elika besonders lieb hatte, sprach er immer zu ihr in der dritten Person. Er rückte seinen Sessel in die Nähe des ihren und umschlang dessen Lehne mit wahrer Zärtlichkeit. Franz war auf einem Schemel zu ihren Füßen placiert – die Sitzgelegenheiten des Prunkgemachs reichten für die zahlreiche Gesellschaft nicht aus – und sah mit brummiger Liebe zu der Kleinen hinauf:

„Was hat sie auch auszugehen beim Gewitter! Herr Bornholm hat recht, daß er gefragt hat.“

Nun war der Name des Mannes ausgesprochen, der schon die ganze Zeit hindurch die Gedanken Tante Renatens peinlich beschäftigte. Bornholm, Bornholm! – War der Verkehr mit ihm nun angebahnt zum Unheil für die beiden Jünglinge, die einem schlechten Einfluß vielleicht zugänglicher waren als ihr Bruder Joseph? Sie hatte nun doch zur Strickerei gegriffen, förderte mit bedächtigem Eifer die Vollendung eines ausgezeichneten „Seelenwärmers“ und seufzte einmal ums andere tief auf, denn es war jetzt nur noch die Rede von Bornholm.

„Ich muß ihn sehen! ich gehe zu ihm!“ rief Leopold, und Franz: „Ich gehe mit!“

„Aber junge Herren!“ „Was fällt euch – was fällt Ihnen ein?“ „Aber Kinder, Kinder!“ wurde ihnen fast zugleich von dem Herrn Pfarrer, von Kosel, von Heideschmied und von den alten Tanten erwidert. Die junge Tante aber sprach: „Denkt nicht daran; ihr würdet miserabel empfangen, und von Joseph erfahrt ihr durch Herrn Bornholm nichts. Wenn ihr gesehen hättet, wie er gegen Elika war! … Noch nie ist jemand so widerwärtig gegen sie gewesen.“

Die Röte der Entrüstung stieg Franz in die Wangen: „O je, dieser, dieser … wirklich? und wie denn?“

„Als ob es lächerlich und vorwitzig wäre, daß sie nach ihrem Bruder fragt: ‚Wissen Sie das nicht?‘ ‚Das wissen Sie ohnehin?‘ ‚Schreibt er Ihnen denn nicht?‘ – das waren seine Antworten. Die Kleine ist aber auch bös’ geworden. Nach dem Gewitter am Himmel gab’s eines in einem Fingerhut.“

Sie erzählte von dem Zorn Elikas, und die Damen schüttelten die Köpfe, Apollonia schlug die Hände zusammen und murmelte: „Nein, das Kind!“

Der Herr Pfarrer jedoch erhob drohend den Finger: „Ei, ei, Fräulein Elika, wo ist da die Geduld geblieben, die weibliche Sanftmut?“

Die Kleine hatte bis jetzt geschwiegen, ein lammfrommes Gesicht gemacht und nachdenklich vor sich hingesehen. Langsam erhob sie nun ihren Blick zu dem geistlichen Herrn und sprach inständig flehend: „O, Herr Pfarrer, erbarmen Sie sich seiner, gehen Sie zu ihm!“

„Was?“ „Wer?“ „Wohin?“ erscholl’s im Kreise.

„Ich? Was soll ich bei ihm?“ fragte der Priester und Leopold sprach:

„Er ist ja ein Atheist.“

Renate ließ ein warnendes „Pst!“ vernehmen, von einem Augenwink begleitet, den leider Elika bemerkte. Ein sogleich unterdrücktes Lächeln glitt über ihre Lippen.

„Auf alle Fälle ist Bornholm ein Protestant,“ sagte Kosel.

„Das macht nichts, Papa, trotzdem könnte der Herr Pfarrer ihm doch zureden, ein besserer Mensch zu werden und gut gegen die Verwandten von seinem Freund; denn Joseph ist sein Freund.“

Alle sahen einander erstaunt an. Leopold hatte einen seiner gewohnten Heiterkeitsanfälle:

„Ich sag’s ja, unsere arme Kleine, ein Engel, ein purer Geist!… Und daß der Bornholm so grob mit Ihr war, ärgert Sie gar nicht?“

„O ja! es hat mich ja geärgert, ich bin ja zornig gewesen.“

„Ihr Zorn! Wenn Sie zornig ist, das ist, wie wenn ein andrer am freundlichsten und liebsten ist.“ Ihre Brüder behaupteten, Apollonia bestätigte es, und sie kannte das Kind, von seinem ersten Atemzug an kannte sie’s.

Elika heimste das Lob ohne Vergnügen ein und lehnte es endlich ganz ab. „Wer weiß, wer weiß, ob du mich kennst,“ meinte sie und ließ Poli reden, und behelligte den Herrn Pfarrer von neuem mit ihrer Bitte, diesem Bornholm geistlichen Zuspruch zu gewähren, und von neuem bemerkte Kosel, daß Bornholm „auf jeden Fall“ ein Protestant sei. Auch die übrigen sagten etwas, sogar die vorsichtige Frau Heideschmied placierte ihr „petit mot“. Jeder und jede wiederholte sich mit Ausdauer und die Konversation wurde ein gesprochenes Ringelspiel.

Franz brachte zuerst Abwechslung in die Sache, indem er [391] laut ausrief: „Und ich gehe hin und nehm’ den Monsieur Bornholm bei den Ohren, damit er lernt artig sein.“

„O weh!“ seufzte Renate, „da haben wir schon südaustralische Sitten!“

„Monsieur Bornholm! Wenn er einen Herrn nicht mag, nennt er ihn Monsieur,“ sagte Elika vorwurfsvoll und sah schwer bekümmert aus. Franz war unzufrieden mit ihr und mit sich und dem feinfühligen Heideschmied dankbar, als der zu ihm trat, ihm auf die Schulter tippte und zum Haken gekrümmt leise sprach:

„Kommt mir nicht vor, lieber Franz, daß Sie beabsichtigten, sich heute noch mit Mathematik zu beschäftigen?“

„Es wird Ihnen schon so vorgekommen sein und mir auch,“ erwiderte der Jüngling und sprang auf. „Also adieu!“

Leopold, der ihn begleiten wollte, empfahl sich ebenfalls. Die Gesellschaft ging wie sie gekommen war, partienweise. Das Behagen war längst entwichen. Etwas peinlich Bedrückendes, das alle empfanden, lag in der Luft. Erst im Wagen wurde der Tante Charlotte wieder wohl.

„Welche Atmosphäre dort oben!“ sagte sie. „Ganz voll von Stoff zu drohenden Streitigkeiten. Kommt über den fünften Weltteil aus Valahora dahergeweht. Wirklich unangenehm!“


Herr von Kosel war noch da. Er machte manchmal nur deshalb unmäßig lange Besuche, weil er vergaß, fortzugehen. Nun wurde er durch seine Tochter erinnert, daß es Zeit sei, aufzubrechen.

„Willst du mir erlauben, noch ein bißchen bei dir zu bleiben?“ fragte sie. „Ich führe die Meta, ich thue das so gern, und wir sprechen zusammen, du und ich. Luise muß in die Wirtschaft und ist froh, wenn sie Ruhe hat.“

Sie holten Meta aus der Meierei ab, wo sie eingestellt worden war. Kosel warf ihr den Zaum über den Kopf, und Elika nahm ihn und führte das schöne Tier, das hinter ihr herging wie ein gehorsamer Hund. Sie wendete sich oft um, küßte es auf die Nüstern und versicherte es ihrer Liebe. Dazwischen sagte sie auf einmal langsam und bedächtig:

„Der Herr Pfarrer wird also nicht zu Herrn Bornholm gehen.“

„Es ist schwer – es ist wohl schwer – weil doch …“

„Denk nur, Papa,“ unterbrach sie ihn, mit einem leichten, entschuldigenden Neigen des Kopfes, „was Bartolomäus mir gesagt hat, wie er mich nach Hause getragen hat: Herr Bornholm bleibt den ganzen Winter in Valahora.“

„Ach geh! den ganzen Winter; was wird er denn den ganzen Winter in Valahora bleiben!“

„Er will Sammlungen ordnen für Museen“ – sie lachte: „Bartolomäus sagt, ‚Musen‘ in Schweden oder in Norwegen, oder wo. Es sind schon viele Kisten gekommen und Joseph schickt noch viele nach mit Waffen und Pflanzen, Mineralien und Gerätschaften …“

„Mineralien und Gerätschaften.“ Kosel blieb stehen, dachte nach und richtete seine Augen fragend auf die Kleine:

„Wie sie wohl verpackt sein werden, die Mineralien und Gerätschaften? Gut verpackt werden sie wohl sein?“

„In Zeitungen,“ erwiderte Elika, die Gedanken ihres Vaters erratend – o nur zu recht hatte Apollonia, sie eine Hellseherin zu nennen! – „Ganz gewiß erscheinen in Australien eine Masse Zeitungen.“

„Eine Masse. Soviel ich weiß, in Sidney allein fünf große Blätter. Was der ‚Sidney Morning Herald‘ für eine Zeitung ist! und ‚Echo‘, ‚Daily‘ … und die Wochenschriften und die Monatsrevuen. Einzelne Nummern sind da, Joseph schickt ja einiges, aber der Zusammenhang fehlt und alle Zeitungen kann man nicht halten. Denk nur, die Masse!“

„Herr Bornholm ist gewiß auf einige abonniert, glaubst du nicht, Papa? … Aber pfui, Meta!“ Sie wendete sich und gab dem Pferde einen Klaps auf das Maul. „Was thust du, dumme Alte? Schau nur, Papa, sie knuspert an meinem Hut herum, die dumme, liebe, alte Gans!“

„Die alte Gans,“ wiederholte Kosel mechanisch, und dabei ging sein Geist seine eigenen Wege, oder stand vielmehr still und wurzelte sich fest ein. „Er muß wohl Zeitungen halten. Es ist nicht anders möglich. Ein Wollhändler! ‚Daily Shipping Gazette‘ muß er halten.“

„Schau nur! … Wenn wir im Verkehr mit ihm wären, könnten wir uns bei ihm alle Zeitungen ausleihen, die er hält. Willst du nicht in Verkehr mit ihm treten, Papa? Gieb Ruh’, Meta – gieb Ruh’, Alte! … Nachbarn sind wir einmal, der Herr Pfarrer geht nicht zu ihm. Schau, Papa, ich glaube, du solltest zu ihm gehen.“

– „Ja,“ versetzte Kosel, und seine Augen hatten ein so schönes Blau und eine so liebliche Freundlichkeit wie der wolkenlose Himmel, „es ist nicht anders möglich ‚Daily Shipping Gazette‘ wird er halten müssen.“

Elika ließ sich durch diese Zwischenrede keinen Augenblick irre machen:

„Geh zu ihm, Papa, mache mir die Freude! Ich sage dir auch, warum es mir eine Freude machen würde. Ich habe mit Bartolomäus gesprochen, gestern, du weißt, und ihm gesagt: ‚Ihr habt einen bösen Herrn.‘ – ‚Is bös,‘ hat er geantwortet, ‚hat niemand ihn gern.‘ – ‚Habt auch Ihr ihn nicht gern, Bartolomäus?‘ – ‚Ich nicht, is bös‘. Ich frag’ ihn weiter, recht aufs Gewissen: ‚Was thut er Ihnen denn böses?‘ ‚Kommandierte,‘ kommt heraus. Er kommandiert! ja, das verträgt der alte Bartolomäus nicht. Er will allein Herr sein in Valahora. Denk’ nur, Papa, ist das nicht traurig, in seinem eigenen Hause als Eindringling betrachtet werden? Einen einzigen alten Diener haben und von ihm angefeindet zu werden? Denk nur, wie viele Menschen haben uns lieb und ihn niemand. Wie arm ist man, wenn einen niemand lieb hat. Nicht einmal seine Hunde mögen ihn, die hat Bartolomäus, glaube ich, schon darauf dressiert. Man erkennt das gleich, daß sie nur Furcht vor ihm haben … Vor dem Einschlafen ist mir das alles eingefallen … und auch einmal in der Nacht, wie ich aufgewacht bin … und weißt du, was ich gethan habe? Geweint hab’ ich. Ein Mensch, den niemand mag – das ist zu traurig, man kann gar nicht begreifen, wie traurig das ist. Und ich habe mir vorgenommen, über einen so Armen ärgerst du dich nie mehr, und du thust ihm etwas Gutes, du schickst den Herrn Pfarrer oder den Papa zu ihm.“ Sie lehnte den Kopf schmeichelnd an seinen Arm. „Papa, wirst du zu ihm gehn?“

„Ich?“ sprach Kosel wie erwachend, „zu wem?“

„Zu Herrn Bornholm.“

„Zu Herrn Bornholm, ja so.“

„Der die australischen Zeitungen hat, und der“ – ihre Augen leuchteten, ihre Stimme zitterte leise – „und der der Freund unseres Joseph ist.“

Sie hatte halb und halb das Bewußtsein gehabt, daß sie ein Selbstgespräch führe, und doch nicht zu reden aufgehört. Die feste Zuversicht beseelte sie, daß eines oder das andere ihrer Worte den Nebel der Zerstreutheit durchbrechen werde, in dem ihr Vater zu wandeln pflegte.

Nun waren sie am Fuß der Anhöhe angelangt, von der aus man noch hinab nach Vrobek und schon hinauf nach Valahora sehen konnte.

„Unseres Joseph,“ wiederholte Kosel, „ja, ja – unseres Joseph,“ und hatte nun auf einmal ein merkwürdig wehmütiges Lächeln und etwas in seinem Blick, das sein kleines Mädchen umschmeichelte wie eine Liebkosung: „Kränk’ dich nicht, das ist nicht gut für dich.“ Er brachte die Zügel des Pferdes in Ordnung und stieg in den Sattel. „Ja, aber die Tante – wo die ist –“

„Euch nachgegangen ist sie,“ antwortete Luise selbst, „und hat euch eingeholt. Es war nicht schwer, ihr seid alle fingerlang stehen geblieben.“

Man nahm Abschied. Kosel ritt in kurzem Galopp die Anhöhe hinauf und bog dann links in den Wald ein. Die beiden Fräulein hatten ihm nachgesehen.

„Wohin denn?“ fragte Luise.

„Nach Valahora.“

„Das hast du durchgesetzt, Kleine. Was soll dabei herauskommen?“

„Was Gutes.“ Sie schlang den Arm um die Taille der Tante, und sie schritten auf dem Feldweg längs der Kastanienallee [392] dem Sonnenuntergang entgegen. Blendend und strahlensprühend versank das Tagesgestirn hinter der fast geraden Linie, die von den fernen Karpathen am Horizont gebildet wurde. Elika hatte einen Augenblick hingesehen. „So sterben!“ rief sie.

„Das hat sich schon Karl Moor gewünscht. Mir wär’ lieb, wenn mein Liebling lieber nicht vom Sterben spräche,“ versetzte Luise und legte auf die Silbe „lieb“ jedesmal besonderen Nachdruck.

„Ist’s nicht besser, als wenn ich euch eine Ueberraschung mache mit meinem Tode? So seid ihr wenigstens vorbereitet.“ Elika sagte das scherzend, es war aber sehr ernst gemeint. „Es ist schön, früh zu sterben, und am schönsten, wenn noch so früh, doch schon nach einer gelösten Aufgabe.“

„Das gewiß. Aber hör’ mich an, laß uns jetzt vernünftig sein und pedantisch zum Entsetzen. Pro primo: Warum glaubst du denn, daß du früh sterben wirst?“

Elika wurde durch diese Frage in große Verwunderung versetzt. „Alle glauben’s doch,“ erwiderte sie gedehnt, „und ich – ich, weißt du, ich weiß es.“

„So? Wieso weißt du’s?“

„O – ich bekomme manchmal solche Stiche im Kopf, und Herzklopfen hab’ ich auch, und ohnmächtig bin ich schon zweimal geworden. Und Frau Heideschmied hat gewimmert: ‚Elle se meurt!‘“

„Mit ‚pro primo‘ wären wir im reinen. Jetzt kommt pro secundo. Was ist das für eine Aufgabe, die du vor deinem Tode noch lösen willst? Antworte, sei nicht beleidigt!“

„Du lachst mich aus.“

„Kind, geliebtes, wie fern liegt mir das! Und du wärst stumpfsinnig, wenn du’s nicht wüßtest. Also: Heraus mit der Sprache! Die Aufgabe –“

„Die Aufgabe ist,“ sagte Elika und schmiegte sich in warm aufwallender Zärtlichkeit an Luise: „einen bösen Menschen zu einem guten machen.“

„Aha – den dort oben. Ich staune, daß du an den Halbwilden noch denkst.“

„Weil er jetzt fort ist von dem einzigen, der ihn mag. Weil ich noch nie einen Menschen gesehen habe, den niemand mag. Wenn man etwas ganz Neues sieht, bildet man sich allerlei ein. Das thut doch jeder.“

„Glaubst du. Ich weiß es nicht aus Erfahrung.“

Elika zuckte ihre magern Achseln: „Bei mir ist es so. Und von Herrn Bornholm bilde ich mir jetzt ein: Der geht in einer Verkleidung. Nicht zufleiß, er kann vielleicht nichts dafür, er ist vielleicht ein Verwunschener, wie die in den Märchen, die ich als Kind so gern gelesen habe. In einem Ungeheuer, einem Bären, einem Delphin steckt ein ganz schöner netter Prinz … Am Ende steckt in der groben Hülle des Herrn Bornholm ein guter Mensch.“

„So lös’ ihn aus, aus der Hülle, versuch’s! Sei die Fee mit dem Zauberstabe, die ihm seine wahre Gestalt wiedergiebt!“

„Ich kann das nicht. Das könntest eher du. Ja, ja, an dir liegt ihm, ich hab’s bemerkt – lache, wenn’s dich freut – ich hab’s bemerkt,“ wiederholte sie eindringlich und setzte nach kurzer Ueberlegung rasch und brüsk hinzu: „Und deinen Schirm hat er auch gebracht.“

„Was dir einfällt! Bornholm?“

„Bornholm.“

„Höchst unwahrscheinlich. Er hätte den Schirm gestern so leicht fangen können und hat nicht einmal die Hand nach ihm ausgestreckt.“

„Dafür hat er heute einen Biß bekommen von seinem Gewissen.“ Sie machte eine komisch altkluge Miene: „Seine Motive durchschaue ich nicht, aber den Schirm hat er gebracht.“

„Hellseherei,“ erwiderte Luise. „Als Hellseherin brauchst du dich übrigens um Motive gar nicht zu kümmern.“

„Es war keine Hell-, es war eine ganz ordinäre Seherei.“

Elika nahm wieder Luisens Arm und sprach zutraulich: „Ich war früher auf als du, ich bin zum Fenster gegangen und habe durch die Jalousien nach dem Wetter ausgeguckt. Da habe ich ihn gesehn. Er hat am Gitter gerüttelt, und wie er merkt, daß zugesperrt ist, steigt er drüber, kommt her, lehnt den Schirm an die Mauer und geht wieder. Das ist das Ganze. Glaubst du’s jetzt?“

„Ja – wenn du es sagst, glaub’ ich auch das Unglaubliche.“

[422] Felix Kosel war ein vorzüglicher Reiter, der sich nicht leicht durch die Laune eines Pferdes überraschen, nicht leicht aus dem Sattel bringen ließ. Im Hof von Valahora wäre er aber bei einem Haar auf das elende, aus spitzen und eckigen Steinen bestehende Pflaster niedergesaust. Die großen und die kleinen Hunde sprangen Meta von allen Seiten an, und die sanfte, vernünftige Stute stieg empört in die Höhe und feuerte aus, daß die Funken stoben. Kosel, der wie gewöhnlich vergessen hatte, seine Reitpeitsche mitzunehmen, konnte dem Hundevolk gegenüber keine andere Waffe gebrauchen als zur Ruhe ermahnende Worte und Winke. Das Geheul der vierbeinigen Burgwächter rief endlich den zweibeinigen herbei. Bartolomäus trat aus der Thür seiner ebenerdigen Wohnung, pfiff dem Hundevolk, kam auf Kosel zu und beantwortete seine Frage, ob Herr Bornholm zu sprechen sei, verneinend.

„Nicht zu sprechen? Ja so,“ murmelte Kosel und versank in Gedanken. Nach einer Weile raffte er sich auf, wiederholte: „Nicht zu sprechen“, und ritt heim und konnte kein Ende finden mit der Beschreibung seines merkwürdigen Erlebnisses. Er war in Valahora gewesen, ja drüben in Valahora, hatte Herrn Bornholm besuchen wollen, ja er, und Herr Bornholm hatte sagen lassen, daß er nicht zu sprechen sei. Das ist doch keine Manier. Wie?

Alle mußten zugeben, daß es keine Manier sei.

Dafür aber am nächsten Vormittage, welche Ueberraschung! Bornholm ließ sich bei Herrn von Kosel melden, wurde – vor lauter Ueberraschung – empfangen und sogar ziemlich freundlich. Er fand den Herrn von Velice umkreist von Rauchwolken, die seinem Tschibuk entstiegen, inmitten eines Ringgebirges von Zeitungen. Kosel stand auf und reichte ihm die Hand.

„Sie sehen, daß ich da Zeitungen ordne,“ sprach er.

„Ja,“ erwiderte Bornholm. „Und ich komme, um Ihnen zu sagen, daß ich sehr bedaure, Ihren Besuch versäumt zu haben. Ich war nicht zu Hause.“

„Sie waren nicht zu Hause? Ja das, das ist etwas andres. Das ist ja etwas andres.“ Und nun stieg er über das Gebirge, an der Stelle, wo es am niedersten war, und lud Bornholm ein, auf einem der großen Fauteuils Platz zu nehmen: „Ich ordne da einige Zeitungen, heute kommt der Buchbinder. Also. Sie sind gestern nicht zu Hause gewesen. Ich habe Sie besuchen wollen.“

„Sie wünschten Nachrichten von Ihrem Sohn zu erhalten,“ sagte Bornholm, „ich kann Ihnen die besten geben. Er verträgt das Klima, die Strapazen, ist der Leiter der Station. Ich bin nur noch ein Bummler.“

Kosel trug ihm eine Cigarre an, er wies sie fast mit Ekel zurück, er rauche nicht mehr.

