Die Wohnungsnoth der ärmeren Klassen

Textdaten
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Titel: Die Wohnungsnoth der ärmeren Klassen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 787–788
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[787] Die Wohnungsnoth der ärmeren Klassen. Wer durch Beruf oder eigenen Antrieb in eine Reihe von Wohnungen geführt wird, in denen die Angehörigen der ärmeren und ärmsten Klassen, eng zusammengedrängt, ihr Dasein fristen, der wird zur Ueberzeugung kommen, daß hier einer der wundesten Punkte unseres gesellschaftlichen Lebens liegt und daß hier vor allem der Hebel der Besserung und Neugestaltung angesetzt werden muß. Es ist von Lehrern der Volkswirthschaft, von praktischen wohlwollenden Männern in England, Frankreich und Deutschland viel über diese Frage geschrieben worden, und erst neuerdings hat ein mit vielen thatsächlichen Mittheilungen ausgestattetes Schriftchen von Ludwig Fuld unter dem obigen Titel in den „deutschen Zeit- und Streitfragen“ dieses Thema behandelt.

Die Wohnungsnoth der ärmeren Klassen mag in den Städten, besonders in den Großstädten am größten sein, aber auch auf dem flachen Lande, in den Dörfern zeigt sich das gleiche Elend. Die Statistik hat aber die Verhältnisse der Hauptstädte besser durchforscht und auf der Grundlage dieser Forschungen Zahlen aufgestellt und gruppirt, welche beredter sprechen als alle wohlmeinenden Betrachtungen. Die Vermehrung der kleinen Wohnungen steht hier in keinem Verhältniß zur Vermehrung der Bevölkerung; daraus ergeben sich alle Mißstände und der ganze Jammer, der sich an die Wohnungsnoth knüpft. In Berlin z. B. ist zwar außerordentlich viel gebaut worden; ganze neue Stadttheile sind im Westen aus der Erde gewachsen, aber das sind im ganzen große, behagliche, luxuriöse Wohnungen. Dagegen macht sich der Mangel an kleinen Wolnungen überaus fühlbar; die Preise für dieselben sind im Verhältniß außerordentlich hoch und die Folge davon ist eine gesundheitswidrige Ueberfüllung der Wohnungen. Die Bevölkerung Berlins ist seit 1864 von 633 279 auf 1 315 547 im Jahre 1885 gestiegen. Die Zahl der billigen Wohnungen ist in dieser Zeit in beträchtlichem Umfange zurückgegangen. Während der Jahre 1840 bis 1881 sanken die Wohnungen mit einem Miethspreise bis zu 90 Mark von 18,69 Prozent auf 3,68 Prozent, die Wohnungen, deren Miethe 90 bis 150 Mark betrug, von 31,98 Prozent auf 13,32 Prozent, während die Zahl der Wohnungen mit einem Miethspreise zwischen 600 bis 1200 Mark sich in derselben Periode verdoppelt, die Zahl derjenigen, für welche 3000 Mark und mehr verlangt werden, sich vervierfacht hat.

Die unerbittlichen Zahlen der Statistik erklären zur Genüge die bedauerlichen Zustände, die sich in den großen Städten entwickeln. Das erstaunliche Mißverhältniß zwischen der Zunahme der Bevölkerung und der Bauthätigkeit hat zunächst die ausnehmend hohen Miethspreise zur Folge; die Wohnungsausgaben machen für die unbemittelten Klassen ein Viertel und mehr des ganzen Einkommens aus; die Arbeiterfamilien in Berlin zahlen im Durchschnitt einige 20 Prozent ihres Einkommens für Miethe. Damit hängt der Wohnungswucher zusammen, der Druck, den der Vermiether durch wucherische Ausbeutung der Nothlage des Arbeiters ausübt. Wir sind noch weit davon entfernt, daß der Richter auf Grund von Gesetzen gegen diesen Wucher einschreiten könnte wie gegen den Geldwucher; er muß im Gegentheil auf Grund des Miethsvertrags den Miether auch dann oft verurtheilen, wenn er selbst von dem wucherischen Vorgehen des Vermiethers ganz überzeugt ist.

