Die Zukunftsstrafe für Verbrecher

Textdaten
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Autor: Bock
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Titel: Die Zukunftsstrafe für Verbrecher
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aus: Die Gartenlaube, Heft 17, S. 262–264
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[262]
Die Zukunftsstrafe für Verbrecher.
Zur Beurtheilung der Todesstrafe.
Eine Mahnung an Erzieher.

Nicht durch Strafen peinigen oder wohl gar tödten wird man in Zukunft den Verbrecher, sondern durch geregeltes Arbeiten zu bessern versuchen. Diese Zeit wird aber dann gekommen sein, wenn die Menschheit mittelst naturwissenschaftlichen Unterrichts nach und nach eine höhere Stufe der Bildung erreicht hat und wenn sich der Mensch schon von Jugend auf eine genügende Kenntniß der herrschenden unabänderlichen Naturgesetze, wie solche im ganzen Weltall und auch im menschlichen Körper auftreten, angeeignet hat. Dann wird sich sicherlich der Verbrecher einer humaneren Anschauung und Beurtheilung als zur Zeit zu erfreuen haben und man wird ihn betrachten: entweder als bedauernswerthen Geisteskranken, der in der Jugend moralischen Schädlichkeiten fortwährend ausgesetzt war und deshalb den späteren Auswüchsen und moralischen Krankheiten nicht entgehen konnte; – oder als bemitleidungswürdigen Unglücklichen, dem in Folge falscher Erziehung, also ohne eigenes Verschulden, von Jugend auf schädigende Eigenthümlichkeiten, Gewöhnungen und Laster anerzogen und so eingeimpft wurden, daß dieselben für das ganze Leben unvertilgbar haften blieben und der Verwahrloste nicht im Stande ist, sie durch eigenen Willen abzulegen.

Verbrecher werden ebensowenig geboren, wie edle Menschen; Beide können nur zu solchen erzogen werden. Da nun das Kind für seine erste Erziehung, welche die Grundlage des Denkens, Thuns und Treibens durch das ganze Leben bildet, nicht verantwortlich gemacht werden kann, so ist man auch gezwungen, die aus frühester Jugendzeit stammenden schlechten Eigenschaften eines Menschen milder zu beurtheilen, als dies zur Zeit geschieht. Ebenso sollte man auch Diejenigen unserer Mitmenschen, welche von Jugend auf im Glanze, umgeben von Schmeichlern und Bedientenseelen, in dem Wahne großgezogen wurden, „sie seien etwas Besseres als das übrige Volk“, weniger verdammen als ihre Umgebung. – Die Erzieher sittenloser Menschen sind weit verächtlicher und strafbarer als ihre ungerathenen Zöglinge und nur insoweit etwas zu entschuldigen, als sie meist, und zwar ohne ihre Schuld, einen Begriff von vernünftiger Kinderzucht nicht haben konnten und als sie selbst ebenfalls eine richtige Erziehung entbehren mußten.

Wie fest die Eindrücke, welche in der frühen Jugend auf den Menschen einwirken, für’s ganze Leben haften, zeigen recht deutlich die Anhänger der verschiedenen Religionssecten, von denen fast ein jeder nur deshalb der festen Ansicht ist, daß sein Glaube der richtigste sei, weil er ihn in Folge der Gewöhnung von Jugend auf wie angeboren betrachtet, obschon es über tausend verschiedene Religionen giebt und diese doch in ihren Satzungen sich ganz bedeutend von einander unterscheiden. – Wie mit dem Glauben verhält es sich aber auch mit dem Aberglauben, der, wenn er von Jugend auf einen Menschen durch Gewöhnung beherrschte, fast nie wieder auszurotten ist. Welch gräßliches Unglück aber und welch unmenschliche, der Vernunft und Menschenwürde Hohn sprechende Thaten der von Jugend auf anerzogene fanatische Glaube und Aberglaube erzeugt haben, beweisen die scheußlichen Hexenverfolgungen und die schandbaren Glaubenskriege, die nichtswürdigen Mißhandlungen Andersgläubiger und die frühere rohe Behandlung Geisteskranker, deren Hirnleiden für ein Product der Sünde und des Teufels angesehen wurde. Wie ganz anders urtheilt man in der Gegenwart über alle diese unmenschlichen Gräuel der Vergangenheit, und wie haben sich nicht seit Bestehen des Menschengeschlechts im Verlaufe der Zeit die Ansichten über Human und Inhuman geändert! Sicherlich wird man auch in späteren Zeiten manche der Heldenthaten aus unserer Zeit mit ganz andern Augen ansehen als jetzt, und über Kriege dürften höchst wahrscheinlich unsere Nachkommen andere Meinung haben als wir.