„Nicht mehr? wieso, wie kommt das?“

„Wahrscheinlich habe ich mich überraucht.“

„Ueberraucht; ein gutes Wort, ich habe es noch nie gehört und auch noch nicht gelesen und man liest in Zeitschriften doch oft neue Worte. Halten Sie Freemans Journal? Es ist berühmt.“

„Joseph liest es.“

„Ja, der Joseph! Er wird doch auch einmal ans Nachhausekommen denken müssen. Ewig geht das nicht so! Eine große Reise hat er jetzt auch gemacht. Wo waren Sie also mit ihm?“

Levin hatte mehr Geduld mit seinem nicht sehr aufmerksamen Zuhörer, als er mit Elika gehabt hatte, die gar zu gern eine aufmerksame Zuhörerin gewesen wäre. Er beantwortete Kosels Fragen ziemlich ausführlich und sprach dann von seiner Absicht, den Winter in Valahora zuzubringen, und von der Notwendigkeit, sich in seinem Raubneste ein wenig einzurichten. Auch ein Pferd mußte er haben und hatte erfahren, daß Herr von Kosel eines der seinen verkaufen wolle. – Verkaufen, ein Pferd? Das war Herrn von Kosel neu. Soviel er wußte, dachte er nicht daran, ein Pferd zu verkaufen. Wirklich dachte er in dem Augenblick an nichts anderes als an Freemans Journal. Levin betrachtete ihn mit Geringschätzung. Was für ein Hohlkopf; und was für vage Augen er hat! In die kommt wohl niemals ein Ausdruck. Nun – das war ein Irrtum, der, kaum entstanden, widerlegt wurde.

Aus den „vagen“ Augen Kosels, der Levin gegenüber saß, mit dem Gesichte der Thür zugekehrt, leuchtete plötzlich etwas Liebes, Gutes. Es verflog bald wieder, aber es war doch dagewesen, hatte diese schönen, nichtssagenden Züge belebt.

„Aha, oho, die Kleine!“ sagte er.

Levin wendete sich: auf der Schwelle, unter der zurückgeschlagenen Portiere stand Elika.

Sie machte einen kurzen Knicks, ging auf ihren Vater zu, umarmte ihn und sprach: „Ich bin schon einige Minuten da und jetzt erst siehst du mich. Herr Bornholm meint den Hansl.“

„Wie – was – den Hansl?“

„Herr Bornholm wird gehört haben, daß du ihn weggeben willst.“

„Ja so, den Hansl, ja den! Aber Herr Bornholm braucht ein Reitpferd, und der Hansl läßt sich nicht reiten; du weißt ja.“

„Warum?“ fragte Levin und Elika erwiderte:

„Er ist zu bös.“

„Kein Tier ist bös, kein vernunftloses Wesen ist bös.“

„Dann thut der Hansl nur dergleichen, aber so schrecklich natürlich, daß es ihm jeder glaubt.“ Sie lachte, geriet aber sogleich in Verlegenheit darüber, daß sie gelacht hatte, umarmte ihren Vater noch einmal und nahm Platz auf der breiten Lehne seines Fauteuils, wie auf einem Damensattel. Einer ihrer Füße kam in seinem hellbraunen Schuh unter dem Saume des weißen Kleides zum Vorschein, fein gefesselt, fast lächerlich schmal, und so waren auch die Hände, die sie nachlässig um das hinaufgezogene Knie schlang. Ihr einfaches Matrosenhütchen hatte sie in den Nacken geschoben, ihre etwas zu hohe Stirn war ganz frei, ihre feinen Haare, sehr dicht geworden, ringelten sich nicht mehr. Sie wurden zurückgekämmt und in einen Zopf geflochten, der ihr über den Rücken hing. Wunderhübsch angewachsen waren diese feinen, an den Wurzeln fast weißen Haare und bildeten da, wie sich aufbäumend, einen schimmernden Bogen um die Stirn und die Schläfen. Elika fing an, ihrer schönen Mutter ähnlich zu sehn, und doch konnte man sie nicht einmal hübsch nennen, mit ihrem blassen Gesichtchen und ihren blassen Augen. Was anzog, was gefiel, das war ihre Anmut, ihr um Liebe werbendes Wesen.

Das Gespräch drehte sich noch immer um Hansl, der den Reitknecht, einen jungen verwegenen Burschen und vorzüglichen Reiter, so oft abgeworfen hatte …

„Vierzehnmal,“ fiel Elika ihrem Vater ins Wort, „bis der Papa ihm verboten hat, wieder aufzusteigen. Und jetzt soll der Hansl eingespannt werden, aber der Kutscher Vincenz sagt, das geht auch nicht. Und das ist so schad’, denn der Hansl ist schön und jung und fehlerfrei.“

Sie seufzte und jeder andere hätte ihre Wichtigthuerei drollig gefunden, Bornholm fand sie aber unausstehlich und dachte: Jetzt spielt sie sich gar auf die Pferdekennerin.

„Ist Hansl wirklich fehlerfrei?“ fragte er Herrn von Kosel über die Kleine hinweg, und der Blick, mit dem er sie dabei streifte, war alles eher als wohlwollend.

Die sonst so leicht Verletzte zeigte nicht eine Spur von Empfindlichkeit. Nur eine leise Traurigkeit dämmerte in ihren Augen, und der kluge, ausdrucksreiche Mund, der Klang ihrer Stimme, jede ihrer Bewegungen verrieten stille Ergebung ins Unvermeidliche, und ein Versichern, ein inniges Beteuern: Kränke mich so viel du willst – ich verzeihe.

„Fehlerfrei – also gekauft,“ lautete das letzte Wort, das Bornholm am Ende der Beratung, die sich nun entsponnen hatte, sprach: „Ich lasse das Pferd morgen abholen.“ Er stand auf und auch Kosel erhob sich.

„Oho! Sehen müssen Sie es früher doch.“ Er war ganz aufgekratzt und ungewöhnlich geistig beisammen, die Gegenwart des Australiers wirkte außerordentlich belebend auf ihn. „Die Katz’ im Sack darf man nicht kaufen.“

„Kommt auf den Verkäufer an,“ erwiderte Levin, und Elika traute ihren Ohren nicht – das war ja eine Art Kompliment, zum mindesten eine Höflichkeit. – „Aber wenn Sie wollen, sehen wir ihn an.“

[423] Auf dem Wege durch den Garten zu den Stallungen trafen sie die ganze Familie in Begleitung des Herrn Pfarrers. Luise kam ihrem Vetter entgegen, und ihr Anblick machte ihm das Vergnügen, das man empfindet, wenn einem ein Licht aufgeht:

„Ja so, du bist da, ich habe nicht gewußt, wieso sie hergekommen ist, die Kleine.“

Bornholm wurde den Alten, die Jungen wurden ihm vorgestellt, und die Gesellschaft machte sich auf zum Besuche Hansls.


Die Pferde in Velice führten ein beneidenswertes Dasein. Sie waren vortrefflich untergebracht, genährt, gewartet. Sie verdienten aber auch ihr Glück, alle ohne Ausnahme, die Wagen- und die Reitpferde, die Siebzehnfäustigen und die Ponies, lauter edle, feurige und leutselige, menschenfreundliche Tiere. Ihr freudiges Gewieher und Gestampfe begrüßte die Eintretenden, besonders ihre junge Gebieterin und ihre jungen Gebieter, von denen sie mit Lob und Liebesbeteuerungen überschüttet wurden. Hansl blieb stumm und regungslos in seiner Ecke. Er war isoliert; links von ihm die Mauer, rechts drei leere Stände. Man schien zu fürchten, daß seine Nähe der Bravheit seiner Kameraden Gefahr bringen könnte.

Kosel befahl, ihn herauszuführen, auf den mit Lohe bestreuten Longierplatz vor den Stallungen. Dahin begab man sich, und der immer galante Leopold brachte Stühle für die Damen.

Schon unter der Thür leistete Hansl den ersten Widerstand, spreizte die Vorderbeine und schlug gewaltig aus.

„Wie ein gemeiner Wald- und Wiesenesel,“ sagte Leopold, aber Bornholm erwiderte:

„Nein, er ist schön.“

Knallende Peitschenhiebe, die ein hinter dem Unband Stehender ihm versetzte, trieben ihn vorwärts. Da war er. Ein Kohlfuchs ohne Abzeichen, etwas hochbeinig, mit breiter Brust, prachtvollem Hals und Kreuz und ziemlich plumpem Kopf, den er in die Höhe hob, um mit Verachtung, mit heißem ingrimmigen Haß auf die Menschen, die Peiniger, herabzuschauen. Er schüttelte sich, blies die Nüstern auf und stieß einen scharfen, bedrohlichen Laut, mehr ein Schreien als ein Wiehern, aus. Eines seiner großen, rotunterlaufenen Augen war geschwollen und blutrünstig, die Haut mit Striemen getigert. Scharfe Sporen hatten ihm die Flanken zerwühlt; einmal ums andere durchlief ein kurzes, nervöses Zucken seinen mißhandelten Leib.

Luise stand hinter dem Stuhle der Tante Renate, und einige Schritte weit von ihr, zwischen Kosel und Leopold, Levin Bornholm. Sie wußte selbst nicht, warum sie gerade jetzt zu ihm hinsehen mußte; vielleicht weil auch seine Augen sich auf sie gerichtet hatten. Aus seinem Gesichte sprach eine so mühsam zurückgehaltene zornige Entrüstung, daß sie erschrak. Und doch schien ihr, als sei in seinem Blicke etwas gewesen, das ihr dankte. Sie hatten, jedes in seiner Weise, dieselbe Empfindung gehabt, und sie wußten es.

Dicht hinter Hansl war der Kutscher gekommen, schwang die Peitsche und brachte einen Nasenring herbei; zwei Stallpagen mit Bändigungswerkzeugen folgten ihm. Es war kein kleines Kunststück, das der Reitknecht zustande brachte, indem es ihm gelang, Hansl, der bockte, schlug und biß, festzuhalten, ohne von ihm verletzt zu werden.

„Hohla! oh – la!“ schrie der Kutscher und näherte sich mit der Bremse.

„Warum denn? Wozu ein Folterinstrument?“ fragte Bornholm, trat hinzu und griff nach den Zügeln. Hansl schnaubte ihn an; da war wieder einer, ein Mensch, also ein Feind, und der bekam seinen Willkommsgruß. Ehe Levin sich’s versah, schnappte das Tier nach ihm und grub ihm die breiten Zähne in den Arm. Er gab kein Zeichen des Schmerzes und ein ermahnendes: „Aber pfui!“ war alles, was er sagte. Drüben hatten alle aufgeschrieen, die Männer stürzten herbei, drohend, Peitschen und Stöcke schwingend, und riefen durcheinander:

„Untier das!“ „Gebissen!“ „Die Schulter ist weg!“ „Nein, der Ellbogen“ …

Bornholm winkte eifrig ab: „’s ist nichts! Fortbleiben! … Ich bitte!“ Die Stallleute aber fuhr er an: „Nicht anrühren! Das Pferd ist mein!“

Ja so! Ja – da gratulierten sie zu dem Besitze, sie waren froh, ihn los zu sein.

Hansl hatte den neuen Bändiger angestarrt, als warte er auf die unausbleiblichen Folgen seiner Unthat. Sie stellten sich nicht ein, und das überraschte, beängstigte ihn, machte ihn doppelt argwöhnisch. Je länger sie überlegen, die Menschen, um so Schlimmeres führen sie dann aus.

Ein langer Kampf begann, der Kampf zwischen Stützigkeit, Bosheit, Tücke und unermüdlicher Geduld. Das ordinäre Publikum lachte und freute sich über jeden gescheiterten Versuch Levins, dem scheuen Tier Zutrauen einzuflößen, das feine Publikum war voll Interesse und endlich voll Bewunderung. Heideschmied fühlte sich sogar begeistert.

„Sehen Hochwürden nur hin,“ flüsterte er dem Herrn Pfarrer zu, „je schwieriger der Schüler, je langmütiger der Lehrer; ich glaube seine Liebe zu dem Wildling wächst mit jeder Unbill, die er von ihm erfährt.“

„Ich kann mir ungefähr denken, was in ihm vorgeht – er sieht vielleicht sich selbst in dem Verstoßenen und Verfemten da, dem man – es ist ja möglich – manchen Fehler – eingeprügelt hat,“ erwiderte der geistliche Herr.

Mit seinem: „’s ist nichts“, hatte Levin übrigens unrecht gehabt. Es war etwas, und sein Arm mußte ihm gewaltig weh thun. Man sah, wie sehr er litt. Schweißtropfen, vom Schmerz erpreßt, standen ihm auf der Stirn, gelblichweiße Ränder bildeten sich um seine sonnverbrannten Wangen.

Doch hatte er etwas erreicht. Hansl ließ sich ohne allzu heftigen Widerstand dreimal nacheinander um den Longierplatz führen. „Jetzt empfehlen wir uns,“ sagte Bornholm. „Ich nehm’ ihn gleich mit.“

Weder Kosel noch seine Söhne wollten das zugeben. Er durfte ihn nicht selbst nach Hause führen mit seinem verletzten Arm, es ging durchaus nicht. Levin blieb allen Einwendungen gegenüber unerschütterlich, und die seine Geduld am meisten bewundert hatten, bedauerten auch am meisten seinen Eigensinn.

„Geduldig wie ein Heiliger und eigensinnig wie ein Bock,“ sprach Charlotte zu ihrer Schwester und machte sich gleich darauf die größten Skrupel – Bornholm konnte ihre halblaut hervorgestoßenen Worte gehört haben. Wenigstens war ihr, als ob er sie spöttisch anlächle. Ein kurzer Gruß und er ging hin mit seinem Pferd an der Hand. Ein Verwundeter, der einen Gefolterten führte. So lange er noch in Sicht blieb, rührte sich niemand, als er aber das Parkthor erreicht hatte, liefen Leopold und Franz, demselben Impulse folgend, ihm nach.

Bald darauf kehrten sie zurück und brachten die Nachricht, daß er glücklich in Valahora eingetroffen sei mit seiner zweifelhaften Acquisition.

Elika hatte die Zeit über lautlos in höchster Spannung dagesessen. Als Bornholm von Hansl gebissen wnrde, war sie so blaß geworden, daß Frau Heideschmied ihren Angstschrei „Elle se meurt!“ mit Mühe unterdrückte. Als aber Levin die ersten kleinen Siege über den Unbändigen errang, schwellte beseligender Stolz ihr Herz. Sie sah um sich, und ihre Blicke fragten: Was sagt ihr nun?

Als Bornholm fort war, langweilte sie die guten Tanten, weil sie nur von ihm sprach, und sie wieder fand es unbegreiflich, daß man heute an etwas andres denken könne. So gestaltete sich der Morgenbesuch in Velice recht unerquicklich. Zu Mittag ließ Kosel einspannen und Luise und Elika fuhren nach Hause. Es war früher noch bestimmt worden, daß der Urlaub der Kleinen in zwei Tagen aus sein solle. Sie mußte ihre Beschäftigungen wieder aufnehmen. Studien sagte man nicht. Für Renate hatte das Wort einen unweiblichen Beigeschmack, Charlotte fand es protzig. Mehr als vier Stunden täglich wurde Elika nicht am Lehrtisch festgehalten durch den Herrn Pfarrer und durch das Ehepaar Heideschmied. Guten soliden Musikunterricht erteilte ihr der neue Schullehrer; der alte war unter vielen Ehrungen zum Oberlehrer an eine andere größere Schule befördert worden, man sprach von seiner bevorstehenden Erwählung zum Landtagsabgeordneten.

Während der Rückfahrt bewahrte Elika anfangs tiefes Schweigen und brach es erst, als man an Valahora vorüberkam: „Dort ist der Arme und hat gewiß schreckliche Schmerzen und niemand kümmert sich um ihn.“ Es erschien ihr wie eine Fügung des Himmels, daß sie unterwegs den Doktor einholten, der immer [424] mit Vorliebe auf der breiten Straße blieb und die Feldpfade und -steige „wegen leichten Ausrutschens“ mied. Er ging langsam, der alte, kurze, dicke Herr. Die Brusttaschen seines dunklen Tuchrockes waren mit Medikamenten so vollgestopft, daß sie ein ansehnliches Vorgebirge bildeten.

„Halt, Vincenz, halt!“ rief Elika. „Wohin, lieber Herr Doktor?“

Er hatte sich und seine Ladung vor den herantrabenden Pferden, in den Straßengraben gerettet, grüßte, indem er den Zeigefinger der Rechten an die Krempe des umfangreichen Lodenhutes legte, und erwiderte: „Nach Vrobek. Hab’ dort einige Kranke.“

O wie herrlich sich das traf! dann konnte ja der Herr Doktor jetzt mitfahren, den Wagen in Vrobek warten lassen und auch zur Rückfahrt benutzen. Elika setzte sich untenan aufs „Bänkchen“ und überließ ihren Platz dem Doktor. Er stieg mit Vergnügen ein; seit einiger Zeit wurde das Gehen ihm schwer. Nur placierte er sich, um nicht indiskret viel Raum einzunehmen, ganz schief und ließ einen Fuß auf dem Tritte stehen. Von einem Wartenlassen der „herrschaftlichen Equipage“ wollte er nichts hören, das konnte er nicht verantworten, es würde zu lange dauern.

„Wie lange, Doktor?“ fragte Elika.

„Eine Stunde gewiß.“

Sie seufzte tief: „Lange, sehr lange! Aber das Wetter ist schön und Vincenz und die Pferde sind gern im Freien. Also, lieber Herr Doktor, lassen Sie“ – abermals stieß Elika einen tiefen Seufzer aus – „lang’ warten, dann aber haben Sie die einzige, die große Güte – besuchen Sie auf dem Rückwege einen Patienten …“

„Keine Güte, liebes kleines Fräulein, Schuldigkeit! Wo befindet sich der Patient?“

„In Valahora. Es ist Herr Bornholm.“

Der Doktor war zusammengefahren, daß die Fläschchen und Büchsen in seinen Taschen schepperten: „Was denken Sie, kleines Fräulein? Zu Herrn Bornholm?“ – –

„Der Hansl hat ihn gebissen, ganz schrecklich.“

„Habe davon gehört, bedaure, kann nicht helfen.“

„Doktor! … So arg ist’s, daß man nicht mehr helfen kann!“ In Bestürzung hatte sie es ausgerufen und griff mit beiden Händen nach seiner Hand.

„Aber Elika! so ist’s nicht gemeint.“

„Aber liebes kleines Fräulein, so mein’ ich’s nicht!“ riefen zugleich Luise und der Doktor. Das eintönig ziegelfarbige Gesicht des alten Mannes rötete sich dunkler, die braunen Aeuglein blitzten durch die großen runden Brillengläser, der schmale, zahnlose Mund verschwand fast gänzlich im Schatten der scharf gebogenen Adlernase. Nie hatte der Doktor mehr Aehnlichkeit mit einer Eule gehabt. „Nur ich kann Herrn Bornholm nicht helfen,“ fuhr er fort, „weil ich zu Herrn Bornholm nicht gerufen werde. Herr Bornholm verachtet die Medizin wie noch so manches andre Ehrwürdige, um nicht zu sagen alles.“

„Da thun Sie ihm vielleicht doch unrecht,“ fiel Luise ein, und Elika wiederholte:

„Vielleicht? – Schweres, abscheuliches Unrecht thut er ihm.“

Der Doktor betrachtete sie mitleidig: „Die arme Kleine ist auch sehr in die Irre geführt. Der Rattenfänger, der!“

„Was hat er Ihnen gethan?“ fragte Elika und kämpfte mit Thränen des Zornes.

„Dasselbe, was er Ihnen gethan hat, den Joseph zur Flucht verleitet.“

„Lüge! Das ist eine Lüge, das ist Verleumdung!“

„Kann ihn gut brauchen auf seinen australischen Besitzungen als unbesoldeten Diener.“ Der laute Protest der beiden jungen Damen störte ihn nicht, er überbot sich noch: „Geben Sie acht, rate ich, geben Sie sehr acht, sonst gehen Leopold und Franz denselben Weg.“

„Nicht Ihr Ernst, Herr Doktor,“ sagte Luise, „Herr Bornholm ist an der Flucht Josephs ganz unschuldig. Das glaube ich.“

„Ich weiß es,“ sprach Elika. „Sie haben ihm unrecht gethan, Sie haben ihn verleumdet, Herr Doktor … Machen Sie das gut,“ setzte sie mit einer plötzlichen Wendung hinzu, „gehen Sie zu ihm!“ Sie bat liebenswürdig, schmeichelnd, inständig, und der Doktor wand sich in Seelenpein. Ihr Nein sagen, ihr etwas verweigern, ihr, der jeder – und er wahrlich nicht zuletzt – so gern den Willen that, immer mit dem Hintergedanken, wie lange wird man’s noch können? Sie sah jetzt beunruhigend übel aus, blaß und aufgeregt, und nichts war schädlicher für sie als Aufregung.

„Bitten Sie nicht! ich bitte Sie, nicht zu bitten, ich halte das nicht aus.“ Er machte sich los von den kleinen Händen, die seine Hand wieder flehend umklammert hatten. „Bleiben Sie stehen, Vincenz; einen Augenblick. So.“ Schwerfällig erhob er sich und klomm mühsam aus dem Wagen. „Ich danke, ich gehe lieber,“ beantwortete er die Ausdrücke des Bedauerns, die Luise und Elika ihm nachriefen.


„Bleib’ bei mir, bis ich eingeschlafen bin,“ sagte am Abend die Kleine zu Luise, die ihr beim Auskleiden behilflich gewesen war und sie zu Bett gebracht hatte wie ein Kind.

„Ich bleibe, aber gesprochen wird nicht.“

„Kein Wort?“

„Nein.“

„Also kein Wort, nur eine Frage: Glaubst du, daß der Doktor ein guter Mensch ist?“

„Freilich glaub’ ich das.“

„Nun, wenn die Guten lügen und verleumden, will ich die Bösen lieb haben.“

Luise erwiderte nichts, setzte sich an den Tisch, nahm eines der Bücher, die dort lagen, und schlug es auf. Sie blätterte, las, sah nach dem Titel: „Buch der Lieder“. Sie wußte, daß es existierte, daß es berühmt war, in der Hand hatte sie es nie gehabt. Ihren Eltern blieb kein Geld übrig, um Bücher zu kaufen; und die Zeit, sie zu lesen, hätten sie ihrer Tochter am wenigsten schaffen können. Sie brauchten Luisens Zeit für sich, die ganze, legten Beschlag auf die Thätigkeit ihrer Tage, die Ruhe ihrer Nächte und spendeten ihr den herben Trost: „Es wird ja nicht lange dauern.“ Es hatte auch wirklich nicht lange genug gedauert, um den Frühling in einer jungen Seele im Dienst des Alters zu ersticken. Sie waren hingegangen, die armen Verbitterten und ewig Unzufriedenen, und ihre Einzige, die alles für sie gethan, war mit der Empfindung an ihrem Grabe gestanden, daß sie ihnen nichts gegeben, immer nur von ihnen empfangen habe. Ihren Lebensmut hatten sie ihr nicht gebrochen, die stille und gleichmäßige Heiterkeit, deren sie so sehr bedurfte, nicht getrübt. Die beiden hohen Güter waren ihr geblieben, ließen sie einer traurigen, einsamen Zukunft gelassen entgegen sehen.

