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Autor: Joseph Schreyvogel
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Titel: Die Wittwe
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aus: Neue Thalia. 1792–93.
1793, Vierter Band, S. 254–330
Herausgeber: Friedrich Schiller
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1793
Verlag: G. J. Göschen’sche Verlagsbuchhandlung
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: UB Bielefeld bzw. Scans auf Commons
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[254]
Die Wittwe
in zwey Akten.

Personen:

Marie, Wittwe.

Charlotte, ihre Schwester.

Mariens Kinder.

Moritz, Charlottens bestimmter Bräutigam.

v. Hohenberg, dessen Freund.

Wittheim.


Erster Akt.

Mariens Wohnung. Ein Saal mit verschiedenen Thüren.


Mariens Kinder auf dem Boden; sie spielen mit Kegeln. Moritz und Hohenberg treten unbemerkt herein.

Minchen. Nun, Fritz! Stelle sie hin. Jetzt werf’ ich.

Fritz. Nein. Mir gefällt’s nicht mehr. Wird Mama noch lange außen bleiben, Liebchen.

[255] Minchen. Ich denke, nein. Fürchtest du dich nicht Fritz? Die Tante wird schmählen, daß du unartig warst.

Fritz. Ach nicht doch, Minchen. Mama ist gar zu lieb, auch wenn sie böse thut.

Minchen. Ist denn die Tante nicht gut?

Fritz. Wohl ist sie’s. Aber Mama ist sie doch nicht.

Moritz (halb laut zu Hohenberg). Es sind ihre Kinder. Sie sind’s. Das Mädchen kenn’ ich noch.

Fritz. Horch Minchen! Wer ist das?

Minchen. Es sind Fremde. Grüße sie, Fritz.

Fritz (geht auf Moritz zu und giebt ihm die Hand). Mama ist zu Besuch. Sie kommt bald.

Moritz. (indem er ihn aufhebt und küßt). Wird sie, Kind, wird sie? Wo ist denn Lotte?

Minchen. Die Tante? Sie ist nur in die Küche gegangen.

Moritz. So. – (Er setzt sich nieder und nimmt die Kinder zu sich hin). Kennst du mich noch, Minchen?

Minchen. Nein, ich kenne Sie nicht.

[256] Moritz (zu Hohenberg). Es ist ihr Erstes. Ich habe es wohl hundert Mahl auf den Armen gewiegt. – Mein Freund, mein Bruder! Du hast die Freuden der Erwartung mit mir getheilt; Du weißt, wie ich auf einem Wege von zwey hundert Meilen alles Sehenswerthe vermied, wie ich nichts mehr hören, nichts denken noch träumen mochte als Sie: und nun! Ich bin da, ich habe sie. Meine Freude geht über alles. – – Habt ihr nie von euerm Vetter Moritz gehört, Kinder?

Minchen. Von Lottens Moritz? Wohl haben wir. Bringen Sie uns etwas von ihm?

Moritz. Ihn selbst, mein Schatz. Ich bin Moritz.

Minchen. Ach je! Geschwind, Fritz! Die Tante soll kommen. Es ist Moritz, ihr Moritz.

Moritz. Nicht Kind; bleibe. Sie soll es nicht wissen. Sie soll uns hier selbst finden.

Hohenberg, (der sich indessen im Saale umgesehen hat). Ihr Moritz.

Moritz. Nun?

[257] Hohenberg. Ich wollte, mein Freund, es wäre nur Eine, die dich erwartete.

Moritz. Laß das gut seyn.

Hohenberg. Zwar, vielleicht ist es nur Eine. Denn die Andere –

Moritz. Hohenberg!

Hohenberg. Es ist ja noch die Frage, ob dich die Andere auch erwartet, die Andere, um deren Willen du doch eigentlich hier bist.

Moritz. Was hast du? Ich kenne dich nicht.

Hohenberg. Ich sag’ es nicht, um dein Vergnügen zu stören. Aber du solltest dich erholen. Wir sind da. Das ist Mariens Wohnung. Diesen Augenblick vielleicht tritt sie her ein, und deine Braut mit ihr.

Moritz. Die Braut! Ich sage dir, Hohenberg, wenn du willst, daß ich Charlotten ohne Widerwillen empfangen soll, so laß mir den Beynahmen weg. Die Braut! Ich könnte sie hassen, wenn ich nur daran denke.

Hohenberg. Und doch glaubt sie dir’s noch zu seyn; und doch glaubt es hier noch jedermann, [258] deine Marie und diese Kleinen sogar nicht ausgenommen.

Moritz. Gut. So müssen sie aufhören es zu glauben.