Eine andere Folge der Wohnungsnoth ist die Ueberfüllung der Wohnungen; hier berühren wir einen der dunkelsten Flecke des städtischen Lebens, und die Scenen, welche die Romanschreiber der Wirklichkeit nachschildern, bleiben noch immer hinter den Berichten der städtischen Missionen zurück. Berlin und auch andere deutsche Städte wie Breslau und Straßburg geben hierin den großen Weltstädten London und Paris nichts nach. Das Unwesen der sogen. Schlafleute und Aftervermiether, welches gar kein Familienleben mehr aufkommen läßt, welches schon die Gemüther der Kinder vergiftet, alles sittliche Fühlen untergräbt und solche überfüllte Wohnungen oft zu Brutstätten des Verbrechens macht, steht hier in voller Blüthe. Es liegt darüber eine im Jahre 1880 in Berlin angestellte Erhebung vor und seitdem dürften sich diese Zustände noch verschlechtert haben. Da wird von einem Haushalt mit 34 Schlafburschen, von einem andern mit 9 männlichen und 2 weiblichen Schlafleuten berichtet. In 15 065 Haushaltungen gab es für die Familie sammt den Schlafleuten nur einen Raum; von denselben hatten 6953 noch einen Schlafburschen, 4132 noch ein Schlafmädchen, 1790 je zwei Schlafburschen, 607 je einen Schlafburschen und ein Schlafmädchen, 721 je zwei Schlafmädchen und 357 je drei Schlafburschen. Wenn in diesen Räumen überhaupt ein Bett vorhanden ist, so lagert darauf, so viel irgend Platz hat, alle andern auf Stroh und Streu auf der Erde.

Es ist klar, daß von einer Gesundheitspflege auch im beschränktesten Maße in solchen Wohnungen gar nicht mehr die Rede sein kann; aber [788] auch die Räume an sich in den Kellerwohnungen und Dachwohnungen sind ungesund. Die Pariser Armenverwaltung hat vor kurzer Zeit festgestellt, daß die Wohnungen von 39 603 Haushaltungen, welche durch sie unterstützt werden, in gesundheitlicher Beziehung durchaus ungenügend waren. Ein anderer aus diesen Verhältnissen erwachsender Mißstand ist der fortwährende Wohnungswechsel; eine zahlreiche Klasse unserer Bevölkerung ist bereits auf dem Standpunkte der Wohnungsnomaden angelangt. In den volkreichen Städten findet vierteljährlich ein wahrer Massenauszug statt. Entweder der Miether zahlt nicht und wird von dem Vermiether auf die Straße gesetzt, oder dieser findet einen angenehmeren Miether und kündigt deshalb dem bisherigen.

Dieser trostlosen Wohnungsnoth zu steuern, vermag weder der Staat allein noch die Gesellschaft noch die gemeinnützige wohlthätige Gesinnung und Thätigkeit der einzelnen, sondern das vermögen nur alle diese zusammen. Den Bau kleiner Arbeiterwohnungen muß der Staat und die Gemeinde begünstigen; gemeinnützige Bau- und Wohnungsgesellschaften müssen sich bilden zur Errichtung kleiner, gesunder Wohnungen. Es bedarf dabei nicht einmal finanzieller Opfer, eine mäßige Verzinsung ist sicher. Auch die Arbeiter selbst sind in der Lage, durch Vereinigung zu Baugenossenschaften Häuser zu errichten, die im Laufe der Zeit in ihr Eigenthum übergehen. Es ergeht daher an jeden einzelnen unseres Volkes die Mahnung, sich nach Kräften an der Lösung dieser Frage zu betheiligen, wo er im Staats- und Gemeindedienst dafür wirken kann, sie fest im Auge zu behalten, sich jeder Genossenschaft anzuschließen, die nach solcher Lösung strebt. Ohne ein sicheres, sauberes Heim schwebt das ganze Familienleben in der Luft, und gerade auf dieser Grundlage hat sich ja das deutsche Volk bisher sein nationales, sittliches und geistiges Leben aufgebaut.