Sie hatte so viel Versäumtes nachzuholen, zu lesen, zu lernen. Wenn man denkt! mit diesem Buche, in dem eine Welt des Schönen ihr aufging, das eine Sprache sprach, wie sie noch keine vernommen, in ihrem Innern Saiten ins Schwingen brachte, die noch keine Regung durchzittert hatte, mit diesem Wunderbuche war die vierzehnjährige Elika wohl vertraut. Sie hatte fast auf jedem Blatt einzelne Stellen und Strophen angestrichen und mit haarfeinen Buchstaben schwungvoll an den Rand geschrieben: Herrlich! – Und man durfte sich ihrer Führung anvertrauen, sie verstand aus dieser Fülle des Reichtums das Kostbarste zu wählen.

Merkwürdiges kleines Ding! Luise wendete sich und sah von dem Buche auf und zu Elika hinüber. Die lag still, die Arme auf der Decke, und war hellmunter. „Du schläfst noch immer nicht?“

„Nein, lies nur weiter, ich werde noch lange nicht schlafen, ich muß nachdenken.“

Luise erhob sich, kniete am Bette nieder, stützte die Ellbogen auf und lehnte die Wange an die gefalteten Hände. „Worüber mußt du nachdenken?“ fragte sie.

„Ueber diese Dummheit … Ist das nicht zu dumm?“

„Was denn?“

„Daß sie glauben, daß Herr Bornholm ihn verleitet hat. Herr Bornholm hat nichts gewußt, niemand hat etwas gewußt“ … Die zwei Worte: nur ich, schwebten ihr auf den Lippen, sie sprach sie aber nicht aus. „Joseph ist fort, weil er gewollt hat, nicht weil ein andrer gewollt hat. Er ist fort, weil …“

„Weil ihn die Buch- und Schulweisheit anwiderte,“ sprach Luise.

„Auch noch wegen etwas andrem. Ich hab’ es damals nicht verstanden, ich war zu klein – jetzt weiß ich es.“ Sie richtete [426] ihren Blick auf Luise und sah ihr tief und fest in die Augen: „Kannst du dir nicht denken, was das andre war?“

„Nein, gar nicht.“

„Hast du auch nicht bemerkt, daß du mir einmal sehr zuwider gewesen bist?“

„O weh! Sieh nur, auch das hab’ ich nicht bemerkt.“

„Du bist mir zuwider gewesen, weil er immer so verlegen worden ist vor dir und so rot.“

„Ach geh! du träumst.“

„Nein. Und jetzt sag’ ich dir das andre, das ihn fortgetrieben hat.“ Ihre Stimme hatte einen rauhen und gedrückten Ton: „Daß du ihn behandelt hast wie ein Kind und daß er dich lieb gehabt hat – geliebt hat, begreifst du?“

„Du bist nicht gescheit … Was das für Einbildungen sind! Schlafe deine Einbildungen aus.“ Sie erhob sich: „Gute Nacht also.“

„Gute Nacht.“ Elika erwiderte kühl ihren herzlichen Händedruck.

Luise trat an den Tisch, nahm das „Buch der Lieder“. „Du erlaubst doch,“ sagte sie, löschte das Licht und verließ das Zimmer. – 00000000000000000000

Am folgenden Vormittag kam Leopold, wie immer heiter und gut gelaunt, und fand Luise und Elika im Garten hinter dem Hause, mit dem Abnehmen der schönen Früchte eines Zwergapfelbaumes beschäftigt. „Fleiß und Arbeitsamkeit wohin man schaut!“ rief er ihnen zu. „Guten Tag, zwei Gute Tage!“ erwiderte er die Begrüßung der Tante und der Schwester. „Wo war ich jetzt? – In Valahora. Ja, meine Damen, staunen Sie! Rühmst dich vor dem Patriarchen und den Erztanten dieser Visite beim Teufel nicht, habe ich mir vorgenommen und – wen finde ich beim Teufel? – den Papa.“

„Diesen Engelspapa!“ sprach Elika ganz begeistert, und Leopold bewunderte auch, daß sich der Papa an das Geschwätz über Bornholm nicht kehrte. Aber komisch war es, wie ihn in Valahora nichts so sehr interessierte als die australischen Zeitungen. Bornholm …

„Wie geht’s mit seinem Arm?“ unterbrach ihn Luise, nahm einen letzten herrlichen Calvilapfel vom Baume und legte ihn sorgsam in den Korb, der schon die übrigen barg.

„Seid ihr fertig? darf ich das tragen?“ fragte Leopold.

„Du darfst; darfst auch so viel nehmen als dir beliebt ...“

„Wie es Bornholm geht, möchten wir wissen,“ fuhr Elika ungeduldig drein.

„Davon war nicht die Rede. In den Rockärmel scheint er nicht hineingekommen zu sein, war in einen Plaid drapiert wie ein Schotte. Den Hansl hatte er schon gefüttert und longiert.“

„Tante,“ wendete er sich an Luise, „darf ich mich bei euch ein bißchen niederlassen, oder hast du zu thun und schickst mich fort?“

„Wir haben nichts zu thun als dir zuzuhören. Also wie war’s in Valahora?“

Sie setzten sich alle drei ins Gras unter einen alten Nußbaum, der teils ganz dürre, teils spärlich belaubte Aeste gegen den Himmel reckte. Leopold lehnte behaglich den Rücken an seinen Stamm, streckte die langen Beine und sprach:

„Bornholm packt heute eine von den Kisten aus, die er sich hat nachschicken lassen. Pflanzen, Mineralien kommen zum Vorschein, alles von Joseph etikettiert, katalogisiert. Bornholm sagt, die Matura wird Joseph nie bestehn, aber einen akademischen Grad als Naturforscher verdient er heute schon. Das hat den Papa gefreut.“

„Und freut mich – und dich – und dich!“ rief Elika, sprang auf, umarmte Luise und Leopold nacheinander stürmisch und zärtlich und setzte sich wieder zwischen sie: „Und was war noch drin in der Kiste?“

„O, reizende Sächelchen! Zwei schneidige Katta-Twirris, durch und durch mit Blut getränkt, eine Waddy, an der noch die Haare des letzten kleben, der mit ihr erschlagen worden ist. Ein Trinkgefäß aus der Hirnschale eines Eingeborenen …“

„Entsetzlich,“ unterbrach ihn Luise.

„Den australischen Weibern kommt es nicht so vor. Bornholm sagt, daß fast jedes von ihnen einen solchen Trinkbecher benutzt, den sich die Damen zurecht rösten und polieren.“

„Kannibalenart.“

„Du, Tante, denk’ nicht gering von den Kannibalen, wenn du’s mit Bornholm nicht verschütten willst. Bornholm sagt, daß sie Gold sind im Vergleich zu den Europäern, die ekelhafte Geldgier nach Australien treibt und die ...“

„Laß gut sein. Da spricht Bornholms Vorliebe für die dem Tiere näherstehende Rasse.“

„Möglich, sie sind naiv, und Naivetät ist Unschuld, sagt Bornholm.“

Luise sah ihn mit gutmütigem Spotte an: „Sagt Bornholm. Ich möchte wissen, wie oft du das schon wiederholt hast. Eine Stunde warst du bei ihm und kommst zurück zum Ueberfließen mit seinem Geiste angefüllt. Ueberhaupt, meine lieben Kinder, seitdem der Mann da ist, wird nur noch von ihm gesprochen! Ich bitte um eine andre Konversation.“


Elika kam nach Velice zurück und Frau Heideschmied und Apollonia ließen es sich nicht nehmen, das Ereignis durch die Errichtung eines Triumphbogens vor dem Schloßthore zu feiern. Sie nahm die Huldigung sehr gnädig und sogar gerührt entgegen. Sie war höchst liebenswürdig und sehr sanft und ein bißchen verträumt, und Charlotte fand, das Kind habe seit der Heimkehr „etwas Eigenes“. Sie hatte sich ganz entschieden verändert während der vierzehn Tage, die sie auf Urlaub zubrachte. Jeder fand es, und jeder wollte an ihr etwas Ungewohntes entdecken.

„Gewachsen ist sie,“ meinte Franz, „das ist das Ganze.“

Aber Elika lachte: „In vierzehn Tagen so gewachsen, daß man’s merkt? Du bist nicht gescheit!“

„Gut also, so bin ich nicht gescheit; dann aber war Hanusch es auch nicht. Der hat gleich gesagt: ‚Wie groß sie geworden ist und –,‘“ jetzt brach er in Lachen aus, „‚wie schön!‘ Ein guter Kerl der Hanusch.“

„Ja freilich, weil er mit dir auf die Jagd geht und dir die Hasen trägt.“

„Freilich“ – er machte ihr nach – „immer sagst du: freilich. Freilich geht Hanusch mit mir auf die Jagd, er geht aber auch durchs Feuer für mich.“ Er sagte das ganz zornig und wurde puterrot. Das war jetzt so und völlig unheimlich, daß er über die kleinste Kleinigkeit, über den geringsten Widerspruch förmlich in Wut geraten konnte.

„Und das schadet ihm,“ hatte Apollonia seiner Schwester anvertraut.

Die war in Schrecken versetzt: „Es fehlt ihm doch nichts?“

„Nichts, mein Herzerl … daß du gleich so erschrickst! nichts fehlt ihm … Nur – weißt, wenn einer so im Wachsen ist und das viele Studieren – die Plag’.“

Jawohl, das Studieren strengte ihn an, war eine große Plage für ihn, und nur aus Pflichtgefühl unterzog er sich ihr. Elika besann sich eines Wortes, das Heideschmied einmal zu Tante Charlotte gesprochen hatte, die ihren Großneffen einige Professorensöhne zum nachahmenswürdigen Beispiel angeführt hatte.

„Kaum zu verlangen, kaum zu vergleichen, meine Gnädigste; jene jungen Leute haben von Vater und vielleicht schon von Groß- und Urgroßvater her trainierte Gehirne.“

Es kamen stille Wochen. Der Verkehr mit den entfernteren Nachbarn hatte seit dem Tode Frau von Kosels völlig aufgehört. Nur während der Treibjagden im November füllte Schloß Velice sich drei Tage lang mit Gästen. Vorläufig war Luise die einzige, die sich Nachmittag für Nachmittag einfand, die man immer freudig begrüßte, immer ungern scheiden ließ, die immer wohlthuend und erheiternd wirkte. Es war ein Ereignis, als sie einmal ausblieb. Bis sieben Uhr warteten die Tanten in Aufregung und Sorge; dann ritt Leopold nach Vrobek, um zu fragen, was denn geschehen, ob denn Luise unterwegs verunglückt sei. Nun – gottlob, nein; sie war schon deshalb unterwegs nicht verunglückt, weil sie gar nicht ausgegangen war. Ein Besuch hatte sie aufgehalten. Bornholm war bei ihr gewesen.

Die Nachricht setzte Herrn von Kosel in großes Staunen. „Bornholm ist bei ihr gewesen? … Höre, Tante Renate, hör’ einmal, Tante Charlotte – Bornholm,“ sagte er mehrmals nach jeweiligen gehörigen Zwischenpausen.

Im Sibyllenturm wurde Luise am nächsten Tage womöglich noch liebevoller als sonst empfangen, und dennoch machte etwas [427] Störendes, eine gewisse Zurückhaltung sich bemerkbar. Mit großer Selbstüberwindung fragte Renate, nachdem man von allerlei gleichgültigen Dingen gesprochen hatte, endlich: „Sag’ mir, Kind, findest du es ganz passend, daß Bornholm dir einen Besuch gemacht hat? Denk’ nur, Tante Charlotte und ich können es nicht ganz passend finden.“

Luise hatte sich schon die Zeit über auf diese Bemerkung vorbereitet, sich auch die Antwort ausgedacht, die sie darauf geben wollte, und war nun doch befangen und ratlos und sagte mit forcierter Heiterkeit: „Ein erster und letzter Besuch und gar nicht gern abgestattet. Herr Bornholm hat sich vielleicht verpflichtet gefunden, mir den meinen zu erwidern.“

„Erwidern? einen unabsichtlichen Besuch? … Nun ja, du spaßest. O Kind! du bist ja deine eigene Herrin, aber ich meine nur, du stehst so allein, und er ist doch ein junger Mann und hat nicht den besten Ruf und du bist ein junges Mädchen …“

Luise küßte ihr auf das Innigste die Hand: „Bin ich? Dn schmeichelst mir, gute, gute Tante … Wenn du wüßtest, wie ich mich fühle – älter als alt.“

Kosel und seine Kinder kamen, Luise zu begrüßen, die man schon so lange nicht gesehen hatte, und Elika schlug vor, das Vesperbrot in der Laubhütte im Wäldchen auftragen zu lassen. „Dorthin wird der Wagen bestellt und Luise fährt nach Hause, aber erst sehr spät. Sie muß heute vier Stunden bei uns bleiben, sie hat noch zwei von gestern einzubringen.“

Die „arme Kleine“ hatte gesprochen, das Gesetz war gegeben.

Eigentlich gehörte das Wäldchen noch zum Garten und war nur durch ein leichtes Drahtgitter von ihm getrennt. Seine grünen Wiesen, seine freundlichen Auen reichten bis zur Grenze der großen Waldungen Velices, die sich hügelauf, hügelab hinter denen von Valahora im Halbkreise hinzogen.

Ein breiter gerader Weg durchschnitt das Wäldchen. Wenig befahren, ganz eben, mit kurzem, dichtem Gras bewachsen – ein unübertrefflicher Reitboden. Von diesem Weg zweigte ein schmaler ins Innere des Gehölzes ab und führte mehr oder weniger sanft aufsteigend zur Laubhütte, dem Ziel der heutigen Wanderung. Die ganze Gesellschaft, Menschen und Tiere – jeder der Herren, Heideschmied ausgenommen, hatte einen Hund mit – bog auf den Fußpfad ein, nur Franz, nach Jägerart immer lauschend, spähend, blieb zurück. Elika wendete sich nach ihm um:

„Nun, Monsieur, ist’s gefällig?“

„Still!“ Er warf ihr einen seiner strengsten Blicke zu.

„Jetzt schaut er wieder wie ein Bushranger, dieser Mensch. Franzl, schau nicht so!“

Er legte den Finger auf den Mund: „Still! wenn ich dir schon sag’ … Still, er kommt, kommt auf dem Hansl.“ Mit einem Satz war er an Elikas Seite. „Ruhig, verstecken wir uns.“

„Und kuschen die Hunde!“ befahl Kosel.

„Kuschen, hörst, daß der Hansl nicht erschrickt, sonst giebt’s ein Malheur,“ flüsterte Leopold seiner braunen Lady zu. Elika und Franz brannten die Wangen. Sie drängten sich vor, guckten durchs Gebüsch und verkündeten leise: „Da ist er, da ist er schon!“

Die alten Tanten hatten einen und denselben Gedanken: Wenn es hieß „Er“, brauchte man nicht mehr zu fragen, wer gemeint war.

Der Hufschlag eines Pferdes ließ sich gedämpft auf dem weichen Grund vernehmen. Im mittelstarken, leichten und regelmäßigen Trabe kam Bornholm auf dem Hansl einhergeritten. Das war nicht mehr der scheue Bosnickel, das war ein seines Daseins frohes Tier, und stolz in seiner Dienstbarkeit. Sie schien nicht drückend, erniedrigte es nicht zur Maschine, ließ ihm die goldene Freiheit eigener Initiative, auf die sein Herr auch offenbar vertraute. Er saß in nachlässiger Haltung ohne Peitsche, ohne Sporen, und schien mit allem anderen mehr beschäftigt als mit seinem Pferde. So still die Späher im Gehölz auch meinten, sich gehalten zu haben, er hatte die Nähe von etwas Lebendigem bemerkt und den Blick – einen scharfen unguten Blick – sogleich nach der richtigen Fährte gelenkt. Ihm kam es nicht überraschend, als sich die Zweige plötzlich auseinander bogen und die braune Lady, die Leopold einen Augenblick unbeaufsichtigt gelassen hatte, hervor und mit wildem Gebell auf Hansl losstürzte. Er machte einen gewaltigen Seitensprung, die zuredenden Worte des Herrn gaben ihm aber bald wieder seine Seelenruhe zurück. Leopold war seinem Hunde nachgeeilt, machte ihm die bittersten Vorwürfe und entschuldigte sich bei Bornholm.

Alle kamen nach und nach herbei und Hansl erntete viel Lob. Kosel wünschte zu erfahren, was Bornholm mit dem Pferde „angefangen“ habe. Nichts, durchaus nichts Besonderes. Er hatte sich gefaßt gemacht, alles erdenkliche Böse von ihm zu erfahren, und „er thut ja nichts“.

„Was Sie sagen!“ Kosel dachte nach: „Ja, hat er Sie denn nicht gebissen?“

„Ach das – das war nur ein kleines Mißverständnis. Nicht wahr, Hansl, mein Alter?“ Er war abgesessen, legte den Arm um den Hals seines Pferdes, drückte ihn an sich und lachte, und der Plumpsack – Leopold hatte ihn schon mit diesem Spitznamen dekoriert – war unglaublich gewinnend, wenn er lachte. Schade, daß es so selten vorkam. Eine warme, freundschaftliche Regung stieg in Leopold auf.

„Bleiben Sie bei uns!“ rief er, „wir vespern in der Laubhütte. Kommen Sie mit! Gute Tanten, lieber Papa, sagt ihm, er soll mitkommen!“

„Er soll, er soll! Herr Bornholm, kommen Sie mit!“ fielen Franz und Elika ein.

Einige Betroffenheit über diese unversehens vorgebrachte Einladung malte sich in den Gesichtern der alten Damen, und auch Kosel sah nicht besonders erfreut aus. Aber was war zu thun? Unartig sein gegen den Freund Josephs konnte man nicht, und so wurde denn die Aufforderung der Kinder von den Tanten und Kosel wiederholt. Die Augen Bornholms richteten sich fragend auf Luise; sie war die einzige von der Familie, die geschwiegen hatte, und gab auch jetzt kein Zeichen der Zustimmung.

„Tausend Dank,“ sprach Bornholm, „es ist unmöglich, ich bin ja nicht allein.“ Mit einer Kopfbewegung deutete er nach Hansl.

„O, deswegen!“ sprach Franz. „Geben Sie ihn mir, ich reit’ ihn nach Hause,“ und er trat dicht an das Pferd heran.

„Was ihm einfällt!“ „Das ist eine Idee!“ „Nein, das wirst du nicht!“ klang es durcheinander. Elika lief auf ihren Bruder zu und wollte seine Hand ergreifen. Voll Ungeduld wich er aus. „Franz, um Gotteswilleu, wenn du mich nur ein bißchen lieb hast … Franz!“ Mit einem Schrei des Schmerzes stieß sie es hervor. Zum erstenmal in ihrem Leben hatte sie ihn umsonst bei seiner Liebe zu ihr angerufen. Er schob sie weg, gleichgültig, hörte nicht sie, sondern nur Bornholm, der zu Kosel sprach:

„Lassen Sie ihn. Er ist ein guter Reiter, ich hab’ ihn schon zu Pferd gesehen.“

Franz hatte wieder alles Blut im Kopfe, machte seine dicke, trotzige Lippe und schwang sich rasch in den Sattel.

„Nur abgeben, dem Bartolomäus, im Hof – sich nicht weiter mit ihm zu thun machen!“ warnte Bornholm.

Als Hansl den fremden Reiter auf seinem Rücken spürte, bog er den Hals wie eine Schlange und schnappte, aber nur Luft, es war ihm nicht ernst, es war nur eine Reminiscenz an frühere Tölpeleien. Den ersten Hilfen schon gehorsam, schlug er seinen weitausgreifenden Trab an und eine Freude für jedes Reiterauge war seine freie und korrekte Aktion.

Alle blieben auf der Straße stehen und sahen ihm nach.

„Ja – wenn ich wüßt’, was Sie mit dem Tier angefangen haben,“ begann Kosel von neuem.

„Ich sage Ihnen ja – nichts, es war nur verprügelt durch Ihre Leute.“

„Auch durch uns,“ gestand Leopold. „Wir haben ihn auch geritten und miß – verstanden.“

„Geritten? den Hansl? Es war euch verboten!“ rief Elika streng und verweisend und hätte gleich darauf vor Beschämung und Reue in den Boden sinken mögen. Bornholm hatte sich nach ihr umgesehen – so geringschätzig, so deutlich fragend: Hast du mitzureden? … O grausam! grausam! … Der bewunderte sie nicht und bemitleidete sie nicht. Für den war sie nichts. Der begriff wohl kaum, daß sie anderen etwas war.

Mit erratendem Verständnis las Luise ihr vom Gesichte ab, was in ihr vorging. Sie nahm ihren Arm, und so folgten sie den Tanten, die schon rüstig voran wanderten, von Heideschmied und seiner Gattin umschwärmt. Die feine Frau machte [428] zirpend auf das Gezirpe der Waldvögelchen aufmerksam und der Gemahl flüsterte ihr ins Ohr:

„Sie singen nicht so lieblich wie du.“

Kosel, Leopold und Bornholm schlossen den Zug. Levin vernahm die Erörterungen Kosels über Pferdedressur nur noch wie ein Geräusch, das unartikuliert und gleichmäßig an ihm vorüberzog. Er horchte einer andern Stimme. Gedämpft und doch voll edlen Klanges sprach sie zu einem Kinde. Was sie sagte, verstand er nicht; aber sie that ihm wohl, glitt wie ein belebender Hauch über längst entschlafene Erinnerungen. Liebliche, holde aus der Kinderzeit, andere, die ihm schwer aufs Herz fielen. Sie mahnten an den Undank, mit dem er gar oft Liebe gelohnt, an die Opfer, die seine wilde Genußsucht gefordert hatte: Glück und Zukunft so manchen jungen Lebens für eine Stunde des Rausches. Häßlich mutete ihn heute an, was ihm damals süß und schön erschienen war. Er hätte die Gedanken daran aus seinem Gedächtnis wegtilgen mögen, aber sie blieben, sie bohrten sich ein, peinigten und quälten. Warum das auf einmal? War das Reue, die er abgeschworen, war das das sogenannte Gewissen, das er doch längst als etwas künstlich Anerzogenes abgethan hatte?

Als er diese Frage an sich stellte, klang leise Luisens Lachen zu ihm herüber mit seinem sanften weichen Schalle. Ihm war, als müsse er es schon einmal gehört haben in besseren Tagen, in einer helleren Welt.