Hohenberg. Im Ernste, Moritz! dieser – bald hätte ich gesagt, dieser Leichtsinn.

Moritz. Nenn’ es wie du willst. Wo ich nichts denken und überlegen kann, mag ich auch nicht darnach aussehen. (Ein Stillschweigen, während dem er sich mit den Kindern beschäftigt. Hohenberg steht in Gedanken).

Moritz. Laß mich nur. Es wird sich geben, es muß. Sie liebt mich: nun ja, wie das geliebt ist! Glaube nur, es giebt noch vieles in der Welt, das ihr werth ist, das sie trösten wird. Sie ist lebhaft und eitel, das wußt’ ich lange. Sie kann ihre Augen auch auf andere Männer richten, und ich bin ihr nicht der Einzige, nur der Erste. Dieser Wittheim zum Beyspiel –

Hohenberg. Wittheim, der empfindsame Misanthrop, von dem dir unser kurzweilige [259] Brook eine so langweilige Geschichte geschrieben hat?

Moritz. Der seit anderthalb Jahren hier aus und eingeht, von dem ich in Lottens Briefen die erste Zeit immer das eine oder das andere hören mußte, und der wahrscheinlich die Ursache ist, warum diese Briefe in der letzten Zeit immer seltener geworden: eben der.

Hohenberg. Vermuthlich eine Bekanntschaft, wie man sie alle Tage macht.

Moritz, (ohne darauf zu hören). Und diese Briefe selbst! So beredt sie sind, so finde ich doch, daß sie alles eher darinn ausdrückt: den besondern Geschmack, das Wohlgefallen an mir und meinen Eigenschaften, die Eifersucht, den Stolz, wenn du willst, auf einen Besitz, der sie auszuzeichnen scheinet; alles aber, nur nicht das Herz, nur nicht Liebe! – Wie ganz anders ist’s mit Marien! Sie schreibt mir wenig, und nie von ihren Empfindungen; und doch athmet alles den reinsten Geist der Liebe. Sie hat mir’s nie gesagt, daß sie mich liebt, und vielleicht vermuthet sie kaum, daß ich sie ohne [260] dieß verstehe. Doch ist’s gewiß. Es entgeht ihr kein Wort, keine Bewegung, nicht die unbedeutendste, die mir’s nicht bestätigte, daß ich der Mann ihres Herzens bin.

Hohenberg. Du bist sehr zuversichtlich.

Moritz. Und du sehr befremdend. Seit wann hältst du mich für einbildisch?

Hohenberg. Für einbildisch nicht, wenigstens nicht für eingebildet; aber du liebst, Moritz, und du wünschest.

Moritz. Nein, ich täusche mich nicht. Und endlich, was soll ich mit Charlotten? Sie aufopfern, mich, und Marien vielleicht dazu? Und das alles für eine Grille, die – – deren wir uns alle drey jetzt beynahe schämen! Was willst du denn? Hieltest du’s nicht immer selbst für’s Beste, wenn dieses unnatürliche Verhältniß aufhörte, und wenn ich mich mit der verbände, die unter allen Weibern allein fähig war, mein Herz zu rühren?

Hohenberg. Gut. Darum bist du hier, und dabey soll’s bleiben.

[261] Moritz. Sorge nur nicht. Ich habe wohl eher in harten Anlässen Stand gehalten. Sie sollen nicht wissen woran sie sind, bis alles reif ist. – Ich bin Charlotten verbindlich; sie soll sich nicht über mich zu beklagen haben. Wäre Marie nicht Wittwe geworden, ich hätte, ja! ich hätte sie geheurathet. Wir wären ein Ehepaar geworden, wie es tausende giebt. Es ist nun anders und besser. Sie soll es besser haben, Marie, ich; wir alle.

Hohenberg. Lieber Freund –

Moritz. Sie war ein Kind, als ich mich an sie machte, als mir sie Marie übergab. Ich werde es nie vergessen. Es war kurz vor ihrer Heurath. Wir waren allein. Ich sah sie an: mir war wunderbar zu Muthe. – „Moritz, sagte sie, es ist vorbey; verzeihen sie mir“. – Es ist vorbey! rief ich. Ich habe sie verloren ganz, auf ewig! Marie, empfinden Sie das? – Das Herz ging mir über, ich konnte meine Thränen nicht zurück halten. Marie glühte und zitterte vor Verlegenheit; sie wollte aufstehen [262] und sich entfernen. Ich schlug die Augen nieder, und blieb stille. Endlich spürte ich ihre Hand auf der meinigen. „Nicht ganz, wenn Sie wollen, Moritz; nicht ganz“ – hört ich sie stottern. Ich hielt ihre Hand, und sah ihr friedfertig in’s Gesicht. „Ich habe eine Schwester, sagte sie, und ein himmlisches Feuer glänzte in ihren schönen Augen; „die Tochter meines Herzens. Es ist Charlotte. Ich bin vor ihr hergegangen; ich habe ihr Mutterstelle vertreten. Ich habe sie geführt und gebildet“ – –

Hoffenberg. Du hast mir davon erzählt. Es war ein rührender Auftritt.