Um nun zu einer anderen, richtigeren und humaneren Beurtheilung und Behandlung eines Verbrechers zu gelangen, dadurch aber auch die Zahl der Verbrecher für die Folge mindern zu helfen, lasse man sich Folgendes gesagt sein. Der Mensch, wenn er gesund geboren wird, bringt einen Apparat in seinem Körper mit auf die Welt, durch dessen Hülfe er denken, fühlen und wollen, also geistig thätig zu sein vermag. Dieser Apparat ist das Gehirn (in der Schädelhöhle) mit seinen Nerven und mit den Sinnes- und Empfindungsorganen. Von Haus aus besitzt nun aber das Gehirn eine bestimmte geistige Thätigkeit, sowie einen angeborenen Trieb zum Guten oder Bösen, zum Glauben oder Aberglauben, durchaus nicht; Alles dies muß in ihm erst angeregt und durch Gewöhnung anerzogen werden, ganz so, wie die verschiedenen Bewegungsapparate auch erst durch Uebung (Gewöhnung) ihre Geschicklichkeiten (Sprechen, Singen, Clavierspielen, Tanzen, Turnen etc.) erlangen müssen. Die Anregung zur geistigen Arbeit empfängt das Gehirn durch die Eindrücke, welche in dasselbe von der Außenwelt durch die Sinnesorgane und Sinnesnerven, aus unserem eigenen Körper aber durch die Empfindungsnerven hereingeschafft werden. – Menschen, die man gleich nach ihrer Geburt soviel als möglich den Eindrücken auf die höheren Sinne entzog (z. B. Caspar Hauser), blieben so lange geistlos, [263] bis ihrem Gehirne durch Auge und Ohr die geistige Thätigkeit angefacht wurde. Menschen, die von Jugend auf taub und auch blind sind, können trotz eines gesunden Gehirns nimmermehr einen ordentlichen Menschengeist bekommen. Und wollte man Menschen von ihrer Geburt an nur mit Thieren umgehen lassen, so würden sie, natürlich nur so weit es ihre körperliche Einrichtung gestattet, sich nur thierische Manieren und thierischen Geist (von den Laien „Instinct“ genannt) aneignen. – Daß das Gehirn schon von Geburt an seine Arbeit beginnt – anfangs allerdings ohne alles Bewußtsein nur wie automatisch und mit Hülfe der sogenannten Ueberstrahlung (des Reflexes) der Nerven – ist deshalb eine Nothwendigkeit, weil bei gesunden Sinnen fortwährend und ganz unwillkürlich Eindrücke auf das Gehirn durch die Sinnes- und Empfindungsnerven geschehen. Jedoch richtet sich die Hirnarbeit ganz und gar nach der Art der Eindrücke und steigert und vervollkommnet sich ganz allmählich durch die Gewöhnung. Was und wie das Gehirn später arbeitet, ist immer nur das Product der früheren Eindrücke und der Angewöhnung. Durch das verschiedene Einwirken verschiedener Eindrücke kann die Hirnthätigkeit (ebenso beim Thiere wie beim Menschen) ganz verschieden ausgebildet werden. Man kann den Menschen in Folge dieser Bildungsfähigkeit seines Gehirns durch Gewöhnung (das ist die öftere Wiederholung derselben Eindrücke) ebenso leicht zum Guten, wie zum Bösen erziehen und ihm von Jugend auf solche Ideen in das Gehirn einpflanzen, daß er dieselben mit auf die Welt gebracht zu haben fest behauptet. Die Hauptregel bei der Erziehung eines Menschen ist deshalb auch: von seiner Geburt an Alles von ihm abzuhalten, an was er sich nicht gewöhnen soll, dagegen das, was ihm zur andern Natur werden soll, beharrlich zu wiederholen.