Im Oktober stellte regnerisches Wetter sich ein; und wenn am Nachmittag auch nur eine drohende Wolke sich am Himmel zeigte, kam schon ein Wagen aus Velice angefahren, um Luise abzuholen. Sehr früh wurde er geschickt und spät wieder angespannt, um sie nach Hause zurückzubringen. Am liebsten hätte man sie beständig in guter Hut behalten und gar nicht fortgelassen. Sie war für die Tanten und für Kosel, wenn er nicht gerade an Zeitungen dachte oder auf irgend einem Steckenpferdchen einen Schulritt unternahm, ein Sorgenkind geworden. Man wußte, und es fiel ihr nicht ein, es zu leugnen, daß Bornholm sich täglich in Vrobek einfand. Ums Mittagsläuten kam er, blieb manchmal eine volle Stunde, manchmal nur wenige Minuten, und war immer wieder ein andrer Mensch. Heute still und in sich gekehrt, morgen heiter und mitteilsam, und dann plötzlich ergriffen wie von einem bösen Geist, hart, herb, aggressiv. Da erging er sich in Sarkasmen, die sie verletzten, in Lästerungen, die sie abstießen, und mehr als einmal hatte sie die Empfindung gehabt, daß auch er sich von ihr abgestoßen fühle und, von einem Kampfbedürfnis getrieben, daherkomme, Unruhe zu säen in ihr stilles Haus und Unfrieden in ihre gleichmütige Seele. Er ahnte nicht, wie sehr ihm das gelungen. Ihre vielgerühmte Heiterkeit war nur noch ein mühsam bewahrter, täuschender Schein. In Wahrheit lag sie im schwersten Kampfe mit sich selbst. Zu diesem Manne, in all seiner Kraft, Gesundheit, mit all den geistigen Fähigkeiten begabt, die seine ärgsten Schmäher gelten ließen, mit all seinem großen Reichtum, zog ein unwiderstehliches, oft bis zur Pein gesteigertes Mitleid sie hin. In solchen Augenblicken wurde diese Luise, die für so ruhig und kühl galt und sich selbst dafür hielt, von dem brennenden Wunsch erfaßt, zu ihm hinzutreten, beide Arme um ihn zu schlingen, seinen Kopf an ihr Herz zu ziehen, ihre Lippen auf seine Stirn zu drücken und zu sagen: Da, ruhe aus, du Unrast, da hast du dein Zuhause, da strömt dir ein Quell unerschöpflicher Liebe und all der Nachsicht, die du brauchst. An diese Liebe kannst du glauben, du Glaubensloser.

Sie stand am Fenster ihres Salons, von dem aus ein Stück des Weges zu überblicken war, der herüberführte von Valahora. Wenn er heute nicht käme – es wäre gut. Sie wünschte es fast. Sie wünschte einmal wieder Renatens besorgte Frage: ‚Hast du Besuch gehabt?‘ mit Nein beantworten zu können. Und Bornholm war gestern ungewöhnlich mild gestimmt und vertrauensselig gewesen – da gab es am Tage darauf regelmäßig einen Rückschlag. Vielleicht fand er es heute schon recht unnütz, daß er von der Jugend seiner Mutter, von ihrem Martyrium gesprochen hatte. Sie war auch eine von den Vielen gewesen, die, zu schwach, um sich zur Wehr zu setzen, dem Wohl einer Gesamtheit zum Opfer gebracht werden. Höchst alltäglich der Anfang dieser Lebens- und Leidensgeschichte. Zwei junge Liebende, verarmten Adelshäusern entsprossen, von Eltern erzogen, denen alles eher möglich erschien, als daß eines ihrer Kinder seinen eigenen Willen haben könnte. Ihn, den jüngsten von sechs Söhnen, bestimmte der Vater zur Auswanderung. „Du bist kühn, stark, hast Talent, hast Unternehmungsgeist; geh’ hin, verdien’ dir dein Brot, erwirb ein Vermögen, wenn du kannst.“ Wenn ich eins erwerbe, leg’ ich es dir zu Füßen, sprach er im Scheiden zur Geliebten und sie antwortete: Warte nicht zu lang, rufe mich, wenn die Trennung dir unerträglich wird. Ich komme über Meere und Länder. Es ist nie eine Botschaft von ihm zu ihr, von ihr zu ihm gelangt. Ihre Eltern, von den Gnaden Bornholms lebend, seiner Willkür unterworfen, stellten sich blind, ließen ihn schalten und walten, gaben zu, daß die Briefe des Ausgewanderten unterschlagen und vernichtet, die ihrer Tochter zurückbehalten wurden. „Du siehst, er hat dich vergessen, ist untreu,“ wiederholten sie ihr, wenn sie durch andere hörte, dem Geliebten ginge es gut, er sei wohlhabend geworden in Neusüdwales. Bornholm aber war treu, war der großmütige, immer helfende Freund, der Retter aus der Not – aus Unehre. Und sie, stark im Dulden, schwach im Thun, abwechselnd bedroht und angefleht, gab endlich nach.

Klägliche Jahre verflossen. Die Gattin Bornholms führte das peinvoll erniedrigende Leben einer edlen, feinfühligen, der Zärtlichkeit und der Eifersucht eines ungeliebten Mannes ausgelieferten Frau. Da verbreitete sich plötzlich die Kunde, ‚der Australier‘ kehre in die Heimat zurück. Ohne Zögern, als handle es sich nur um die Ausführung eines längst gefaßten Entschlusses, verkaufte Bornholm seine nordische Besitzung, zog hierher und erwarb das Gut Valahora. Dort spielte sich das Ende der Familientragödie ab. Dem „Australier“ gelang es, Beweise für die Niedertracht zu erlangen, mit der an ihm und an der Geliebten gehandelt worden war; er kam und forderte sie von dem Betrüger zurück, forderte Trennung der auf Lüge und Verrat gegründeten Ehe. Im Angesicht des Mannes rief er der Frau zu: „Rede! Wem hat dein Herz von Jugend auf gehört, wem gehört es noch?“ – Und im Angesicht des Mannes gab sie ihm Antwort.

Dieses eine und einzige Mal in ihrem armen verkümmerten Leben bäumte sie sich auf. Die Entrüstung, die Verzweiflung, die Nähe des Erwählten gaben ihr den Mut, ihre Lippen zum vollen stolzen Bekenntnis der Wahrheit zu öffnen:

„Wen ich geliebt habe, wen ich liebe brennend und sehnsüchtig? und ewig lieben werde? – Dich!“ – Das leidenschaftlich hervorgestoßene Bekenntnis war zugleich ein Abschied. Sie konnte ihm nicht folgen, ihren verabscheuten Quäler nicht verlassen. Ihre Ehe lösen, ihm folgen werde sie nicht. Sie hatte ja ihr Kind … Aber auch das sollte sie von Stunde an nicht mehr haben. Bornholm entfremdete es ihr, lehrte es, Grauen vor seiner Mutter zu empfinden. Von allem Unverzeihlichen, das sein Vater gethan, war das in den Augen Levins das Unverzeihlichste. Uebers Grab hinaus haßte und verabscheute er ihn dafür.

Dem furchtbaren Auftritt im Schlosse war ein Duell ohne Zeugen gefolgt. Die Kugel des Gegners und Rivalen konnte Bornholm nie aus dem Leibe geschnitten werden, mahnte ihn durch unausgesetzte Schmerzen an die bitterste und beschämendste Stunde seines Lebens. Ein Trost blieb ihm: Sein Schuß hatte noch besser getroffen als der des Feindes. Nach langem Siechtum schiffte dieser – ein vom Tode schon gezeichneter Mann – sich wieder nach Australien ein. Er wollte seine Ländereien und seine Homestation noch einmal sehen. Er wollte die Güter, die er für die Vielgeliebte erworben hatte, ihrem Kinde sichern und vertraute die Verwaltung treuen Händen an, aus denen der junge Erbe sie einst ungeschmälert erhalten sollte. Ein Gruß des Sterbenden, die Kunde seines Todes und seiner letzten Verfügungen gelangten nach Valahora und blieben unbestellt; ein Geheimnis für jeden so lange Bornholm noch lebte. Und dieses konnte Alwilde, die Levin sonst alles verriet, ihm nicht verraten. Die Zwei stachelten einander auf zum Hasse gegen den Herrn und den Vater. Im Herzen der Magd gärte er seit Jahren, im Herzen des Sohnes war er am Totenbett der Mutter erwacht. Ein furchtbares Verhältnis gestaltete sich [430] zwischen den beiden Bornholm. Der Alte entsetzlich in seiner geist- und herzlosen Tyrannei, Levin, als Knabe wie ein kleines Kind, als Jüngling wie ein Knabe behandelt, unablässig rebellierend.

Dann der plötzliche Tod des Bedrückers und sein Sohn aus atemraubender, herzbeklemmender Knechtschaft ohne Uebergang in absolute Ungebundenheit versetzt. Neunzehnjährig, frühreif, einer wild wuchernden Phantasie überantwortet, die ihm in den Jahren des Erwachens die Freuden des Lebens in einem Lichte zeigte, im Vergleich zu dem auch die schönste Wirklichkeit als trübe kahle Dämmerung erscheint. Und nun ein Hineinstürmen in diese Wirklichkeit, ein tolles Jagen, ein leidenschaftliches Ringen nach einem unerhörten Glück. Allmählich dann ein immer tiefer Sinken, ein Sinken bis zum Wüstling …

Am Schlusse dieser Beichte hatte Levin ausgerufen: „Und als es mir einmal einfiel, über mich nachzudenken und mich zu fragen: wie steht’s mit dir? lautete die Antwort: du bist verwelkt, ehe du geblüht. Das ist durch nichts mehr gut zu machen, keine Macht der Erde bringt ein, was da verloren ging. – Keinen barmherzigen Zweifel, ich bitte Sie,“ war er Luise, die sprechen wollte, ins Wort gefallen. „Halten Sie mich nicht etwa für trostbedürftig. Ich bedarf weder eines Trostes, noch eines Rates, ich spreche auch nicht zu Ihnen so aufrichtig über mich, weil ich die Schroffheiten und Härten meines Wesens mit der elenden Erziehung, die ich erhalten habe, entschuldigen will. Es ist ohne jede Absicht geschehen – und warum?“ In leichtfertig spöttischem Tone setzte er hinzu: „Vielleicht aus Dankbarkeit, weil Sie sich Mühe geben, mir Teilnahme zu zeigen, vielleicht, weil Sie eine große Kunst vortrefflich verstehen, die, aufmerksam zuzuhören.“

Damit war er aufgestanden und war gegangen, und hatte ihr nicht einmal Zeit gelassen, ihm Lebewohl zu sagen …

Zwölf Uhr. Das Gebimmel des Mittagsglöckchens durchzitterte die regenschwere Luft. Nun kommt er nicht mehr und das ist gut. Er sollte wirklich nicht täglich kommen, es gehört sich nicht und stört ihr den Frieden. Sie trat fort vom Fenster, sie hatte noch allerlei in ihrer kleinen Wirtschaft zu thun, Arbeiten zu beenden, die halb fertig auf dem Tische lagen, und auch noch Rechnungen abzuschließen. Heute nacht hatte es sie heiß überlaufen; da war ihr eingefallen, daß sie vergessen hatte, am vorigen Samstag ihre Wochenrechnungen zu bezahlen und ihre Krankenbesuche im Dorfe zu machen. Ein großes Unrecht. Ihr Interesse für Bornholm durfte sie keine Pflicht versäumen lassen, ihr Interesse für andere nicht in Schatten stellen. Und doch war’s geschehen. Sie gab sich genaue Rechenschaft davon. Seine breite Gestalt hatte sich zwischen sie und die ihr früher liebsten Menschen geschoben und ihr diese ferner gerückt. Die guten Tanten, den armen langweiligen Vetter Felix, seine Kinder, Elika sogar – alle, alle … Wie das nur gekommen war, und was ihr denn an ihm gefiel? Und gefiel er ihr denn überhaupt? Sie mußte sich gestehen: nein, vieles an ihm mißfiel ihr sogar entschieden und verletzte und beängstigte sie. Aber immer erwachte von neuem das grenzenlose Mitleid. Ein vielleicht falsch angewendetes Mitleid, ein unberechtigtes und vor der Vernunft kaum zu rechtfertigen. Aber komm’ zu Worte, Vernunft, du rechnende, du wägende, wo das Gefühl seine stürmische Stimme erhoben hat.

Indessen – trotz ihm! … Man kann es besiegen wollen, der Wille ist doch auch etwas … An dein Tagewerk, saumselige Hausfrau.

Sie verließ das Zimmer, hatte aber den Treppenabsatz kaum überschritten, als das Thor der Halle geöffnet wurde und Levin eintrat: „Guten Tag, Fräulein von Kosel,“ rief er zu ihr hinauf und schwenkte den Hut. „Störe ich Sie? haben Sie zu thun? Wenn ja, schicken Sie mich fort. Ich bitte nur um einen Augenblick Gehör, ich habe Ihnen etwas zu sagen.“

Er hatte in einem ihm ganz ungewöhnlichen Ton gesprochen, so unbefangen und heiter wie noch nie. War ein plötzliches Glück ihm begegnet? Er sah ganz danach aus.

„Ich habe wirklich zu thun,“ erwiderte sie, „aber mir scheint, daß Sie eine gute Nachricht zu bringen haben; die muß ich hören. Kommen Sie!“

Luise ging in den Salon zurück und Bornholm folgte ihr auf dem Fuße. Sie nahm Platz in der Ecke des Kanapees und er ihr gegenüber auf einem Sessel, vor dem mit Weißzeug und Näharbeiten bedeckten Tisch. „Die Nachricht, die ich bringe, ist wirklich gut,“ begann er, „gut für mich, sie betrifft mich allein; und doch drängt es mich, sie Ihnen mitzuteilen.“ Er zögerte ein wenig und sprach dann rasch: „Sie sind mir eine Wohlthat, Fräulein von Kosel.“

„Das freut mich sehr,“ versetzte sie ernst, „dergleichen hört man immer gern. Und Ihre Nachricht?“

„Das eben ist meine Nachricht. Sie sind mir eine Wohlthat. Sie haben einen großen und guten Einfluß auf mich.“

Sie war im ersten Augenblick ratlos. Wie kam er dazu, ihr eine Art Freundschafts- und Vertrauenserklärung zu machen? Plötzlich, ohne die geringste unmittelbare Veranlassung? „Es freut mich sehr, wenn es so ist, Herr Bornholm,“ wiederholte sie, „und ich möchte wissen, an welchem Zeichen Sie diesen Einfluß erkennen. Ich habe noch nichts von ihm bemerkt.“

Seine Augen leuchteten auf und suchten den Blick der ihren festzuhalten: „Er besteht. Vom ersten Tag an, von noch früher an. Joseph hat mir Ihr Bild gezeigt und viel von Ihnen gesprochen. Ich habe diesen Einfluß von Tag zu Tag mehr empfunden. Heilen wird auch er mich nicht, aber über einige Monate meines Lebens kann er mich gelinder, als es mir sonst zu teil wird, hinwegbringen. Entziehen Sie ihn mir nicht.“

„Warum sollt’ ich das?“ fragte Luise unsicher und befangen.

„Man rät es Ihnen, Menschen, die Ihnen teuer sind, raten es Ihnen … Ob eindringlich, mit vielen Worten, ob stumm – durch kummervolle Mienen, ist ja gleich … Ihr Vetter Kosel – ich komme jetzt auf das, womit ich hätte anfangen sollen – ist bei mir gewesen vorhin. Eben. Er kam – als Sendbote, gewiß – eigene Initiative ist nicht sein Fall – mir anzudeuten, daß meine Besuche bei Ihnen unpassend gefunden werden. Ich war mehr aufs Erraten als aufs Verstehen angewiesen – die letzte Nummer der „Evening News“ lag auf dem Tisch … Sie begreifen, da konnte er doch nicht bei der Stange bleiben … Wie er daheim bestehen soll im Examen über den Erfolg seiner Mission, ist mir unklar, und klar nur, daß er sie hatte … und denken Sie, Fräulein von Kosel! mit meiner Kunst, das Unangenehmste für das Nächstliegende zu halten – ergriff mich die Sorge, er habe die Mission von Ihnen.“

„Irrtum,“ sprach Luise.

„Ich weiß … Ich dachte es mir gleich. Sie würden mir nicht durch einen Dritten sagen lassen: ‚Ihre Anwesenheit bei mir erregt Aergernis. Bleiben Sie fort‘ … Ich weiß noch etwas. Sie sagen das überhaupt nicht. Sie sind zu stolz und unabhängig, um Ihre Handlungsweise zu ändern, weil alberne Leute an ihr Anstoß nehmen könnten.“

Luise hatte den Kopf gesenkt, erhob ihn nun und versetzte mit einem herzgewinnenden Lächeln: „Ich weiß nicht, ob ich sagen soll, Sie thun mir unrecht, oder, Sie thun mir zu viel Ehre an. Eben heute habe ich überlegt, ob ich nicht gut thäte, Sie zu bitten, seltener zu kommen.“

„Der Leute wegen?“

„Der Leute wegen, die Sie albern nennen, und die es so gar nicht sind.“

„Wohl denn!“ rief er, „ich geb’ es zu, es sind die respektabelsten Leute – aber auch durch die sollen Sie sich nicht bestimmen lassen, mich vor die Thür zu setzen.“ Er schien ganz und gar aus seinem Charakter gefallen, sein männliches Gesicht nahm einen geradezu kindlichen Ausdruck an und es lag eine erstaunliche Naivetät in dem Tone, in dem er ihr zum drittenmal die Versicherung gab: „Sie sind mir eine Wohlthat, Fräulein von Kosel!“


„Tante Luise!“ rief jetzt eine junge Stimme, und Elika öffnete die Thür so weit als nötig, um ihren Kopf durchzustecken. Beim Anblick Bornholms stotterte sie: „O – o!“ … zögerte ein wenig und trat dann ein und sah in ihrem langen lichten Regenmantel mit aufgestülpter Kaputze hübsch und herzig aus. Luise war rot geworden, Bornholm plötzlich in Verstimmung geraten.

„Frau Heideschmied ist auch da,“ sprach Elika, aber mehr um das peinliche Schweigen zu brechen, als um auf die Anwesenheit der Französin aufmerksam zu machen, die ihren Mantel auf dem Palier abgelegt hatte und jetzt knapp vor der Thür eine zierliche Reverenz ins Werk setzte.

[431] Luise war aufgestanden und begrüßte die Damen, Bornholm blieb sitzen. Er gab sich keine Mühe, zu verbergen, wie verdrießlich die Unterbrechung seines Gesprächs mit Fräulein von Kosel ihm war. Frau Heideschmied, viel zu wohlerzogen, um die Verlegenheit der Herrin des Hauses und die Unart ihres Gastes zu bemerken, nahm dankend die Einladung Luisens, sich neben sie aufs Kanapee zu setzen, an und teilte ihr in höchst angeregtem Tone mit, daß es regne und wahrscheinlich den ganzen Tag fortregnen werde, wenn nicht etwa Aufheiterung eintreten sollte.

Elika hatte sich neben sie auf einen Fauteuil placiert. Ihr kluger und scharfer Blick glitt über die drei: über Bornholms finsteres Gesicht, über Luise, die so befangen, Frau Heideschmied, die so wohlerzogen war. Sie verstand alle, erriet, was in jedem von ihnen vorging, sie hatte das stolze Bewußtsein, die Situation völlig zu beherrschen, sie, die jüngste, sie, das „kleine Mädchen“. – „Wir kommen, dich zu Tische zu bitten, Tante Luise,“ sagte sie mit einer freundlichen und anmutigen Ueberlegenheit, die Frau Heideschmied entzückte. „Der Herr Pfarrer und der Herr Doktor und der Herr Direktor und seine Frau werden erscheinen. Nachmittags arrangieren Leopold und Franz eine große à la guerre-Partie im Billardzimmer. – Wollen Sie uns auch das Vergnügen machen, zu Tische zu kommen, Herr Bornholm?“

Er verneigte sich obenhin, in seiner spöttisch ablehnenden Miene war die Frage zu lesen: Ist das Ihre Sache, mich einzuladen?

Schnell und gleichsam zu ihrer Rechtfertigung setzte Elika hinzu: „Der Papa und die Tanten würden sich gewiß sehr freuen, Sie zu sehen.“

„Ja dann,“ er hatte immer noch seine spöttische Miene, „und wenn Sie es erlauben, werde ich am Nachmittag nach Velice kommen.“

„Zu Tische nicht?“

„Mit Ihrer Erlaubnis, am Nachmittag,“ wiederholte er ungeduldig.

„Auf Wiedersehen also!“ Elika stand auf und, als ob sie elektrisch mit ihr verbunden wäre, zugleich auch Frau Heideschmied.

„Auf Wiedersehen, meine, meine Kleine,“ sprach Luise, winkte sie zu sich heran, umschlang und küßte sie.

In Gnaden hatte Elika sich zu ihr herabgeneigt und sich ihre Liebkosungen gefallen lasten. Jetzt, wieder aufgerichtet, warf sie einen Seitenblick auf Bornholm und fragte: „Wie geht’s dem Hansl?“

„Gut.“

„Ist er brav und haben Sie ihn lieb?“

„Lieb? – er nützt mir und ich nütze ihm. Das hat mit dem Liebhaben nichts zu thun,“ erwiderte er trocken und abweisend. Es fehlte nur, daß er noch hinzugefügt hätte: Alberne Frage!

Elika zuckte traurig die Achseln, wendete sich und ging, wurde aber, ehe sie die Thür erreichte, von Luise eingeholt. Die nahm ihren Arm und begleitete sie die Treppe hinab. In der Halle blieben sie stehen und die Kleine sagte mit einem tiefen Seufzer: „Er ist noch sehr verwunschen!“

„Warum sind Sie so unfreundlich mit ihr?“ fragte Luise, die, in den Salon zurückkehrend, Bornholm auf seinem frühern Platze fand. Er hatte beide Hände in die Taschen gesteckt und schaukelte sich auf seinem Sessel: „Ich weiß es selbst nicht. Sie ärgert und langweilt mich. Sie hat etwas so Gouvernantenmäßiges. ‚Haben Sie ihn lieb?‘ Unerträglich fad, solche Sachen … Ich hab’ überhaupt nichts lieb. Ich kenne das nicht.“

„Sie kennen das nicht?“ wiederholte Luise ungläubig. – „Herr Bornholm, wenn ich ein Wort wüßte, das genau das Gegenteil von Selbstüberschätzung bedeutet, würde ich es Ihnen zurufen.“

„Es träfe mich aber nicht. Mich zu verleumden, liegt mir fern, gerade so fern wie es mir liegt, etwas zu bereuen“ … Er sprudelte es heraus mit unmotivierter Heftigkeit in unzusammenhängenden Sätzen: „Man ist wie man ist – kann es in schwachen oder, wenn Sie wollen, in hellen Stunden bis zur Verzweiflung bedauern, ändern kann man es nicht. Man kann nicht für sein Selbst … muß sich weiterschleppen mit diesem unzertrennlichen, miserablen Ich … Sie erschrecken? erschrecken Sie doch nicht!“

„Ja – auch ich kann nicht anders, auch ich bin wie ich bin, das heißt, in beständiger Angst, wenn sich jemand vor mir auf seinem Sessel schaukelt. Wollen Sie nicht die Güte haben, ruhig sitzen zu bleiben?“ Sie sprach es bittend, lehnte sich vor und sah ihn, der die Hände aus den Taschen gezogen und eine stramme Haltung angenommen hatte, heiter und freundlich an. Ihre Blicke ruhten ineinander, und die Härte und der Trotz des seinen milderten sich unter dem Einfluß der unendlichen Güte, die ihm aus dem ihren entgegen leuchtete.