Moritz. Der Einfall überraschte mich, und die Thorheit war geschehen. Mir war – wie sage ich doch? – mir war, als ob sich Marie in ein zweyfaches Wesen theilte, wovon das Bessere bey mir zurück blieb. Marie, sagte ich, ich werde Sie nie verlassen. Ihre Schwester – ich heurathe ihre Schwester. Sie wird glücklich seyn, wir werden alle glücklich seyn“.

Hohenberg. Es ist doch sonderbar.

[263] Moritz. Es war – ein Gesicht, ein Traum, eine Narrheit, eine Raserey, wenn du willst. Ich erfuhr bald, was das Herz für ein Schalk ist. Ich fand Marien in ihrer Schwester nicht, ich konnte sie nicht finden. Allein ich sah, daß ich mit dem Mädchen würde leben können, und ließ die guten Leute bey der Hoffnung, das übrige werde sich geben. Aber nun – es ist alles vorbey und anders. Marie ist frey, sie liebt mich: die Comödie muß ein Ende nehmen.

Hohenberg. Nun, mein Freund! und es wird, hoffe ich.

Moritz (nach einem Stillschweigen). Wie ist’s, Minchen? Warum bist du so still?

Minchen. Ich sehe Sie an.

Moritz. Was siehst du an mir?

Minchen. Daß Sie von der Sonne verbrannt sind.

Moritz. Das macht, ich scheue die Sonne nicht.

Minchen. Und doch so freundlich.

[264] Moritz. Gefall’ ich dir?

Minchen. Wohl. Bleiben Sie bey uns?

Moritz. Wenn mich Mama behalten will.

Minchen. Ach, sie ist Ihnen gar gut und Lotte auch. Wir haben alle auf Sie gewartet.

Fritz. Ja, und die Tante hat uns erzählt, wie sie den bösen Drachen todt gestochen haben. (auf den Degen zeigend). War’s damit?

Moritz. Es war nur ein wildes Schwein, mein Sohn.

Minchen (aufspringend). Die Tante, die Tante!

Charlotte tritt herein.

Charlotte[WS 1] (in Erstaunung). Wer ist das?

Moritz (auf sie zugehend). Jemand Bekanntes.

Charlotte. Ach, mein Gott! Moritz.

Moritz. Leibhaftig. – – Ich habe mich verändert, nicht wahr?

Charlotte. Moritz!

Moritz. (Ein Stillschweigen, während dem er sie mit Ruhe und Wohlgefallen betrachtet. Charlotte [265] ist in dem Zustande der freudigen Ueberraschung). Und Sie, Lotte! Sie haben zugenommen an Jahren, Schönheit, Weisheit und Gnade, bey Gott und den Menschen. Ganz vollkommen! – Ich sehe, mein Kind, Sie lassen sich eben keine grauen Haare um ihre Freunde wachsen.

Charlotte. (tritt etwas zurück, über und über glühend). Er ist’s wahrhaftig.

Moritz (nach einer Pause, gleichsam um ihr Zeit zu lassen). Sie sind wohl, Sie sind glücklich. Ich sehe es, und bin entzückt.

Charlotte. Wie ist mir denn? Was thue ich, wohin wend’ ich mich? Ist denn niemand da? Will sich niemand mit mir freuen?

Moritz (lächelnd). Ich, Charlotte; wenn Sie mich in der Freude nicht übersehen wollen.

Charlotte (im Begriff ihm um den Hals zu fallen, sie nimmt Hohenberg in Acht, und stutzt. Hohenberg tritt hinzu).

Moritz (ihn vorstellend). Mein Freund und Gefährte von Hohenberg.

Charlotte. Wir haben viel Rühmliches von Ihnen gehört, mein Herr.

[266] Hohenberg. Ich bin glücklich, in so schönem Andenken zu seyn.

Charlotte. Und Sie haben alle die schönen Länder mit einander durchzogen? Das ist herrlich! O, ich muß auch einmahl reisen, und zu Fuße. Ueber den St. Gotthard; nicht wahr, Moritz?

Moritz. Ueber den Caucasus, wenn Sie wollen, mein Kind.

Charlotte. Es muß gar zu angenehm seyn.