Werden denn nun aber von den Erziehern diese aus der Beschaffenheit und Thätigkeit des Gehirns sich ergebenden Erziehungsregeln gekannt und bei der Erziehung ihrer Kinder befolgt? Durchaus nicht. Bis zu den Schuljahren, zu welcher Zeit erst die meisten Eltern nun den Verstand des Kindes gekommen meinen, wird das Kind in seiner Erziehung ganz und gar dem Zufalle, der Wärterin, Großmutter, Tante und dergleichen Personen überlassen, die von Erziehung keine Idee haben und gewöhnlich Alles thun, um das Kind zu verziehen. Diesen und den verschiedensten Erziehungseinflüssen ist es auch zuzuschreiben, daß Kinder derselben Eltern oft ganz verschiedentlich geartet sind, wie auch, daß manche Kinder gebildeter und streng rechtlicher Eltern in moralischer Beziehung den Eltern auch gar nicht ähneln. Gerade die ersten vier bis sechs Lebensjahre sind für das ganze zukünftige Leben die allerwichtigsten, weil schon jetzt die Grundlage der Moral für’s ganze Leben gelegt werden muß. In der Schule, welche in der Regel schon moralisch verkrüppelte Kinder übernehmen muß und das wieder gut machen soll, was im elterlichen Hause verdorben wurde, kann wohl der Geist gebildet und vervollkommnet werden, die moralische Erziehung muß aber schon früher im Hause ihre feste Grundlage erhalten haben. Unterrichten und belehren läßt sich ein mündig gewordener Mensch wohl noch, erziehen aber nicht mehr. Würde man das Leben eines Verbrechers nicht erst von seiner Schulzeit an, sondern schon von seinen ersten Lebensjahren an genau erforschen, so würde man sicherlich den Grund seiner bösen Thaten in einer schlechten Erziehung während seiner ersten Lebenszeit finden. Man bedenke doch, daß aus einem neugebornen Menschen, ebenso wie aus einer weichen Modellirmasse, je nachdem diese in die Hände eines Geschickten oder eines Stümpers geräth, ebensowohl etwas Gutes wie Schlechtes hervorgehen kann, und daß, wenn so viele böse Beispiele auf kleine Kinder von Seiten ihrer Umgebung verschlechternd einwirken und wenn eine Menge von possirlichen schlechten Streichen, die nach und nach zu abscheulichen Lastern heranwachsen, dem lieben Kinde von seinen kurzsichtigen Eltern nachgesehen werden, hierdurch der Mensch schon in seiner ersten Lebenszeit moralisch vergiftet wird. Kurz, nur aus den Erziehungsfehlern, welche in der ersten Lebenszeit des Kindes von den Eltern, zumal von den Müttern, gemacht werden, geht die Charakterverderbniß hervor, die später den Erwachsenen zum Verbrecher macht, und deshalb sollte dieser auch weit weniger für sein Verbrechen verantwortlich gemacht werden, als seine ersten Erzieher.

Um nun der Erziehung von Verbrechern entgegenzutreten und so Verbrechen immer seltner und seltner zu machen, dazu müssen zuvörderst die Schulen das Meiste beitragen. Sie müssen durchaus dahin streben, daß die Schüler vom menschlichen Körper und Geiste richtigere Ansichten als jetzt bekommen, und daß sie erfahren, daß der Verstand, sammt menschlicher Tugend, nicht zu einer bestimmten Zeit in die Menschen so ohne Weiteres hineinfährt, sondern vom ersten Tage des Lebens an im Gehirne nach bestimmten Regeln ganz allmählich durch Gewöhnung (Erziehung) entwickelt werden muß. Werden so aus den Eltern durch eine richtige Kenntniß von der Entwickelung des menschlichen Verstandes und moralischen Charakters verständige Erzieher erzogen, dann können auch die Schulen, weil sie nun nicht mehr solche moralische Krüppel wie jetzt aufzunehmen gezwungen sind, in moralischer Hinsicht weit mehr leisten, als dies jetzt der Fall ist. – Wie die Arbeit, zumal in freier Natur, in Feld und Wiese, im Garten und Wald, bessernd auf die allermeisten in der Erziehung verwahrlosten Menschen, besonders Kinder, einwirkt, davon liefert das Pestalozzistift in Leipzig (unter Director Dießner) die schlagendsten Beweise. – Doch es soll hier nicht ausführlicher in die Art und Weise eingegangen werden, wie man Verbrecher für die menschliche Gesellschaft nicht nur unschädlich, sondern auch nützlich zu machen im Stande ist; es sollte nur das Humanitätsprincip angedeutet werden, nach welchem ein Verbrecher zu beurtheilen ist.
Bock.