„Jetzt haben Sie mir wieder wohlgethan,“ sprach er. „Sie übersehen das Unverbesserliche an mir und rügen eine üble Gewohnheit, die ich – in Ihrer Gegenwart wenigstens – ablegen kann.“

„Die Rüge war doch auch recht gouvernantenmäßig … Dank, daß Sie es mir verzeihen,“ kam sie der Einwendung zuvor, die er machen wollte. „Und jetzt muß ich Sie verabschieden. Ich habe noch viel zu thun und weiß nicht, wie ich’s in ein paar Stunden fertig bringe.“ Sie reichte ihm über dem Weißzeugberg die Hand, die er kräftig schüttelte.

[472] Elika fuhr nach Hause in ihrem eleganten Kutschierphaethon. Sie lenkte ein schönes, frommes Gespann. Neben ihr saß, eingewickelt in einen Mantel und in eine Wagendecke, die verkörperte, anbetende Liebe, Frau Heideschmied, und hinter ihr, auf dem Rücksitz, die Treue – Hanusch, der in den Dienst ihres Bruders Franz getreten und sich immer mehr zur Vertrauensperson qualifizierte. Wenn Hanusch dabei war, durfte Elika reiten und kutschieren welche Pferde sie wollte. – Wie bevorzugt schien sie vor den Mühseligen, die sie einholte, die ihr begegneten. Einigen, die freundlich grüßend auswichen, anderen, die mißgünstig und grollend zu ihr hinaufsahen und denen sie ausweichen mußte. Weiber, tiefgebeugt unter der Last schwerer, feuchter Gras- oder Reisigbündel, Bettler, Vagabunden, die alte Dorfbotin, die ihre Butte in Leinwandfetzen gehüllt hatte und sich mühsam schleppte …

O ja, ja! Elika, so rasch und sanft dahingetragen, so gut behütet, schien nicht nur, sie war bevorzugt vor ihnen allen und fühlte sich dennoch entsetzlich arm und verlassen. Was hatte sie diesem Bornholm gethan, daß er ihr allmählich den Mut, ihn anzusprechen, raubte? Nie war ihr Aehnliches begegnet, immer waren alle Menschen gut gegen sie gewesen … Die Schulkinder höchstens ausgenommen. Aber die, die zählten nicht. – Wenn sie sich feindlich gezeigt hatten, waren sie verleitet worden von Schlimmeren als sie. Auch ihnen galt das göttlich schöne, die Anklage in Verzeihung wandelnde Wort: „Sie wissen nicht, was sie thun“ … Und was man bedenken muß, und was ihr jetzt zum erstenmal so recht ergreifend aufs Herz fiel: die meisten von ihnen leiden, sind elend. – „Durch ihre eigene Schuld, es müßte nicht sein,“ hatte neulich der Herr Direktor gesagt, und Tante Renate hatte erwidert: „Ist es darum weniger ein Elend, nicht vielmehr das ärgste?“ Im Augenblick, in dem Elika das gehört hatte, war es an ihr vorbeigeflogen, ohne ihr einen Eindruck zu machen, und nun kam es wieder und haftete und beschäftigte sie. Zugleich besann sie sich auch, daß die Tanten, daß Apollonia das Gespräch immer abbrachen, wenn sie ins Zimmer trat während einer Konferenz, die mit dem Herrn Pfarrer und dem Doktor über Armenpflege abgehalten wurde. Man fand sie wohl zu jung, um ihr ein Urteil in solchen Dingen zuzutrauen, wollte sie schonen, ihr nicht weh thun durch den Einblick in das Leiden, von dem sie umgeben und bisher doch unberührt geblieben war … Bisher! Plötzlich begriff sie, was man ihr verbergen wollte, das Verständnis dafür kam wie durch ein Wunder. Thränen schossen ihr in die Augen. Sie wendete – was ein richtiger Kutscher doch nie thun darf – einen Moment den Blick von ihren Pferden und sprach zu Frau Heideschmied:

„Wenn man ein wundes Herz hat, das ist gut … Das ist wie wenn einem die Augen aufgehen würden, begreifen Sie? wie wenn ein Schleier sich verschieben würde … Das Herz hat eine dicke Haut gehabt und jetzt hat es eine feine! so feine!“

„Sie werden doch nicht ein wundes Herz haben, chère petite,“ erwiderte Frau Heideschmied, die sich an den einzigen klaren Satz in dieser Rede hielt, und war sehr beunruhigt, als Elika versicherte:

„Ich habe es.“

„Das vergeht, ich hoffe, daß es bald vergeht … Sie haben nur eine unangenehme Impression empfangen. Fort damit, denken Sie an etwas andres! Es giebt so viel Liebes, an das man denken kann!“ Par exemple mon mari bien-aimé, klammerte sie in Gedanken ein.

„Wenn jemand ungezogen ist – traurig für ihn. Ich möchte nicht Herr Bornholm sein … So deplorable Manieren hat nur ein mit sich selbst zerfallener Mensch; ein Mensch ohne Religion.“ Was hätte die vortreffliche Frau Heideschmied darum gegeben, diese Worte nicht ausgesprochen zu haben. Sie übten eine erschreckende Wirkung aus. Elika stammelte mit Entsetzen:

„Keine Religion?“ und sah ganz verstört drein. Empfindungen, viel zu lebhaft und mächtig für das junge zarte Geschöpf, spiegelten sich in ihren Zügen – ein so tiefer Schmerz, ein so furchtbares Grauen! Sie schwieg, aber was ging in ihr vor, wie schrecklich war ihr zu Mute! … Keine Religion! also das giebt es bei andern noch als bei den Kannibalen? … Keine Verbindung mit Gott, keinen Weg zu ihm? In Not, Krankheit, Gefahr keine Hoffnung auf eine Zuflucht … Ein hilfloses Menschenkind sein und keinen allmächtigen Vater haben, zu dem wir beten, zu dem wir schreien! Einen Vater, der hilft aus Erbarmen, oder Hilfe versagt aus Liebe, weil sein Kind des Leidens bedarf zur Stählung, zur Läuterung … Wenn ich nicht weiß, wozu ich leide, ist ja Leiden ertragen der bare, geschlagene Unsinn … Dann will ich nicht – dann geh’ ich … Die Betrachtungen der armen Kleinen endeten in dem heißen Stoßgebet: – Bewahre jeden Unglücklichen, der keine Religion hat, vor schweren Leiden, allgütiger Gott!




Das Programm, das Leopold und Franz für den Regentag entworfen hatten, wurde nicht eingehalten; die à la guerre-Partie blieb aus. Elika hatte einen langen Brief von Joseph bekommen und Bornholm brachte einen nicht viel kürzeren mit, der für ihn eingetroffen war. Joseph kündigte die Ankunft neuer Sendungen an. Er hatte sie dieses Mal nach Velice dirigiert. „Packt sie aus, Kinder,“ schrieb er an die Geschwister, „putzt meine Zimmer und, wenn es Euch freut, auch die Euren mit Kriegerschmuck aus Südaustralien auf. In zwei Jahren, in einem vielleicht, bin ich wieder da und bewundere Euer Werk. Nebenbei führe ich dem Papa, wenn er’s erlaubt, die Wirtschaft und möchte Euch nur alle wiederfinden gesund und glücklich, und die Jungen älter und die lieben guten Alten jünger geworden.“

Dann kündigte er an, daß längere Zeit vergehen werde, bevor wieder eine Nachricht von ihm in die Heimat käme. Wenn seine Briefe in Velice und Valahora gelesen würden, wo war er da? Er wußte es jetzt selbst noch nicht. Ein englischer Naturforscher unternahm in einiger Zeit, gut begleitet und ausgerüstet, eine Expedition in das Innere des Landes und hatte Joseph aufgefordert, sich ihm anzuschließen. Er ließ sich das nicht zweimal sagen.

Wieder eine große und gefahrvolle Reise! Die Damen seufzten sorgenvoll, den beiden jungen Herren brannten die Köpfe. Er war doch ein glücklicher Mensch, ihr Joseph. Sie gönnten es [474] ihm von ganzer Seele, hätten aber gar zu gern an seinem Glücke nicht bloß in Gedanken teilgenommen.

Heute war nur noch von ihm die Rede, von Abenteuern, die Bornholm und er miteinander bestanden hatten, und in denen Levin die führende Rolle immer seinem Freunde zuwies. Der sonst Wortkarge, Zurückhaltende – ein wahres Chamäleon, dieser Mensch – erzählte mit Schwung und Wärme. „Joseph kann und versteht alles,“ sagte er, „hat eine beneidenswerte Gabe, die Eingeborenen zutraulich und sogar anhänglich zu machen. Mit Tieren umzugehen habe ich erst von ihm gelernt.“

„Hansl,“ sagte Elika leise.

„Er hat zuwege gebracht, was noch keinem vor ihm gelungen ist, er hat einen Beutelmarder gezähmt. Zwei Dingos gehorchen ihm, wie Ihnen Ihre Jagdhunde, schlafen vor seiner Thür. Merkwürdige Tiere, schweigende Kämpfer, haben keinen Laut für den gräßlichsten Schmerz und erheben manchmal des Nachts ohne scheinbaren Grund ein höllisches Geheul. Vielleicht gewöhnt er ihnen das auch noch ab mit seiner Strenge, seiner Geduld. O, man kann von ihm lernen! Er ist in noch ganz andern Dingen mein Lehrmeister gewesen. Der seine aber war der Abscheu vor der unmenschlichen Grausamkeit der Europäer gegen alle lebendigen Urbewohner des ältesten, von den ‚Segnungen‘ der Civilisation am längsten verschonten Weltteils. Ja, wenn es mehr solche gäbe wie Joseph … Doch sind ja seinesgleichen, der beliebten Phrase nach, nur zur Bestätigung der Regel da.“

„Und um Sie Lügen zu strafen,“ sagte Luise zu ihm – während die Aufmerksamkeit der anderen einen Augenblick durch eine Diskussion, die sich zwischen Franz und seinen Geschwistern über die Zähmung eines eingefangenen Marders erhoben hatte, abgelenkt wurde – „den haben Sie lieb.“

„Ich hab’ es eine Zeit lang selbst geglaubt, ich habe mir sogar eingebildet, daß der Abschied von ihm mir schwer geworden ist und daß der brave Bursche mir abgehen werde. Täuschung! Es war, wie es bei mir immer ist – aus den Augen, aus dem Sinn. Wenn man jemand lieb hat und ist von ihm getrennt, müßte man doch, scheint mir, manchmal denken: Schade, daß er dies oder jenes nicht mit ansieht, mit erlebt … Nun, gestern habe ich darüber nachgedacht, warum mir das in Bezug auf Joseph nie eingefallen ist.“

„Sie haben sich vielleicht nur keine Rechenschaft davon gegeben.“

„Was – Rechenschaft? Ich weiß doch wessen ich mich besinne. Nein, in mir schlägt keine Neigung Wurzel, das ist vorbei, oder ist vielmehr, ehe sich’s entfalten konnte, im Keim vernichtet worden. Welke vor der Blüte, ich sagt’ es Ihnen schon einmal und kann es nicht oft genug wiederholen! Halten Sie mich nur ja nicht für zuverlässiger als ich bin, sonst erleben Sie eine schreckliche Enttäuschung und wenden sich, noch bevor ich von hier wegziehe, von mir ab.“

Kurzsichtigkeit oder Egoismus? Wie ihr dann zu Mute sein werde, danach fragte er nicht. Er forderte sie nur auf, ihn zu ertragen mit all seinen Launen, ihn zu zerstreuen, ihm wohlzuthun. Wenn aber sie nach Frauenart für den, der ihrer bedurfte, dem ihr Umgang ein Segen war, ein warmes Interesse faßte, ihn kümmerte und verpflichtete das nicht. Uebers Jahr kehrte er nach seinem Australien zurück und sie mochte sehen, wie sie mit sich fertig wurde … Hatte er auch für Elika kein Auge? ahnte er nichts von dem, was in ihr vorging, nichts von der schwärmerischen Neigung, die das Kind ihm weihte? Ein gutes Wort, das er ihr gönnte, machte sie reich für Tage. Ließ er sich, was nun doch manchmal geschah, in ein Gespräch mit ihr ein, leuchtete das helle Glück ihr aus den Augen. Die verwöhnte, von allen auf Händen Getragene floß über von Dankbarkeit für ihn, wenn er sie nur nicht mißhandelte.

Einmal hatte sie eine Anwandlung von Tollkühnheit und wagte ihn zu fragen, ob er wirklich keine Religion habe.

Er, weder bös noch erstaunt, sondern eher belustigt, erwiderte: „Eine Gewissensfrage! Sie können eben das Erziehen nicht lassen, freilich, wenn man so glänzende Resultate aufzuweisen hat … Sie haben doch Ihre Brüder erzogen und Ihre Großtanten.“ Er hatte einen seiner allerbesten Tage, einen von den allerseltensten, und da sie schon angefangen hatte, kühn zu sein, blieb sie dabei und sagte:

„Das ist alles nichts, das machte sich alles von selbst. Sie zu erziehn sollt’ mir gelingen – das wäre was!“ –

Die ersten Fröste kamen, man winterte sich ein. Der eifrigste Eis- und Schneesport wurde getrieben, und wenn Bornholm alle übertraf an Verwegenheit und Geschicklichkeit, triumphierte Elika.

„Ihr liegt an uns gar nichts mehr,“ sagte ihr Franz bei einer solchen Gelegenheit ins Ohr, „ihr liegt nur noch an Bornholm.“

Kein Spaß, der vollste Ernst des guten Jungen. Er blickte sie finster aus seinen tiefblauen Augen an und benetzte ein paarmal rasch nacheinander die vollen roten Lippen, die ihm trocken geworden waren, mit der Zunge.

Elika geriet sogleich in eine ihr selbst unerklärliche Empörung: „Wie dumm du bist, wie dumm! Du bist ein sentimentaler alter Bär.“

Er murmelte unverständliche Worte und ging seiner Wege, und sie wunderte sich wieder über sich selbst, weil ihr Zorn ihr so geschwind abhanden kam. Er war gestiegen wie eine Rakete und erlosch wie ein ausgeblasenes Kerzchen.

In den Augen ihres Franz, ganz tief drinnen war etwas verschleiert Schmerzvolles gewesen, das ihr Gewissen rührte und ihre Zärtlichkeit wach rief. Sie eilte ihm nach, faßte ihn beim Aermel, schüttelte ihn und sagte: „Alter Franzl, guter, alter, dummer Franzl.“

„Dumm du selbst,“ war seine Antwort. Er gab sie ihr über die Achsel, recht von oben herab, aber wie ein Hauch unendlicher Liebe kam mit diesen Worten und mit diesem Blick über sie geströmt. Zwischen ihnen war alles wieder wie es sein mußte, wenn sie Freude am Leben haben sollten.

Sie hat später die Regung gebenedeit, die sie damals antrieb, ihm nachzulaufen und in ihrer Weise zu versichern: „Wir bleiben die alten, wir zwei.“

Im Grunde waren alle Herren von Kosel eifersüchtig auf Bornholm und konnten doch der Anziehung nicht entrinnen, die er auf sie selbst ausübte. Sie hatten sich schon mehr an ihn gewöhnt und hatten eine größere Sympathie für ihn, als sie selbst wußten.

„Er ist der einzige, der euch malträtiert, das macht ihn euch unentbehrlich,“ behauptete Charlotte. „Jeder Mensch hat das Bedürfnis, manchmal malträtiert zu werden.“

Leopold war anderer Meinung: „Unentbehrlich ist er uns nicht, aber man erträgt ihn und seine widerwärtig wechselnden Stimmungen, weil er einem, Gott weiß wodurch, die Ueberzeugung einflößt: Wenn man in eine schwierige Lage geriete, von allen verlassen wäre, auf den könnte man zählen, der stände treu zu einem.“

„Schon aus Trotz gegen die Mehrheit,“ bemerkte Heideschmied, der Levin nicht gewogen war und dessen Einfluß auf die jungen Leute fürchtete.

Eine Gönnerin hingegen hatte Bornholm an Tante Renate. „Er mag sein wie er will, eines ist er gewiß: er ist wahr wie der Tag,“ sagte sie. Von dem unmoralischen Leben, das er geführt haben sollte, von seiner Glaubenslosigkeit redete sie nicht. Sie betete für ihn.

Noch ein wahrhaft Frommer hatte nie ein Wort der Verdammnis des notorischen Atheisten, und das war der alte Herr Pfarrer. Ihm gegenüber blieb Bornholms Benehmen ausnahmsweise immer gleich zuvorkommend und ehrerbietig. Eine und dieselbe Erinnerung ergriff beide mit Macht, wenn sie einander trafen, die Erinnerung an die Sterbestunde der Mutter Levins. Für diesen lagen durchstürmte Jahre dazwischen, eine lange nutzlos vergeudete Zeit, seine ganze wüste Jugend, aber ein Blick in das Angesicht des greisen Priesters und ein ergreifendes Bild erhob sich vor ihm. Er sah ihn am Lager einer Scheidenden stehen und ihr die letzte schwere Stunde in eine trostvolle wandeln, und ihre Todesbangigkeit in seligste Hoffnung und himmlische Zuversicht. Das vergaß er ihm nie, seine Dankbarkeit dafür war unerschöpflich, und der alte Herr, der ihm anfangs aus dem Wege gegangen war, überwand jetzt die Scheu, Anstoß zu erregen durch den Verkehr mit einem Menschen, der nie eine Kirche besuchte. Er brachte manchen Nachmittag bei ihm zu und machte sich nützlich beim Ordnen der Sammlungen, die [475] Bornholm dem naturhistorischen Museum seiner nordischen Vaterstadt bestimmte.

Einmal ließ Bornholm, sonst die Pünktlichkeit selbst, ihn warten. Der geistliche Herr wurde nicht ungeduldig, es war ihm fast lieb. Er hatte keine Eile, die Botschaft zu bestellen, die ihm aufgetragen worden war. Endlich kam Levin, heiß vom scharfen Ritte, von quälenden Gedanken sichtlich eingenommen. Mit ungewohnter Hast brachte er eine Entschuldigung vor. Er hatte sich, wie der in der alten Ballade, Ruh’ erreiten wollen, es war ihm nicht geglückt.

So, ei, ei, Ruhe, du Armer, dachte der Pfarrer und lenkte vorerst das Gespräch auf die Verwendung der letzten großmütigen Spenden, die ihm Bornholm für die Armenanstalten in Valahora und in Vrobek zur Verfügung gestellt hatte.

Mit unterdrückter Ungeduld erwiderte Levin, daß er Hochwürden schon gebeten habe, mit dem Gelde nach eigenem Ermessen zu schalten und zu walten. Nur eines sei zu beobachten: die Herren, Bauern und Häusler dürften nicht wissen, woher es kam. Bei ihrer Bigotterie wären sie imstande, es zurückzuweisen, weil es von einem Ketzer kommt. Der Pfarrer leugnete nicht. Diese Worte bauten eine Brücke zu dem, was er Bornholm zu sagen hatte, und er gestand, es sei schwer mit den Leuten und tiefbetrübend, was sie oft als Verletzung oder als Erfüllung ihrer Christenpflicht ansähen.

„Ich habe heute ein Beispiel davon gehabt,“ versetzte Bornholm mit bitterem Hohne. „Ich traf den Schullehrer und kündigte ihm für morgen meinen Besuch in der Schule an. Er verfärbte sich. Er hat ehrliche blaue Kinderaugen, dieser Schullehrer, und ein gutes offenes Kindergesicht und dabei doch einen Zug um den Mund, der sagt: Ich hab’ schon auch meine Kämpfe bestanden … Sie erraten was kommt, Hochwürden. Beschworen hat er mich, fern zu bleiben von der Schule, ein Ketzer hat in der katholischen Schule nichts zu suchen, würden die Eltern sagen.“

Der Pfarrer neigte den Kopf ein wenig zur Seite; aus seinen festen Zügen, die einen strengen Ausdruck anzunehmen vermochten, sprach jetzt nur Weichheit und ein inständiges Bitten: Verzeih, daß ich dir weh thun muß. „Gehen Sie also nicht in die Schule, und, lieber Herr Bornholm, gehen Sie auch nicht mehr zu Fräulein von Kosel.“

Levin fuhr zurück: „Warum? … Was bedeutet das?“ …

„Etwas Trauriges, lieber Herr Bornholm. Sie ist doch bestimmt, hier zu leben, natürlich, sie hat kein anderes Zuhause. Sie muß trachten, auszukommen mit den Leuten, das ist das Ganze, lieber Herr Bornholm. Wenn Sie aber alle Tage hingehen zu ihr, wie Sie leider seit Monaten thun, das macht ihr das Leben hier unter den Leuten schwer.“

„Oho, da werde ich doch ...“

„Nichts werden Sie, lieber Herr Bornholm, weder in Güte noch mit Gewalt werden Sie. Der Haß gegen Sie ist ein Erbe, das Ihr Herr Vater Ihnen hinterlassen hat, und nach seinem Ableben ist von Ihnen aus nichts geschehen, um die Herzen zu gewinnen. Sehen Sie, das geht weit, und sogar unseren Herrschaften wird es übelgenommen, daß sie mit Ihnen umgehen. Wie nun erst einem alleinstehenden Frauenzimmer. – Lieber Herr Bornholm, so widerwillig ich’s thue, geschehen muß es doch, und sagen muß ich Ihnen: Fräulein von Kosel ist gestern am Tage Mariä Verkündigung vor der Kirchenthür be …“ er verwandelte das Wort, das auszusprechen er schon im Begriffe war, noch rasch in ein weniger starkes, „beleidigt worden. Einige Weiber fragten, was sie in unserer Kirche zu suchen habe – sie solle in die Ketzerkirche gehen … Fräulein von Kosel hat gestern an dem großen Feiertage der heiligen Messe nicht beiwohnen können.“

Bornholm hatte ihn während er sprach unablässig mit glühenden, zornsprühenden Augen angestarrt. Plötzlich beugte er sich vor, faßte die ineinander gefalteten Hände des Priesters und preßte sie mit solcher Gewalt, daß der Greis sich vor Schmerz auf seinem Sessel wand. „Und ich war heute bei ihr,“ stöhnte Levin, „und sie hat mir nichts davon gesagt. Begreifen Sie das, Hochwürden? Begreifen Sie diesen Heldenmut, diese Barmherzigkeit?“




Der Pfarrer hatte noch vieles auf dem Herzen und nahm das Anerbieten Bornholms, ihn nach Hause zu begleiten, gern an. Eine Weile wanderten sie schweigend nebeneinander. Unter allen, die ihnen begegneten, war keiner, der nicht durch irgend ein Zeichen sein Staunen oder sein Bedauern darüber zu verstehen gegeben hätte, daß der geliebte und verehrte Seelsorger sich in der Gesellschaft Bornholms treffen ließ.