Moritz. Vom Hörensagen, und in der Erinnerung noch mehr, als in der That selbst. Man hat’s nicht überall so bequem, und am Ende sieht sich die Welt allenthalben so ähnlich. Wir haben’s auch verschiedentlich gefunden. Manches schlimmer wie hier, vieles besser; nur Eins nicht.

Charlotte. Das wäre?

Moritz. Die Frauenzimmer. Ich habe sie vor mir gehabt, wie auf einer Musterkarte, von allen Farben. Liebenswürdiger habe ich sie [267] nirgends finden können, und wie ich nun sehe, auch nicht schöner.

Charlotte. Ah, ah! Ungemein kostbar. Ich merke Sie sind auf der Reise geworden, wie alle.

Moritz. Nehmlich, Charlotte?

Charlotte. Sehr höflich, bis zur Ausschweifung.

Hohenberg. Man lernt den Werth seiner Heimath schätzen.

Charlotte. So dürfen wir hoffen, Sie eine Weile bey uns zu behalten?

Moritz. So lange Sie Geschmack an uns finden.

Charlotte. Doch das versteht sich. Wir haben den Winter auf Sie gerechnet. Sie sollen zu thun haben, dafür stehe ich. Machen Sie sich nur gefaßt.

Moritz. Ich vermisse zwey Personen, mein Fräulein.

Charlotte. Zwey?

Moritz. Unsere Marie –

[268] Charlotte. Sie wird es beklagen, ihren ersten Eintritt verfehlt zu haben.

Moritz. Und noch jemand, von dem ich hoffe, daß er mir erlauben wird, ihn auch den Unsrigen zu nennen.

Charlotte. Mein Herr –

Moritz (aufgeweckt). Obwohl ich nicht weiß, wie geneigt er ist, mich unter die Ihrigen zu zählen.

Charlotte Im Ernste, mein Herr –

Moritz. Im Ernste, mein Kind, es sollte mir gefallen, Sie ein wenig roth zu machen.

Charlotte, (ihn nachahmend, etwas gezwungen). Und mir, lieber Freund, Sie ein wenig eifersüchtig zu sehen.

Moritz. Nu, nu, Charlotte, wer weiß! – Vor allem, mein Kind; wir bleiben den Mittag hier.

Charlotte. So muß ich wohl einen Augenblick nachsehen. Wir haben eine Wirthschaft, daß es eine Schande ist. Ich muß überall selbst daran seyn, wenn etwas geschehen soll. Sie unterhalten [269] sich indessen, meine Herren? – Kommt Kinder!

(Charlotte mit den Kindern ab).

Moritz. Nun, Hohenberg?

Hohenberg. Höre, Moritz, das Kind ist allerliebst.

Moritz. Sie ist in der That viel reitzender geworden.

Hohenberg. Nimm dich in Acht. Du könntest leicht noch auf andere Gedanken kommen.

Moritz. Bilde dir das nicht ein.

Hohenberg. Mir wär’s unmöglich, so einem Figürchen den Korb zu geben.

Moritz. Ah, die Mama ists doch nicht! hast du den Kleinen gehört? – Ich bin darauf gefaßt, Marien weniger schön zu finden, als ich sie verließ. Sie hat viel gelitten. Was ist’s? Ich hab’ es oft gedacht; Sie würde noch alle meine Begierden umfassen, und wenn sie alt und runzelig geworden wäre, wie mein Mütterchen.

Hohenberg. Es ist eine wunderbare Liebe.

[270] Moritz. Marie! Marie! – Du weißt noch, wie ich mir in den Kopf setzte, böse auf sie zu seyn, und Dir gar viel davon vorschwatzte, daß sie mir gleichgültiger zu werden anfinge. Ich habe hernach noch oft darüber gelacht. Es ist mir beynahe selbst unbegreiflich, wie sie mein ganzes Wesen so um und um bestrickt und gefangen hat. Alles ist mir interessant an ihr, alles ist mir unersetzlich. Ich möchte nicht das kleinste Mahl auf ihrem Arm verlieren; und wenn ihre reine Seele eines Fleckens fähig wäre, ich glaube, ich würde ihn nicht geringer halten als jede ihrer Tugenden.

Hohenberg. Das ist Abgötterey.

Moritz. Rede nur. Ich bin doch sonst kein Phantast, und schon ziemlich über die Knabenjahre hinaus. Sie wird meinen Kopf in Feuer setzen, wenn mein Haar schon grau ist. Ich will nicht klüger scheinen als ich bin, am wenigsten hier.

Hohenberg. Wenn du sie erst hast, wird sich der Ungestüm legen.