„Ist die Mißstimmung der Leute gegen Sie immer so arg gewesen?“ fragte der Pfarrer endlich.

„Ich glaube ja, ich habe keine Notiz von ihr genommen.“

„Wenigstens hat sie sich früher nicht getraut, sich so offenkundig zu äußern. Es muß jemand da sein, der die Leute gegen Sie aufhetzt.“

„Wahrscheinlich besorgt das mein Bartolomäus. Ich bin kein bequemer Herr, am wenigsten für den alten Stützkopf, der seit Jahren gewohnt ist, selbst Herr zu sein. Ein Greuel sind ihm die Sendungen aus Australien. Das gottlose Zeug verpestet ihm die Zimmer; er hält jedes Fell, das ich auspacke, für eine gegerbte Menschenhaut oder doch ein Stück davon und wollte gestern durchaus einen Fischerspeer begraben, weil er behauptete, seine Spitze sei aus Menschenknochen gemacht. Ich muß nur trachten, diese Sachen bald fortzubringen, um sie vor ihm zu retten.“

„Unsinn, das ist ja lauter Unsinn, was der sich einbildet! Freilich hat der Unsinn leider Gottes viel dreinzureden in dieser Welt. Aber, lieber Herr Bornholm, es wird doch auch noch manches andere geben …“

„Es giebt die Geister der Vergangenheit, die Erinnerung an die Bedrückung, die die Eltern dieser Leute durch meinen Vater erfahren haben … und dann meine Jugend, mein eigenes, tolles, frevelhaftes Treiben … das lebt alles wieder auf.“

„Freilich, freilich,“ sagte der Pfarrer zögernd, „es ist damals viel gesündigt worden, das sich vor den Menschen nicht wieder gut machen läßt. Die schleudern dann ihren Bannfluch. Verzeihen Sie, lieber Herr Bornholm, ich bin nicht Ihr Seelsorger, ich bin gar nicht befugt … wenn ich aber schon so viel gesagt habe, will ich noch mehr sagen, will ich alles sagen. – Gehen Sie auch nicht mehr nach Velice, lieber Herr Bornholm … Wegen der jungen Leute. Wenn ich schief angesehen werde – ich halt’ das aus. Die jungen Leute, die … Es sind doch erst ein paar Jahre, seitdem Frieden – vielleicht sogar nur ein fauler – zwischen ihnen und denen im Dorfe herrscht. Soll der wieder gestört werden, wäre das gut? Sie finden gewiß, daß es nicht gut wäre, lieber Herr Bornholm.“ aaZagend wendete er sich zu ihm.

Levin erwiderte seinen Blick nicht, er nagte an der Unterlippe und sah starr in die Ferne. Wieder schwiegen beide, und an der Thür des Pfarrhausgartens angelangt, verabschiedeten sie sich kurz. Der Pfarrer hatte aber noch nicht dreißig Schritte gemacht, als er Bornholm rufen hörte: „Halt, Hochwürden, halt!“ Er blieb stehen und erwartete den Heraneilenden.

„Wollen Sie mir erlauben, Ihnen die Hand zu drücken?“ fragte Bornholm.

Der Priester reichte ihm die Rechte: „Da, aber nicht so arg wie früher.“

„Leben Sie wohl, Hochwürden,“ sprach Bornholm langsam und ernst und verließ den Garten. Der Geistliche sah ihm nach und zuckte bekümmert die Achseln, als er ihn die Richtung nach dem Schlosse einschlagen sah. Er hatte ihn doch gebeten, nicht mehr hinzugehen. Aber welchen Eindruck macht die Bitte eines Dieners des Herrn auf solch einen Ungläubigen?




Wie schon der Tag wächst! wie rasch dem längsten entgegen, und drüben in der Kolonie, dem kürzesten … „Drüben,“ sagt Bornholm noch heute, wenn er an seine zweite Heimat denkt, an seinen Garten mit den herrlichen fremdartigen Blumen, den silberblätterigen Akazien, den Riesenbäumen mit Palmenschäften, Laubwerkkränzen, majestätischen Kronen … Er denkt an den blauen, südlichen Himmel, die klare, durchsichtige Luft, in der Auge und Ohr geschärft scheinen, den tiefen, göttlichen Frieden einer australischen Landschaft. Er hat sich ihm dort drüben doch zeitweise ins Herz gesenkt, dieser Frieden. An den Stätten seiner Kindheit und seiner Jugend blüht er ihm nicht mehr. –

[476] Der weithintönende Schlag der Schloßuhr verkündete die sechste Stunde, als er den Park erreichte. Die Vögel zwitscherten; unscheinbares Völkchen, bettelhaft angethan im Vergleich mit ihren Geschwistern auf der andern Hemisphäre, aber was ersetzt den Wohllaut, der den Kehlchen dieser kleinen Sänger entströmt? – Die Sonne war untergegangen, ein lauer Dunst entstieg dem Boden, das junge Grün an Bäumen und Sträuchern prangte in Kraft und Saft, das Riedgras blühte und die Veilchenbeete dufteten.

Bornholm schritt langsam dem Schlosse zu. Vor der Einfahrt lungerten einige Diener, die seine Frage, ob Herr von Kosel zu Hause sei, bejahend beantworteten, indes keine Anstalt trafen, ihn anzumelden.

Er ging hinauf (ihm das zu wehren, wagten sie nicht), fand im Vorgemach Balthasar so fest eingeschlafen, daß es ihm leid that, ihn zu wecken, und er an ihm vorüber bei Kosel eintrat. Wie gewöhnlich war die Portiere zwischen den zwei Zimmern zurückgeschlagen, er sah Elika am Schreibtisch ihres Vaters sitzen, vor einem großen liniierten und rubrizierten Bogen. Sie hatte die Thür gehen gehört und den Kopf gewendet. Der Besuch Bornholms schien sie nicht zu überraschen, mit wenigen, ruhigen Worten sagte sie, der Papa werde gleich kommen, er sei in der Bibliothek mit dem Buchbinder, der einige Bände Zeitungen gebracht habe.

„Ich habe die Namen und Nummern hier einzutragen in den Katalog. Aber wollen Sie sich nicht setzen?“

Levin hatte eine Regung des Mitleids. Armes Ding, das einen Zeitungskatalog führen muß. Armes fünfzehnjähriges Ding …

Sie hatten vor dem runden Tisch auf den grünen Fauteuils mit den Metallknöpfen, die Tante Charlotte so albern fand, Platz genommen. „Ich komme, um Abschied zu nehmen,“ sagte Bornholm. „Ich habe mich entschlossen, meine Sammlungen doch selbst zu überbringen. Es ist besser und,“ fügte er mit forciertem Humor hinzu, „mit weniger Mühsal verbunden, als der Transport dieser Sachen auf Buschwegen gewesen ist.“

Elika hatte alle Mühe gehabt, ihre Bestürzung zu verbergen, es war ihr aber so ziemlich gelungen. „Und wann werden Sie abreisen, Herr Bornholm?“ fragte sie.

„Morgen, ganz früh. Ich habe Nachrichten erhalten, die mich zwingen, meine Reise so bald als möglich anzutreten.“

Ich weiß, dachte Elika, was für Nachrichten das sind. Ich weiß, was dich forttreibt. Ihr heißes, grenzenloses Erbarmen mit ihm erfaßte sie wieder. Er brauchte sie nur anzusehen, um zu wissen: die täuschest du nicht über den Grund deiner Flucht, die kennt ihn.

„Ich bitte Sie,“ sprach er hastig, „mich bei Ihrer Tante Luise zu entschuldigen. Ich finde nicht mehr Zeit zu einem Gang nach Vrobek, es ist unmöglich … Unmöglich,“ wiederholte er einen Augenblick völlig abwesend. „Haben Sie die Güte, ihr meine Empfehlungen zu bestellen und meine Verehrung, meinen Dank.“

Herr von Kosel erschien und war sehr unangenehm berührt, Levin da und allein mit Elika zu finden. Ein „Schön, das ist ja schön,“ als er den Zweck von Bornholms Besuch erfuhr, verriet seine innersten Gefühle. „Nach Norwegen. Ja, nach Norwegen also. Und dann? ja wohin dann?“

Die Antwort blieb aus.

„Das arme Valahora,“ sprach Elika, „und der arme Hansl. Wollen Sie ihn während Ihrer Abwesenheit nicht uns …?“

„Er ist versorgt,“ unterbrach sie Bornholm. „Er hat einen vortrefflichen Hüter, den Bruder Ihres Hanusch.“

Noch ein paar gleichgültige Reden, in die Kosel einige Sympathiekundgebungen für Norwegen einflocht. Insbesondere für den Glommen-Elf, in den er mit allen seinen Gedanken versank.

„Sie gehen nach Norwegen und dann nach Ihrem Neusüdwales. Sie wollen Luise nicht leiden machen,“ sagte Elika leise und hatte einen Ausdruck von rührender Hingebung. Es brannte ihr förmlich auf den Lippen: Wie gern würde ich für dich leiden, dich erheben, erlösen, durch mein Leiden für dich!

Aber dieses Glück war ihr nicht gegönnt, unerlöst zog er wieder fort nach dem fremden Weltteil, so arm an Glück wie er gekommen war, ohne Freude an der Gegenwart, ohne Hoffnung auf die Zukunft. Sie hätte alles für ihn thun mögen und durfte doch nicht einmal zeigen, wie er ihr leid, nicht zu viel von ihm sprechen, sie mußte ihren ganzen großen Schmerz wie etwas Unrechtes, Unwürdiges verbergen. Diese Nacht hindurch schloß sie kein Auge; eine Seele wenigstens sollte mit ihm wachen. Er hatte keine Zeit zur Ruhe vor dieser überstürzten Abreise, zu der die Bosheit der Menschen ihn zwang … Und vielleicht nicht die allein, es gab vielleicht noch einen andern Grund … Armer Bornholm! Armer Bornholm! Elika schluchzte plötzlich auf. Nein, nicht „vielleicht“ – sicher und gewiß! Er war gegangen, weil er Luise liebte und ihr doch nicht sagen durfte: Verlassen Sie Ihre Heimat und alle, die Ihnen teuer sind, und kommen Sie mit mir! Wem hätte sie diese schweren Opfer bringen sollen? Einem launenhaften, verdüsterten Menschen, der sie ihr nicht zu danken, ihr das Leben nicht leicht zu machen vermöchte. – Nein, nein, er durfte so nicht sprechen, zu Luise nicht! … Freilich, wenn er zu ihr – Elika so gesprochen hätte, das wäre etwas andres gewesen, und wie ihre Antwort gelautet hätte, wußte sie wohl … Aber sie war ja für ihn nur ein dummes, kleines Mädchen …

Am nächsten Tage kam Bartolomäus äußerst vergnügt mit Hansl und seinem Wärter nach Vrobek. Der Herr Bornholm war abgereist und schickte da das Pferd. Das Fräuln möge den Hansl beliebig verwenden, als Reit-, Wagen- oder Arbeitspferd, er wäre ganz fromm. Für alles, was er brauchte, habe sein Wärter zu sorgen, das sei alles aufs beste eingerichtet. Das Fräuln wolle nur gütigst den beiden einen Unterstand geben im Meierhof.

Leopold fand, daß die Uebersendung Hansls eine Kühnheit sei. „Ich habe aber kühne Menschen gern, und du auch, Tante Luise,“ sagte er zu ihr und lachte. Seine Zähne blinkten so weiß und hell, daß es eine Freude war, und seine lieben Augen blickten die Tante, um Verzeihung bittend, an.

„Und ich auch,“ sprach Luise ruhig und tapfer.

Das begab sich im Stall der Meierei, in dem Schekinka II und Hansl friedlich nebeneinander standen, bis an die Bäuche in Stroh, und die Huldigungen sämtlicher Mitglieder der Familie Kosel empfingen.

Elika sah abwechselnd von Hansl zu Luise hin. Die Tante erschien ihr anders als sonst, verjüngt, verschönt. Sie wurde geliebt von Joseph und von Bornholm. Geliebt werden, was ist das für eine große Sache – die größte auf Erden.

0000000000– – 000000000

Wieder war es Herbst geworden. Ueberlang ließ eine Nachricht von Joseph auf sich warten. Alle waren besorgt, keiner wollte es zeigen, keiner die Besorgnisse der anderen wecken. Endlich, knapp vor Leopolds nun unwiderruflicher Abfahrt nach Wien, kam die bündige Kunde: „Wir sind alle gesund, Reise erfolgreich, ausführliche Nachricht folgt bald. Ausführlichste übers Jahr, die bringe ich Euch selbst.   Euer Joseph.“

Als Leopold vor der Abreise seine Abschiedsbesuche machte bei den Würdenträgern und bei den Hausgenossen, begleitete sein Vater ihn überall hin. Er wünschte offenbar etwas von ihm, sprach es aber nicht aus. Erst als Leopold sich aus den Armen Apollonias gerissen hatte, die ihn zwar nicht losließ, aber fortwährend rief: „Geh, mein Goldkind, geh, ich komme ja noch zum Wagen!“ sagte Kosel:

„So also, so, und jetzt zu deiner Mutter!“

„Da war ich schon, Papa, da war ich zuerst.“

„Ja, zuerst? … das ist also ganz recht,“ und er klopfte ihm auf die Schulter, was nur in den seltensten Fällen geschah.

Der Phaethon fuhr vor, der Hof füllte sich mit Getreuen, die Leopold noch einen Gruß zurufen wollten. Nun fiel es Herrn von Kosel ein, daß er ja seinen Sohn auf die Station begleiten könne:

„Ja, komm, komm!“ rief Leopold. „Lebt wohl, alle, alle! Auf Wiedersehen!“ Sein letzter Blick, sein letzter Wink galt der armen Kleinen, die regungslos dastand und wartete, bis der Wagen hinter den Gebüschen des Parks verschwand. Dann rannte sie hinauf und ans Fenster ihres Zimmers, und sah ihm nach, so lange er auf der Straße noch zu erblicken war.

Auf Wiedersehen, ja – so Gott will! Das war keine Trennung wie die von Joseph, aber ein Abschnitt im Leben, ein Scheiden aus dem Vaterhause war’s. Zu Besuch wird er kommen, aber daheim sein bei ihnen nicht mehr!

[478] „Adieu!“ rief sie hinaus, dem kleinen schwarzen Punkte nach, der jetzt noch einmal auf der steilen Anhöhe der Bahnhofsstation zum Vorschein kam. Nie, niemals wird sie vergessen, wie ihr zu Mute war, als sie den kleinen schwarzen Punkt nicht mehr sehen konnte. Kein Ereignis des späteren Lebens, kein Schmerz, kein Glück wird den Eindruck je verwischen, den sie damals empfing. O, welch ein Herz voll Liebe fuhr ihr davon über die Berge!




Die Gedanken der beiden Tanten waren einmal wieder mit einer und derselben Sache beschäftigt. Sie lag, sozusagen, auf der Hand und gehörte zur großen Familie des Selbstredenden, das früher oder später zu Worte kommt, dem aber eine kleine diskrete Nachhilfe manchmal auch nicht schadet. Dieses Selbstredende war, daß Felix und Luise ein Ehepaar werden müßten. Er sollte nicht für den Rest seines Lebens ein Witwer bleiben, und Luise, die zum Ebenbild der evangelischen Hausfrau geschaffen war, sollte nicht ein altes Mädchen werden. In Felix durften ähnliche Erwägungen wohl schon aufgedämmert sein, und mehr als einmal hatte er angefangen, seiner anmutigen Verwandten den Hof zu machen. In seiner Art natürlich. Geschmachtet oder gestürmt hatte er nicht, sondern immer nur plötzlich entdeckt, daß es sich gehöre, Luise oft zu besuchen und sich ihr in ihrer kleinen Oekonomie nützlich zu machen. Das letztere vergaß er aber regelmäßig und auch das erste nur zu bald, und so geriet die Angelegenheit immer wieder ins Stocken.

Einige Monate nach der Abreise Bornholms trat – ohne Zweifel infolge einer kleinen diskreten Nachhilfe – ein neuer Aufschwung ein.

Luise hatte die leise Schwermut überwunden, von der sie eine Zeit lang befangen gewesen. Im Hause Kosel wurde Levin in ihrer Gegenwart nie mehr genannt, und auch sie erwähnte seiner nicht. Trotzdem waren die Tanten überzeugt, daß sie ihn in Erinnerung bewahre und wahrscheinlich immer bewahren werde. Er wird für sie das Interessante, das Exotische bleiben, der ungewöhnliche Mensch, in den man sich allenfalls verlieben kann, den man aber nicht heiratet.

„Das Gegenteil von Felix,“ fiel Charlotte in diese Worte ihrer Schwester ein, und Renate versetzte:

„So ist es.“

Sie feierten beide in aller Demut stille Triumphe, wenn sie ihren Neffen jetzt täglich um zehn Uhr vormittags in jedem Wetter aufs Pferd steigen und Vrobekwärts traben sahen.

Es vergingen wieder ein paar Monate und Renate sprach zu Charlotte: „Hast du bemerkt, bestes Herz, wie liebreich er sie gestern angeschaut hat?“

„Darauf,“ erwiderte Charlotte, „ist kein großer Wert zu legen. Er schaut auch mich liebreich an, wenn er gerad’ an eine Zeitung oder an eine Papiermühle denkt. Er hat einmal eine so liebreiche Zerstreutheit. Und gestern, ich muß es dir doch sagen, hat die arme Luise mir gestanden, daß er ihr mit seinen langen Vormittagsvisiten mehr Zeit raubt als er verantworten kann, und dabei eine Portion Langweile produciert, die alle Begriffe übersteigt.“

Renate fühlte sich ein wenig verletzt: „Amüsant ist er freilich nicht; aber geliebtes Herz, wer heiratet denn, um sich zu amüsieren? Das ist doch nicht der Zweck der Ehe. Uebrigens werde ich noch heute mit ihm sprechen.“

Sie that es, und das wurde der denkwürdige Tag, an dem Felix seine Cousine Luise fragte, ob sie seine Frau werden wolle: „Die Tanten meinen,“ setzte er hinzu, und seine rosenroten Wangen bekamen einen Stich ins purpurfarbige, „daß du die beste Frau für mich sein wirst.“

Luise sah ihn freundlich und gelassen an und reichte ihm beide Hände. Er ergriff sie nicht, er legte nur die kühlen, schlanken Finger seiner Rechten in diese kleinen, feinen Hände, und seine Züge hatten den Ausdruck schüchterner Verwunderung, den sie so oft annahmen. Luise hielt seine Finger fest und streichelte sie:

„Lieber Felix, sind wir nicht gute Freunde von Jugend auf und ist das nicht etwas Vortreffliches? Soll man am Vortrefflichen etwas ändern wollen?“

Er fand nicht gleich eine Antwort. Nach einer Pause erst kamen die zögernd gesprochenen Worte: „Gute Freunde können wir ja bleiben, auch wenn wir heiraten … und die Tanten meinen, du wärst die beste Frau für mich.“

„Ich meine das nicht,“ erwiderte sie, „und du selbst … Die beste Frau, die es für dich geben konnte, hast du verloren, mein armer Felix.“

Er zuckte zusammen und atmete tief auf: „Die hab’ ich verloren, ja!“ und nun war er’s, der ihre Hand ergriff und herzlich drückte. „Die hab’ ich verloren,“ wiederholte er, erhob sich und ging wie im Traum der Thür zu. Dort blieb er stehen, wendete den Kopf und sprach: „Sag’ du das auch den Tanten.“

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Der angekündigte Reisebericht Josephs traf in Velice zugleich mit einem Briefe von ihm für Luise ein. Elika schickte ihn und kam ein paar Stunden später selbst nach Vrobek. Ihre Wangen glühten, ihre Augen leuchteten. Sie hielt Luisen die mit Josephs ungelenker Steilschrift bekritzelten Blätter entgegen:

„Lies! was für ein Mensch das ist! O, die Strapazen, die er ausgehalten, die Gefahren, die er bestanden hat. Und wie er das erzählt, als ob es gar nichts wäre und als ob jeder andre es auch könnte. Lies, und gieb zu lesen! Wo ist sein Brief an dich? darf ich um ihn bitten?“

Luise war rot geworden, zögerte einen Augenblick, griff dann entschlossen in die Tasche und reichte ihr das Schreiben hin: „Lies laut,“ sagte sie, „es ist mir lieber,“ und Elika las:

„Du sollst wissen, meine liebste Tante Luise, daß ich mich ganz umsonst auf die Rückkehr meines Freundes Levin gefreut habe. Es ist bloß die Hälfte von ihm zurückgekommen und nicht die bessere – nur sein Futteral. Dieses reitet täglich drei Pferde müd’, inspiziert Wollstationen, ißt, trinkt, schläft gewohnheitsmäßig, die Maschine funktioniert. Anwandlungen von Schlottrigkeit stellen sich freilich ein, wie natürlich bei einem Wesen ohne Seele, ohne höhere Interessen. Alles, was die ausmacht, hat Levin unterweges irgendwo sitzen lassen.“

Nun folgte eine Dithyrambe auf Australia felix und ein besonders begeisterter Hymnus auf Neusüdwales, auf die Felsenthore und Buchten seiner Küsten, auf seine zauberhaften Waldlandschaften, auf die Wunder der blauen Berge und die unerschöpflichen, erhabenen und lieblichen Schönheiten des Murraythals. Das Klima Südfrankreichs im Sommer und das Kairos im Winter …

„Kein treues Bild,“ sagte Elika, „ein Bild ohne Schatten, und wie dunkle und furchtbare giebt es dort!“

Luise nickte. „Gewiß, die übergeht er mit Schweigen,“ sagte sie. Ihr Blick ruhte gespannt auf den beweglichen Zügen Elikas, deren Stimme immer leiser wurde, während sie fortfuhr:

„Und in einer solchen Natur, einer so paradiesischen Welt geliebt und vergöttert werden, müßte doch noch viel schöner sein, als sich zum Beispiel in Vrobek anbeten zu lassen. Wem dieses Los beschieden sein könnte, weißt du, Tante Luise. Du könntest einen Menschen, der zu allem Guten und Tüchtigen angelegt gewesen ist, den aber das Leben aus der Bahn gestoßen hat, und der sich in der Irre sehr unglücklich fühlt, wieder ins Geleis bringen. Ueberleg’, ob du, was du thun könntest, nicht thun solltest, liebe Tante Luise. Ich gebe meinen Segen dazu, und das ist schön von mir.“

Elika hatte ihre Hand mit dem Briefe auf ihren Schoß sinken lassen und starrte auf das Blatt nieder. „Es ist schön, daß er so fertig mit sich geworden ist, schön und männlich,“ sprach sie tonlos, und nach einer Weile, ohne die Augen zu erheben: „Wirst du diesen Brief den Tanten zeigen?“

„Ja.“

„Und wirst du ihn beantworten? Und wann? … Und was wirst du antworten?“

„Ich weiß es nicht, glaube mir, daß ich es nicht weiß.“

„Wenn du aber schreibst, wirst du mir dann sagen, was du geschrieben hast?“ fragte Elika nach einer abermaligen langen Pause.

„Ich werde es dir sagen, Kind, ich verspreche es dir,“ bekräftigte sie und sah der Kleinen liebevoll beschwichtigend in die zweifelnd und bang auf sie gerichteten Augen.

Eine halbe Stunde später fuhren sie zusammen nach Velice in dem hübschen kleinen Kutschierwagen, den Leopold vor seiner Abreise der Tante verehrt hatte. Hansl war von allem Anfang [479] an ganz prächtig in der Gabel gegangen, und ihn zu lenken, machte der armen Kleinen trotz der tiefgedrückten Stimmung, in der sie sich befand, doch einiges Vergnügen. Kein großes und kein andauerndes, wie sich von selbst versteht. Die momentane Heiterkeit flog über ihr kummervolles Herz, wie ein lichter Falter an einem dunklen Wolkenhintergrund vorüberfliegt. Hätte Joseph ahnen können, was er ihr mit seinem Brief an Luise angethan! Wie verstoßen sie sich vorkam aus jedem Bereich des Glückes und der Freude auf Erden! Ja, verstoßen war sie und beraubt um eine im tiefsten Heiligtum ihrer Seele glimmende Hoffnung, so wundervoll und himmlisch, daß sie nie in Erfüllung zu gehen, nur still und ungetrübt fortzuleuchten brauchte, um ein ganzes Leben schön zu machen.

Die Ihren quälten sich in erneuten Sorgen um sie. Seit einiger Zeit war sie wieder mehr denn je die arme Kleine, obwohl noch im letzten Jahr so rasch aufgeschossen, daß sie beinahe die stattliche Größe Tante Renatens erreicht hatte. Dabei überschlank und überzart und oft leidend, ließ sie sich immer noch gern bedauern. Besonders von ihrem Bruder Franz, dem sie nie versäumte zu klagen, daß sie Herzklopfen gehabt habe. Er blickte sie dann jedesmal so eigentümlich und mit so warmem Mitleid an, strich ihr über den Kopf und sagte:

„Arme Kleine, kränke Sie sich nur nicht.“

Der Doktor behauptete zwar, daß ihr Herzklopfen gar nichts zu bedeuten habe, sie wußte das aber besser und trug sich, besonders zu Beginn ihres sechzehnten Jahres, mit Todesgedanken. Sie machte auch ihr Testament, in dem Bornholm mit einem Ring und mit einigen Versen bedacht war, die ihm Elikas innige Liebe offenbarten. Nachdem ihre letztwilligen Anordnungen getroffen waren, versöhnte sie sich mit der Wahrscheinlichkeit, die ja doch vorhanden war, dem Leben einstweilen erhalten zu bleiben. Bis zu Josephs Rückkehr und ein bißchen drüber hinaus, ein halbes Jahr etwa. Um die Freude des Wiedersehens sollte er nicht gebracht werden, die möge der gnädige Himmel ihm noch gewähren!




Bei seiner Rückkehr nach Velice sollte Joseph durch allerlei Verbesserungen und Verschönerungen im Schlosse und im Wirtschaftshofe überrascht werden. Die letzte, die noch vorgenommen wurde, war die Regulierung der Zufahrt zu den neuen Oekonomiegebäuden und das Abtragen einer längst außer Gebrauch gesetzten Scheuer. Die Arbeit begann an einem feuchten kühlen Vorfrühlingsmorgen und war schon im vollen Gange, als Franz sich von ihren Fortschritten überzeugen kam. Heideschmied war schon am Platze, stand da mit verschränkten Armen und sah zu, wie die Zimmerleute die Dachbalken teils an Seilen befestigt zur Erde gleiten ließen, teils zu Boden schleuderten. Nun ging’s an die Sparren und mit Staunen sah man Freund Hanusch auf der Höhe erscheinen, das Beil schwingen und eifrig mitthun.

„Sehen Sie doch den Hanusch,“ sprach Heideschmied, „es kommt ihm in die Finger, die Lust am alten Handwerk meldet sich. Und – zerstören, wenn die Menschen zum Zerstören berufen werden, wie geht da die Arbeit vom Fleck! Beobachten Sie, lieber Franz, das Gebaren derselben Leute beim Aufrichten und beim Niederreißen eines Baues. Wie lässig im ersten, wie eifrig im zweiten Fall.“

Franz machte sich diese Bemerkung seines Erziehers nicht zu nutze; er hatte seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge gerichtet. „Verflucht gefährlich, die Geschichte,“ sprach er. „Wo ist der Polier?“

Der Polier, ja, der war schon vor einer Weile fortgegangen.

Ob er nicht befohlen habe, die Mauern zu pölzen, namentlich die vordere, die am steil abfallenden Rand der Böschung, die rissige, unten vom Regen ausgewaschene Mauer, auf der gerade jetzt Hanusch steht.

Die? ja die – man weiß nicht, kann sein, daß er’s befohlen hat. Ueberflüssig ist’s, sagen alle.

Eine heiße Blutwelle schoß Franz ins Gesicht. Wie es jetzt nur zu oft geschah, brach er plötzlich in heftigen Zorn aus: „Herunter! gleich herunter! seid ihr verrückt?“

Die Arbeiter drüben auf der rückwärtigen Seite des Baues schienen durch seinen Zuruf eher ermuntert als abgeschreckt, ein paar von ihnen begannen wuchtig auf das Mauerwerk einzuhauen. Franz, zur Wut gereizt, wetterte ihnen ein derbes Wort zu und schrie zu Hanusch hinauf: „Hierher du, dir befehl’ ich’s!“

Der Bursche auf seinem gefährlichen Posten wendete sich: „Komm’ schon, aber gschicht nix!“ rief er beruhigend seinem Herrn zu. Die nächste Sekunde strafte ihn Lügen. Die unterwaschene Wand senkte sich. Ein splitterndes Getöse, ein dumpfes Krachen, ein Bersten, Stürzen. Atemraubend stieg ein gelblicher Brodem in dichten Wolken in die Luft – Staub, der qualmend wie Rauch aus dem Trümmerhaufen stieg, unter dem Hanusch begraben war.

Franz stürzte zur Unglücksstätte hin und war im nächsten Augenblick von den Arbeitern umgeben, die schreiend und gestikulierend oder mit stumpfsinnigem Gleichmut die Thatsache feststellten, daß die Hälfte der Mauer eingefallen und daß einer, der früher auf ihr gestanden hatte, jetzt unter ihr liege.

„Also! also!“ rief Franz ganz außer sich, ergriff einen Spaten und wies auf eine bestimmte Stelle im Schutte: „Ausgraben! helft! helft! da muß er sein … Ich weiß genau, ich hab’ ihn stürzen seh’n.“ Zum Entsetzen Heideschmieds handhabte er sein Werkzeug mit dem Aufgebot aller seiner Kräfte, mit rasender Unermüdlichkeit, unterbrach sich nur, um einen Befehl zu geben, dem die Leute jetzt willig gehorchten. Er glühte, seine Brust arbeitete wie ein Hammerwerk.

„Lieber Franz, ich beschwöre Sie,“ flehte Heideschmied, „ruhen Sie aus, ein paar Minuten nur! Es kann Sie Ihr Leben kosten.“

„Fort damit, wenn ich’s in einem solchen Augenblick schonen soll“ – keuchte Franz und warf Heideschmied, der zu ihm mit der schüchternen Absicht herantrat, ihm den Spaten zu entwinden, einen Blick zu, der ihn zurückweichen machte. Keine Jünglingsseele mehr, eine Mannesseele, der eigene starke Wille eines Mannes sprach aus ihm.

Immer mehr Leute kamen herzugelaufen, aus den Stallungen, dem Dorfe. Heideschmied sandte einen Boten ins Schloß, um Herrn von Kosel zu melden, was sich begeben hatte. Nach einer Weile trug Kosel dem Balthasar auf, nähere Erkundigungen einzuholen, und als der gar zu lang’ wegblieb, ging er, sich selbst von dem Stand der Dinge zu überzeugen. Auf dem Schauplatz des Unfalls angelangt, sah er seinen Sohn auf einem Berg von Schutt an der abgebröckelten Mauer stehen. Barhäuptig, in zerfetzten Kleidern, mit zerschundenen blutenden Händen, das Gesicht feuerrot und schweißüberströmt, aber eine Verklärung des Entzückens in seinen Zügen, die unaussprechlich war.

„Vorsicht, nur langsam, langsam jetzt!“ sprach er mit heiserer, gequetschter Stimme. Mühsam rang sich jeder Laut, zwischen zwei schweren, pfeifenden Atemzügen aus seiner Kehle: „Karausek zu mir – bleibt drüben, Novak Swoboda! – alle übrigen fort! … Heben … Eins, zwei, drei!“ Er hatte den Spaten fallen lassen und einen der Balken angefaßt, der, vom Dache geworfen, sich hier mit noch drei anderen an die Mauer spreizte. Sie bildeten eine Art Käfig, in dem man einen formlosen Klumpen liegen sah, der Versuche machte, sich zu bewegen. Als die Balken, die ihn eingeengt und beschützt hatten, nun sacht entfernt wurden, steigerte sich die Bewegung zu einem gewaltigen Rütteln und Strecken. Die Retter halfen nach, klopften, putzten an ihm, hoben ihn auf und trugen ihn über die Böschung. Da glich er noch einer großen Streusandbüchse. Im Grase niedergelegt, nochmals gesäubert, kam die menschliche Gestalt glorreich zum Vorschein. Sprechen konnte er nicht, er hatte den Mund voll Staub, auch die Augen aufzumachen, war er nicht imstande. Als aber Franz ihn anrief: „Hanusch, mein guter Hanusch, lebst? bist bei dir, Hanusch?“ schob er sich zu seinem Herrn und Freunde hin und legte den Kopf auf seinen Fuß. Franz wollte sich zu ihm niederbeugen, wankte, taumelte, griff mit beiden Händen in die Luft und stürzte lautlos zur Erde nieder.

Sechs Tage lang kämpfte die junge kräftige Lebensflamme einen harten schweren Kampf gegen ihr frühes Erlöschen. Nutzlos, wie der Arzt sogleich erkannte.

[480] Man hatte Elika anfangs über die Gefahr getäuscht, in der ihr Bruder schwebte; es war leicht gewesen, der Gedanke, daß dieser starke, blühende Mensch vor ihr sterben könne, wäre ihr nie gekommen. Sie hätte ihn, von anderen ausgesprochen, zurückgewiesen wie etwas Unsinniges und Unfaßbares. Am dritten Morgen aber, als Franz immer gleich ruhig dalag und doch nicht schlief, und sie eine Weile an seinem Bette gestanden hatte, ohne zu wagen, ihn anzusprechen, wurde sie von einer unbestimmten, furchtbaren Bangigkeit ergriffen. Apollonia trat unhörbar heran auf weichen Schuhen und wechselte den feuchten Umschlag auf der Brust des Kranken. Da öffnete er die Augen und erhob sie zu ihr und zu Elika, aber ganz fremd, wie fragend und suchend.

„Franz, Lieber,“ sprach Elika, „siehst du mich?“

„Ja,“ antwortete er, „wenn der Schleier, den ich von den Augen habe, sich verschiebt, dann seh’ ich dich.“

„Warum hast du einen Schleier vor den Augen, lieber, lieber Franz?“ Sie ließ sich auf die Kniee gleiten, küßte seine Hand, die auf der Decke lag, nahm sie in die ihre und bedauerte sie. „Arme Hand, wie du aussiehst, ganz zerschunden von Ziegeln und Steinen. Ich will sie pflegen. Gieb sie mir, Franz.“

Er antwortete nicht und als sie nun erschrocken emporblickte, sah sie, daß Tante Renate ganz leise eingetreten war, traurig mit den Achseln zuckte und einen Finger auf den Mund legte. Und Elika begriff plötzlich etwas Entsetzliches, etwas, das ihr das Herz zerriß, diese Hand, diese gute, rettende, großmütige Hand, konnte die ihre nicht ergreifen, sich nie mehr liebkosend auf ihren Scheitel legen, sie war gelähmt.

Ueberwältigt sank Elika zusammen und brach in einen Strom von Thränen aus. Apollonia faßte sie sanft unter den Armen, hob sie auf, führte sie aus dem Zimmer und wollte sie in das ihre bringen. Auf dem Gang aber traten ihnen Kosel und Leopold entgegen. Elika schrie auf: „Du!“ und flog dem Heimgekehrten in die Arme. Für so lange hatte sie von ihm Abschied genommen und wie kurz war die Trennung gewesen, und welcher neuen, grauenvollen war sie vorangegangen!

Leopold, ganz blaß und starr, mit roten geschwollenen Lidern, küßte sie und sagte einmal ums andere: „Arme Kleine, arme Kleine!“

„Papa hat dich gerufen, weil Franz sterben muß,“ schluchzte sie, „sag’s nur, sag’s nur!“

Leopold gab keine Antwort und Kosel wiederholte die tröstenden Worte, mit denen der Doktor, den man aus Wien hatte kommen lassen, sich gestern empfohlen:

„So lange noch Leben da ist, ist noch Hoffnung da.“

Dreimal vierundzwanzig Stunden und jede Stunde eine Ewigkeit voll Leid, und die Erinnerung daran den Herzen, die es tief und voll empfunden haben, unauslöschlich eingeprägt. Ein trübender Schatten für die Jungen, eine klaffende Wunde für die Alten, für die armen Tanten, denen ihr Dasein jetzt beinahe wie ein Unrecht erscheint. Was haben sie noch „da zu sein“, die welken dürren Zweige, wo die Blüte in Glanz und Schönheit vom Baume fällt?

Sie ruhten und rasteten nicht, sie wachten jede Nacht, sie machten sich zu Handlangern der Handlanger. Wenn Franz im Halbschlaf einmal flüsterte: „Die Tanten, die guten Tanten“, ergriff sie eine überschwengliche Dankbarkeit, aber unnötig oder mindestens entbehrlich kamen sie sich doch vor.

Kosel irrte wie verloren umher und sagte jedem, der ihm begegnete, ohne Ahnung, wen er vor sich hatte: „So lange noch Leben da ist, ist noch Hoffnung da.“

Immer wieder wurde Elika aus dem Sterbezimmer gebracht und kehrte immer wieder dahin zurück. Sie war überzeugt, daß Franz noch zu ihr sprechen werde, und wartete darauf angstvoll und sehnsüchtig. Einmal nannte er einen Namen, den sie nicht verstand, und sie flüsterte: „Rufst du mich, Franz? Hast du mich gerufen?“

Er sah sie groß an und schwieg.

„Den Papa? den Leopold? Tante Renate, Charlotte?“

„Hanusch,“ sagte er.

Hanusch wurde geholt. Man hatte lange nach ihm suchen müssen; er verkroch und verbarg sich scheu wie ein verwundetes Tier. – Um seinetwillen starb sein Herr, der ihm das Höchste war, er, für den er sich in Stücke hätte hauen lassen, starb um seinetwillen … Nein, er konnte ihn nicht sehen, er konnte nicht vor ihn hintreten. Er wollte liegen bleiben, wo er lag, in seinem Winkel, und auch sterben, wenn sein Herr starb. Mit größter Mühe bewog der Pfarrer ihn endlich, ihm zu folgen.

Als Franz ihn erblickte, erheiterten sich seine Züge, mit einem Lächeln grüßte der Sterbende den durch ihn, durch seine Kraft dem Leben Erhaltenen, und im letzten Kampf stählte ihn das Bewußtsein eines Sieges.

Es war am Morgen seines Sterbetages. Der Arzt hatte ihn hoch gebettet, er saß fast aufrecht, den Kopf zurückgeworfen, Elika stand bei ihm und wischte ihm mit ihrem Tuche den Schweiß von der Stirn.

„Bist du da, Kleine?“ fragte er.

Sie glitt leise mit der Wange über seine Haare: „Ich bin da, ich bin bei dir.“

Da öffnete er die Augen und hob den Blick fest und inständig zu ihr hinauf. Seine Stimme hatte fast keinen Ton, aber Elika verstand jedes Wort, das er sagte; es war das völlig Unerwartete. „Wir haben den Papa zu wenig lieb gehabt. Er ist gut, viel besser, als wir gewußt haben. Habt ihn lieb, du, Leopold und Joseph.“ Er schöpfte tief Atem, seine schweren Lider senkten sich: „Joseph … daß ich den nicht mehr seh’, ist doch schad’ …“

O die entsetzlichen Stunden, die noch nachkamen … das grausame, unentrinnbare Leiden … O die traurigen verstörten Menschen! … die ratlose Bestürzung im Hause, aus dem ein vielgeliebtes Kind sich anschickte, zu scheiden.

Ehe die Sonne im Scheitel stand, war es vorbei, und Elika hatte ein Sterben, hatte das schauerliche Wunder, mit dem ihre Phantasie gespielt vom ersten Erwachen an, sich in seiner ganzen Furchtbarkeit vollziehen gesehen.

Da lag er nun, der junge Held, niedergestreckt von der Hand Gottes, und trug noch den trotzigen Ausdruck im wachsbleichen Gesicht, den sie so sehr geliebt und hinter dem eine unerschöpfliche Güte sich verbarg. Er hatte gelitten und nicht geklagt, nie ein Zeichen des Bedauerns in Anspruch genommen, er hatte das Mitleid verschmäht.

„Mein Franz, mein Franz,“ flüsterte Elika. Die anderen waren gegangen, Vorbereitungen treffen zu all dem Herzzerreißenden, das noch durchgemacht werden mußte. Sie glaubte sich allein mit ihm und sprach zu ihm, als ob er noch lebte, und dankte ihm, als ob er sie hören könnte, für alle seine Nachsicht, Geduld und Liebe … Da plötzlich vernahm sie ein gewaltsam hervorbrechendes Schluchzen und wendete sich. Im Fauteuil neben der Thür saß ihr Vater, den Kopf auf die Brust gesenkt, und weinte. Ihr Vater, in dessen Augen sie nie eine Thräne gesehen hatte, weinte und schluchzte …

Ganz langsam und schüchtern trat sie auf ihn zu und kniete bei ihm nieder. Wie einst als kleines Kind stützte sie die Arme auf sein Knie und wußte wieder nichts anderes zu sagen als: „Armer Papa!“

Er richtete einen trüben, traurigen Blick auf sie. „Willst auch du von mir fortgehen? Hab’ ich lauter treulose Kinder?“ fragte er.

Elika sprang auf und umklammerte seinen Hals: „Nein! Ich will bei dir bleiben und dich lieb haben und dein treues Kind sein.“

Mit einem zitternden Aufschrei streckte er die Arme aus und hob sie auf seinen Schoß, und schloß sie an sein Herz und hielt sie lange an seine Brust gepreßt, und legte sanft seine Hand über ihre brennenden Augen. Die seinen blieben unverwandt auf den Toten geheftet. „Ja, Elika, ja, Kleine,“ sagte er, „wenn sie jetzt da wäre, deine Mutter, und müßte das sehen. Gut für sie, daß sie nicht da ist … gut für sie.“

Aber nicht für ihn; sie wäre ja sein Trost gewesen.

Elika zog seine Hand an ihre Lippen: „Armer Papa“. Jawohl, sie hatten ihn zu einsam dahinleben lassen und ihn zu wenig lieb gehabt, der so vieler Liebe fähig war.

[510] Leopold war wieder abgereist, die Ankunft Josephs verzögerte sich; das Leben im Hause glitt allmählich in die alten Geleise zurück. Der gute Geist, der segenspendend waltete, die Trösterin, die den Betrübten über die erste schwerste Zeit nach ihrem herben Verlust hinweghalf, war Luise. Sie verbrachte bei ihnen den größten Teil ihrer Tage, opferte, als ob sich das von selbst verstände, ihre eigenen Interessen, ihre Freude an der Führung ihrer kleinen Musterwirtschaft. Aber – es wurde lichter in Schloß Velice, wenn sie die Schwelle überschritt. Die Müden richteten sich auf, die Kummervollen lächelten ihr zu. Vetter Felix konnte, seitdem sie seine Werbung abgelehnt hatte, ihr gegenüber wieder unbefangen sein, und sogar bis zu einem gewissen Grade herzlich – herzlich dankbar.

Einmal kam er merkwürdig heiter und aufgeräumt zu Tische. Er trug einen offenen Brief in der Hand und Elika, die mit ihm eingetreten war, einen geschlossenen, den sie an das Glas vor Luisens Teller lehnte.

Die Suppe war vorgelegt, die Diener verließen das Zimmer.

„Brief von Joseph?“ fragte Charlotte.

„Nein,“ antwortete Kosel und ließ liebreiche Blicke über die Gesellschaft gleiten. „Nicht von Joseph. Aus Australien, ja, aber nicht von Joseph.“ Er versenkte sich in die Betrachtung des Löffels, den er mechanisch ergriffen hatte.

Der Rest ist vorläufig Schweigen, dachte Charlotte und setzte nach einer Weile den Drücker der Tafelglocke in Bewegung. Die Suppe wurde abgetragen, die Zwischenspeise serviert, und wieder schloß die Thür sich hinter den Dienern.

„Ja,“ nahm Kosel wieder das Wort, „es ist unerwartet, aber nicht unangenehm. Nicht wahr, Tante Renate?“

„Was denn, lieber Felix?“

Er geriet von neuem in Geistesabwesenheit und wiederholte: „Unerwartet, aber nicht unangenehm. Was sagen Sie dazu, lieber Heideschmied?“

Heideschmied entschuldigte sich, seine Meinung in dieser Sache stand noch nicht fest.

Kosel war erstaunt: „Wie? nicht fest?“

„Sie wissen ja noch nichts, Papa,“ fiel Elika ein. „Darf ich es sagen?“

Jawohl, natürlich durfte sie.

Die große Neuigkeit also war, daß Bornholm an den Papa [511] geschrieben und ihm Valahora zum Kauf angetragen hatte: „Den Preis soll der Papa durch seine Beamten bestimmen lassen. Die müssen wissen, wieviel es ihm wert ist; Herrn Bornholm ist es wenig wert. Er stellt nur zwei Bedingungen. Das Zimmer, in dem seine Mutter gestorben ist, soll gleich vermauert werden, und Bartolomäus soll, so lange er noch lebt, Kastellan von Valahora bleiben, man soll das alte Raubnest nicht früher zerstören.“

„Man soll’s gar nicht zerstören, man soll’s erhalten!“ rief Charlotte dazwischen.

„Es ist einmal die Heimat, die Welt des Alten; er wüßte nicht wohin mit sich, wenn er sie nicht hätte, schreibt Herr Bornholm.“

„Sehr schön, ja man dürfte es sogar edel nennen,“ bemerkte Heideschmied, „daß er dem Bartolomäus, der dazu beigetragen hat, ihm sein Haus zu verleiden, ein Zuhause sichert.“

Elika nickte ihrem Lehrer freundlich zu: „Dann kommen noch einige geschäftliche Angelegenheiten. Schwierigkeiten werden sich kaum erheben. Herr Bornholm verläßt sich ganz auf Papa und auf Joseph, dem er alle möglichen Generalvollmachten mitgeben wird.“

„Eine genügt,“ versetzte Heideschmied in rücksichtsvoll unterweisendem Tone.

„Also bald Herr von Valahora,“ sagte Renate. „Ich gratuliere.“

„Wir gratulieren alle,“ setzte Elika hinzu. Wie sie sich Gewalt anthun mußte, um heiter und unbefangen zu scheinen, sah Luise allein.

Dem Kinde war es ja klar, so gut wie ihr, was der Verkauf Valahoras für Bornholm zu bedeuten hatte. Ein Abbrechen seines Zeltes, ein Scheiden für immer.

„Weißt du noch, Tante Renate,“ fragte Kosel, „was Emilie immer gesagt hat? … Valahora gehört zu Velice wie … nun weißt du noch, was sie immer gesagt hat?“

„Wie die Poesie ins Leben.“

„Ja – wie die Poesie ins Leben! … Und sie würde sich freuen …“ Er hielt inne. Ja – jetzt war es wieder nicht gut, daß sie nicht da war.

Der Frühlingsnachmittag war sonnig und warm, man ließ den Kaffee im Garten im offenen Pavillon unter den großen Nußbäumen servieren. Elika nahm den Arm Luisens; sie ließen die andern vorangehen und folgten ihnen langsam.

„Es ist noch etwas in dem Briefe Bornholms, das wir dir bei Tische nicht sagen konnten, Papa und ich, weil es niemand angeht als dich,“ sprach Elika. „Er möchte die Antwort auf seinen Vorschlag telegraphisch erhalten, innerhalb der nächsten Woche. In Sidney wartet er darauf und schickt die Adresse, an die das Telegramm zu richten ist. Dieses Telegramm soll aber, weißt du, Liebste, nicht nur die eine Antwort enthalten, nicht nur die auf seinen Brief an Papa, sondern auch auf den da.“ Sie tippte mit dem Zeigefinger auf das Couvert, das Luise noch immer nicht eröffnet hatte, das sie vor sich hinhielt und sinnend betrachtete.

„Die Schrift, nicht wahr, Luise? Hast du schon eine so ungleiche gesehn? und eine so unbeholfene … einmal laufen die Buchstaben einer vor dem andern davon, dann treten sie einander auf die Fersen … einige sind steif wie Holz, andere ordentlich schwungvoll … Im Brief sieht man das alles noch viel besser als auf der Adresse. Lächerliche Schrift – der ganze Bornholm … aber lies doch, lies! du brennst ja drauf!“ rief sie mit plötzlichem Ungestüm.

„Sieh, wie ich brenne,“ erwiderte Luise und steckte den Brief in ihre Tasche.

Kosel hatte den Direktor kommen lassen, der ihn versicherte, daß es nichts Ueberflüssigeres gebe als das Einberufen einer Kommission zur Schätzung Valahoras. Er kannte jeden Baum, jedes Feld, jede Wiese des benachbarten Gutes genau und getraute sich, seinen Wert an und für sich auf Heller und Pfennig, „auf die Prise Tabak“ zu bestimmen. Der Wert, den es als Arrondierung Velices hatte, war natürlich, gering gerechnet, der doppelte.

Das war also eine ausgemachte Sache, alles, was der Direktor da gesprochen, hatte er Bornholm schriftlich mitzuteilen; Wie leicht ein Geschäft mit ihm sich abschließen ließ, hatte man beim Verkaufe Hansls erfahren.

„Und – ja – was die telegraphische Antwort betrifft,“ sagte Kosel und richtete einen Verständnis suchenden Blick auf seine Tochter.

„Die hat Zeit, Papa. Fast acht Tage Zeit. Vielleicht ist Herr Bornholm noch gar nicht in Sidney.“

Luise wechselte die Farbe, lehnte sich in ihren Sessel zurück und griff mit einer unwillkürlichen Bewegung nach dem Brief in ihrer Tasche. Er war den alten Tanten aufgefallen mit seinen überseeischen Stempeln; das Schweigen Luisens beunruhigte sie und sie vermißten schwer die erquickende Heiterkeit ihrer „Trostspenderin“, ihrer „Lichtbringerin“.

Beim Abschied zog Renate ihre Nichte an sich und fragte leise und kummervoll: „Was will er noch von dir, der unselige Mensch?“

Zu Hause angelangt, hatte Luise sich an den Tisch gesetzt, an dem Bornholm so oft ihr gegenüber gesessen, und seinen Brief entfaltet. Der flackernde Schein der Kerze fiel auf das mit großen Lettern eng und dicht beschriebene Blatt. Wenn sie emporsah, glaubte sie Levin vor sich zu sehen, wenn sie las, glaubte sie ihn sprechen zu hören. Jeder Satz redete zu ihr mit dem Klang seiner Stimme: „Vor einem Jahre habe ich Ihnen gesagt, daß ich nicht weiß, was liebhaben heißt, und vielleicht haben sich diese Worte, schon während ich sie sagte, in eine Lüge verwandelt. Ich weiß jetzt, was liebhaben, unaussprechlich liebhaben, heißt. Ein ungeahnter Reichtum ist in mein Leben gekommen, durch Sie, Fräulein von Kosel.“

Er fragte sie, ob sie seine Frau, die Frau eines Ausgewanderten werden wolle, ob sie ihm alles opfern wolle, woran ihr Herz hing, Heimat, Verwandte, und gleich darauf verspottete er sich, daß er der Narr und Frechling sei, eine solche Frage an sie zu stellen:

„Warum sollten Sie es thun, Sie haben ja gar keinen Grund. Ehrlich gestanden, wenn ich Ihr Bruder wäre, und ein zweiter Bornholm käme um Sie zu werben, würde ich Ihnen raten: Laß dich nicht vom feigen Mitleid hinreißen, von der weibischen Leidenschaft am Wohlthun, weis ihn ab, den Friedlosen, mit seiner verwüsteten Jugend. – O, Fräulein von Kosel! davon bin ich überzeugt wie von meiner Existenz. Das aber wäre ein karges Schicksal, das mir nur so wenig Gutes gönnen würde als ich verdiene. Ich bin vermessen, ich hoffe auf die Großmut des Schicksals und auf die Ihre.“

Eines mußte er ihr noch sagen und fand dafür gute, warme Worte: Nicht nur innigst lieben hatte er gelernt, auch Ehrfurcht empfinden.

„Entscheiden Sie,“ schloß er, „und das Mitleid leite Sie nicht! Wenn Sie Ja sagen, wird ein Mensch Ihnen seine Wiedergeburt zu danken haben, wenn Sie Nein sagen, immer noch sehr viel. Er wird von der Welt eine bessere Meinunmg haben, als er bisher gehabt hat, denn in dieser Welt ist er Ihnen begegnet.“

Ehe Luise den Brief Bornholms eröffnet hatte, war es ihr festgestanden: Wenn er um mich wirbt, nehme ich seine Werbung an. Einem Menschen, den man herzlich liebt, alles sein können – ist alles. Herzliche Liebe, das war ihr Gefühl für ihn, von gewaltiger Leidenschaft wußte sie nichts, sie hielt sich ihrer sogar unfähig. Aber treu verbunden in Freud’ und Leid mit dem teuersten Menschen durchs Leben gehen, dachte sie sich schön ...

Freilich die Trennung, die schwere Trennung vorher! Ihr war, als hätte sie gar nicht gewußt, wie sehr sie an den Menschen drüben in Velice hing. An allen, besonders aber an den zwei Tanten, den edlen alten Jungfrauen mit ihren mütterlichen Herzen. Und Elika, die ihren ersten Liebestraum geträumt und ihren ersten großen Schmerz erfahren hatte … arme kleine Elika! Bitter ist das Scheiden von dir und von allen und von allem. Auch von dem engen Daheim, dem armen, stillen Hause. – Statt des belebten Friedens, der in ihm herrschte und jedem, der es betrat, wohlthuend entgegen wehte, zieht bald starre Ruhe in seine Mauern ein.

In dieser Nacht suchte Luise den Schlaf nicht. Sie löschte die Kerze, rückte einen Sessel ans Fenster, öffnete es und blieb dort bis zum Morgen, und sah die Sterne funkeln in ihrer hehren, unaussprechliche Sehnsucht weckenden Pracht und sah sie verblassen und dachte: Auch von euch, die ihr mir geleuchtet, so lang’ meine Augen offen stehen, heißt es scheiden.

[512] Am Morgen war sie in den Sibyllenturm nicht gekommen, um sich Rat zu holen, nur um zu sagen: Er ruft mich und ich will mit ihm gehen.

Jetzt kniete sie vor Renate und hatte das Gesicht in die flachen Hände der alten Tante gelegt, die sich zitternd an ihre Wangen schmiegten.

„Kind! Kind!“ flüsterte sie, und:

„Luise, bestes Kind,“ sprach Charlotte, die neben sie getreten war und ihr die Rechte zärtlich aufs Haupt legte. „Wir begreifen ja. Folge du der Leitung deines eigenen Herzens; es führt dich gut. Du bist eine der wenigen, zu denen man sagen darf: Wo deine Liebe ist, da ist deine Pflicht.“

„Eines, nur eines –“ Renate bemühte sich, Luise emporzuheben – „die Religion.“

„Ich werde in der meinen leben und sterben, gute Tante Renate,“ sprach Luise, richtete sich auf den Knieen auf und schlang beide Arme um die schmächtige Gestalt der Greisin. „Ich bin kein starker Geist, der des Glaubens entraten kann, aber nicht so schwach, daß irgend ein Einfluß, und würde er durch den mir teuersten Menschen ausgeübt, mich in meiner heiligsten Ueberzeugung wankend machen kann.“

Für einen im Schlosse war die Kunde, daß Luise die Heimat verlassen und weit in einen anderen Weltteil reisen würde, eine Freudenbotschaft – für Hanusch. Der Himmel hatte sich seiner erbarmt und ihm einen Weg zur Rettung gewiesen. Er kam zu Fräulein Luise und bat sie, daß sie ihn mitnehmen möge, als Kutscher, als Diener, als was sie wolle. In Velice hielte er es nicht mehr aus. Wer ihn ansah, was ihn ansah, und wenn die Menschen auch nicht sprachen und das andere nicht sprechen konnte, er hörte es doch. … Die Menschen, die Pferde, die Hunde, der Wald schrieen ihm zu: Du bist am Tod deines Herrn schuld. Er mußte fort, und wenn Fräulein Luise ihm nicht erlauben will, mit ihr zu gehen, so geht er allein, Herr Joseph ist auch allein gegangen.

In diese traurige Notwendigkeit wurde er aber nicht versetzt, denn Luise sagte: „Was sind das für Geschichten, Hanusch? Ich nehm’ dich gern mit. Mir wird sein, als wenn ich ein Stück Heimat mitgenommen hätte.“




Der Hochsommer war da. In Garben gebunden lag das schwere, fruchtstrotzende Getreide auf den Feldern. Joseph hatte seine Landung in England angezeigt, den Tag seiner Ankunft aber noch immer nicht. Er wartete. Seine Schwester erriet wohl worauf. Er wollte die Braut Bornholms nicht mehr daheim finden. – Noch fühlte er sich nicht völlig gefeit, noch zitterte etwas von seiner ersten großen Liebe in ihm nach.

Endlich durfte Elika ihm doch schreiben: Komm’! Die Tanten waren aus Wien zurückgekehrt; sie hatten ihre Luise zum Altar begleitet und befanden sich in weicher, wehmütiger Stimmung, schienen aber von jeder herben und peinigenden Sorge um das zeitliche Wohl und das ewige Heil ihres Lieblings befreit.

„Wenn Bornholm seinen Treuschwur nicht hält,“ sagte Charlotte nachdrücklich und energisch, „dann geht die Sonne nächstens schwarz auf. Ich habe nie einen solchen Ausdruck, einen so konzentrierten, von Glück, Ernst, Kraft, und ich behaupte guten Vorsätzen im Gesicht eines Menschen gesehen, wie er ihn die ganze Zeit hindurch hatte. Nie!“ und sie ließ einen strengen Blick über die ganze Gesellschaft gleiten, als ob sie es allen übelnehmen würde, daß sie nicht auch einen solchen Ausdruck besaßen.

„Sie werden sehen, Hochwürden,“ wendete Renate sich an den Pfarrer, „er wird nicht sie zur Heidin, sie wird ihn zum Christen machen.“

„Gott gebe es und Gott segne sie, Gott segne beide,“ erwiderte der geistliche Herr.

Die Wangen Elikas glühten, ein feuchter Glanz schimmerte in ihren Augen. „Wie war also Herr Bornholm?“ fragte sie, und Charlotte sprach feierlich:

„Vertrauen einflößend.“

Nach einer Weile stellte Kosel die Frage auf, ob die Zeitungen nicht vielleicht eine Notiz über die Vermählung Bornholms mit Luise bringen würden: „Was meinst du, Elika?“

Alle Augen wendeten sich nach dem Platze in der Ecke neben dem Kanapee, an dem sie gesessen hatte – er war leer. Sie hatte sich fortgestohlen aus dem Zimmer, aus dem Hause, sie war durch den Garten gegangen, immer rascher und rascher, sie rannte zuletzt wie gejagt. Ihrem Fichtenhaine am Ende des Gartens rannte sie zu, warf sich dort zur Erde, drückte ihr Gesicht ins feuchte kühle Moos und weinte und schluchzte sich aus. Wirklich: aus, bis ihr schien, als hätte sie keine einzige Thräne mehr. Dann stand sie auf. Es war ihr plötzlich gekommen: Ist es nicht unwürdig, sich wie verzweifelt zu gebärden um einen, der nie verborgen hat, wie gleichgültig man ihm ist? Durchaus unwürdig einer jeden und nun erst ihrer, die einen so tapferen Bruder gehabt hatte.

Von neuem füllten ihre Augen sich mit Thränen, das waren aber andere, die erpreßte ihr nicht der Gedanke, daß Levin Bornholm nun eine Frau hatte, die ihn lieben darf, die ihn erlösen wird. … Elika breitete die Arme weit aus: „Franz, mein Lieber, siehst du mich? weißt du etwas von mir? … Ich denke immer an dich, wie gut und stark du gewesen bist … und ich will auch stark sein, deine echte Schwester will ich sein.“

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Der schönste Tag brach an, ein Morgen voll Sonnenschein und Vogelgesang, voll Waldesrauschen, glitzerndem Tau und süßem Duft der reifen Aehren. Da kehrte der Erstgeborene des Hauses heim.

Er war über Wien gekommen, hatte ein beglückendes Wiedersehen mit Leopold gefeiert. Den Namen dessen, den er nie wiedersehen sollte, sprach nicht er und sprach keiner aus; aber er schwebte auf allen Lippen, einer las in den Augen des anderen: Auch du denkst an ihn!

Nach den ersten stürmischen Begrüßungen ging Joseph im Hause herum und im Garten, und fragte alle Augenblicke: „War ich denn wirklich fort? Mir ist, als wär’ ich gar nicht fortgewesen.“

„Nicht fort, böser Mensch, nach dem man sich fast zu Tod gesehnt hat?“ rief Apollonia. Frau Heideschmied hingegen verstand, was er sagen wollte, und daß es etwas sehr Affektueuses war, und die Tanten fanden das auch, obwohl sie ihm nicht zugehört, sondern ihn immer nur verzückt betrachtet hatten. Heideschmied war trotz aller Dürre im Zustand des Zerschmelzens:

„Balder!“ sagte er, auf Joseph deutend, zu den Tanten: „Sehen Sie ihn doch an, meine Gnädigsten – Balder!“

Gewiß, er war herrlich geworden, groß und schön, ein Ebenbild seines Vaters, aber ein beseeltes, voll Energie und Kraft und Thätigkeitsdrang. Seine Heimkehr verhieß das Eintreten einer neuen Zeit. Bald wird es lebhaft werden im stillen Velice, seine langverschlossenen Thore werden sich gastlich öffnen, die Jugend wird Jugend heranziehen und die Alten werden sich der Wärme und des Lichtes freuen, die da hereinbrechen und ihnen die letzten Jahre durchsonnen und erhellen.

Im Kopfe Kosels mußten ähnliche Vorstellungen dämmern, denn mit stolzem Lächeln und allerliebreichsten Blicken sagte er zu den Angestellten und Beamten, die herbei eilten, Joseph willkommen zu heißen, ihn gleichsam vorstellend: „Der junge Herr!“

Am Abend, als man sich im wundervollsten Mondenscheine unter den Nußbäumen versammelt hatte, fragte Joseph:

„Und Tante Luise – fort für immer?“

„Das nicht,“ erwiderte Charlotte. „In einigen Jahren besucht sie uns, sie hat es versprochen.“

„Da wollen wir Vrobek indessen in ein Schmuckkästchen verwandeln, nicht wahr, Papa?“

„Und Valahora in eine Sehenswürdigkeit,“ fiel Elika ihrem Bruder ins Wort. „Es muß im Baedeker stehen, mit einem Sternchen.“

Joseph erhob sich, ging auf sie zu und schloß sie in einer unwiderstehlichen Anwandlung von Zärtlichkeit an sein Herz. „Du Kleine,“ sagte er.

„Die Kleine, ja,“ wiederholte Kosel. „Du erinnerst dich doch noch deiner Mutter, Joseph? Ist sie ihr nicht ganz ähnlich geworden, deiner Mutter?“

„Ganz ähnlich. Keine arme Kleine mehr, wie bei unserer Trennung. … Unsere Trennung – Elika, weißt du noch?“

„Ich weiß alles,“ erwiderte sie und fügte hinzu: „Morgen ganz früh, bald nach Sonnenaufgang gehen wir nach Vrobek, wir zwei.“

[514] So geschah’s, und sie betraten zusammen das kleine leere Haus. Je näher sie ihm gekommen waren, je schweigsamer war Joseph geworden. Anfangs hatte er für jedes Hündlein, das ihn freundlich anwedelte, einen zärtlichen Dank gehabt, den Jubelschrei, mit dem ihn die Magd in der Halle empfing, hörte er nicht einmal. Er stieg langsam die Treppe hinauf, öffnete die Thür des Salons und trat ein. Elika folgte ihm. Da war alles noch wie einst, jeder Sessel auf dem alten Fleck, und auch die gewohnte Reinlichkeit herrschte. Hatte die Magd geahnt, daß Besuch kommen werde, oder hielt sie den Hausbrauch aus eigenem Antrieb aufrecht? Joseph blieb mitten im Zimmer stehen, und sah sich in dem altbekannten Raume um, den er nie ohne einen leisen Schauer des Entzückens betreten hatte. Dann setzte er sich in den Lehnsessel mit Strohgeflecht, Luisens gewohnten Platz, und strich mit beiden Händen liebkosend über die Lehnen. Ein Reflex seiner einstigen Empfindungen erhellte ihm die Seele mit wehmütigem Glanz. Elika betrachtete ihn und dachte: Ich fühle in meinem Herzen, was in dir vorgeht, und habe dich übermenschlich lieb. Er nickte ihr zu.

„Wenn sie wiederkommt,“ sprach er, „werde ich wahrscheinlich verheiratet sein. Ich werde mir eine schöne brave Frau ausgesucht haben, und werde sie lieb haben und sie mich. Aber, gute Kleine, das sag’ ich dir allein, wie ich Luise geliebt habe, werde ich keine mehr lieben. So leidenschaftlich und so ehrfurchtsvoll, mit einer so unendlichen nie erfüllbaren Sehnsucht. Du kannst das nicht begreifen, ich aber wünsche dir, daß du in deiner ersten Liebe so glücklich sein mögest, wie ich in meiner unglücklichen war. Diese Leiden tausche ich gegen keine irdische Glückseligkeit.“

„Hast recht,“ sagte sie.

„Was weißt du davon, Kleine? du weißt ja nichts.“

Sie hatte die Angen gesenkt. Sie war sehr blaß geworden. Er bemerkte es nicht in seiner Erregung:

„Bei dir wird alles anders werden. Du wirst gleich den Rechten wählen, du Weisheit. Wir, Luise und ich – ein Paar … Das wäre doch nicht möglich gewesen. Ich selbst habe das nie für möglich gehalten, und jetzt“ … Er vergrub einen Augenblick sein Gesicht in seine Hände, „jetzt hoff’ ich nur, daß sie recht glücklich werden wird mit meinem Freunde. Glaubst du, daß sie glücklich mit ihm werden wird?“

„Glücklich? Wenn sie nur weiß, daß sie sein Trost und seine Freude ist, daß er sich zu ihr rettet aus seinen Seelenkämpfen. Wenn er sie nur nie fühlen läßt: ich brauche dich nicht mehr. Ein anderes Glück erwartet sie nicht von ihm.“

„Hat sie dir das gesagt?“ fragte Joseph.

„Nein.“

„Woher weißt du’s?“

„Das errät man, Lieber.“ Sie war aufgestanden, ans Fenster getreten und blickte nach dem Walde von Valahora hinüber. Zwischen den leichtbewegten Baumwipfeln wurden die massigen Türme des Schlosses sichtbar. Joseph folgte ihr, legte beide Hände auf ihre Schultern und wendete sie sanft zu sich herüber:

„Das errät man? Kann man so etwas erraten? Ich denke, nein,“ sprach er mit aufleuchtendem Verständnis, „ich denke…“

„Denk’ nichts,“ fiel sie ihm ins Wort, „als daß du mir das Liebste bist auf der ganzen Welt.“

„Einstweilen.“ Lächelnd faßte er ihre Hände und sah ihr fest und liebreich in die klaren hellen Augen. Auch in ihnen lebte etwas von der Thatkraft und der Kühnheit, die seine Seele schwellten.

Dann verließen sie das Haus und schritten rasch im goldenen Sonnenschein dahin. Sie hatten beide die Weihe eines ersten Schmerzes empfangen, und waren mutvoll, waren stark und vor ihnen lag das rätselvolle Leben mit allen Verheißungen, die es der Jugend macht.