[271] Moritz. Ich hoff’ es. – Es ist manchmahl eine Stunde, wo ich ruhiger bin, wo ich mich frage und verwundere. Aber ich habe keine Antwort, ich weiß und verstehe nichts davon. Wie kann man so verschieden seyn, so vielseitig, und doch wieder so Eins und so ganz? Wie kann so viel Wärme bey so viel Kaltsinn zusammen wohnen? Die Zartheit und Innigkeit dieses Gefühls bey diesem festen Sinn? – Du kennst mich, du hast mich geprüft. Hatte ich mit den Freuden des Lebens nicht abgerechnet? War ich nicht so ausgetrocknet, so geschäftig? Wie sprach ich von der Liebe, wie dachte ich, wie empfand ich mich! Und jetzt! – Das hat alles verwandelt und umgekehrt, wie der Schlag einer Zauberruthe. Der Streich, der Marien zur Wittwe machte, hat die Jahre der Erfahrung von mir abgestreift. Die ganze, frische Blüthe meines Lebens ist auf’s neue hervorgegangen: ich denke nicht, ich empfinde; ich handle nicht, ich genieße. – Was für ein seltsames, unzuverläßiges Geschöpf ist der Mensch! Ich begreife ihn nicht.

[272] Hohenberg. Es sind nicht alle Menschen wie du, lieber Moritz. Du hast einmahl von dir selbst gesagt: ich bin alles und nichts. Ein wahreres Wort ist nie aus deinem Munde gekommen. Ich habe oft lachend behauptet, daß du deine Talente vergräbst, daß ein großer Dichter an dir verloren ist. Es war ganz richtig, ich hätte nur nicht lachen sollen. So wie du dich beschreibst, denke ich, muß es dem seltenen Geiste zu Muthe seyn, der jeden Charakter mit der Leichtigkeit annimmt, womit man ein Kleid anzieht, ohne daß man jemahls von einem sagen könnte, es ist der seinige.

Moritz (zerstreut). Du magst wohl recht haben.

Hohenberg (lächelnd). Wie sagtest du da?

Moritz. Ich habe einen Einfall. Höre.

Hohenberg. Da kommt die Schwester zurück. Ich will euch einen Gefallen thun und ein wenig abseits gehen. (Er geht in ein Nebenzimmer).

Charlotte.

Charlotte, (da sie ihn allein seht, und ihn [273] zueilend). Endlich, Moritz! Nach vier langen Jahren!

Moritz. Endlich! Wirklich endlich, Charlotte? Und nach vier langen Jahren?

Charlotte. Sie sind aufgeräumt, lieber Moritz.

Moritz. Nein, meine Gute; es ist mein Ernst. Das Leben ist an sich so sauer, so widerwärtig und langweilig! Ich möchte es meinen Freunden nicht noch widerwärtiger und langweiliger machen. Ich wünsche geliebt zu seyn, mit Heiterkeit und Ruhe; ich wünsche, daß man nach mir verlange, daß man mich erwarte, mit Vergnügen und Freude, ohne eine verdrießliche Ungeduld, ohne Aengstlichkeit; ich möchte, daß man mich entbehrte, daß man es fühlte, aber ich verlange nicht, daß man meiner nicht entbehren könne.

Charlotte. Sie sind sehr bescheiden in ihren Wünschen, in der That.

Moritz. Ich bin nur gerecht.

Charlotte. Das heißt, Sie gestehen, daß Sie von den Wünschen ihrer Freunde eine gleiche Bescheidenheit erwarten.

[274] Moritz. Wenn Sie es so nennen wollen, warum nicht?

Charlotte. Ich fürchte, ich bin so genügsam nicht.

Moritz. Nun, Charlotte! Im schlimmsten Falle weiß man sich zu trösten.

Charlotte. So?

Moritz. Ohne Scherz! Sie haben eine Bekanntschaft gemacht. Nach allem, was ich gehört habe, ist Wittheim ein würdiger Mann. Es freut mich, daß er ihr Freund geworden, und ich bin weit entfernt, Ihnen darüber Vorwürfe zu machen.

Charlotte. O, dafür ist mir die Billigkeit ihrer Denkungsart gut.

Moritz. Möchten Sie sie etwa weniger billig?

Charlotte. Aber in der That, ich weiß nicht, warum Sie nur immer auf diese Bekanntschaft kommen.

Moritz. Und ich, ich weiß nicht, warum Sie immer ausweichen, wenn ich darauf komme. – Husch, Lotte! Ich glaube gar, Sie sind [275] in Verlegenheit? Kommen Sie einmahl mein Kind, und fragen Sie, was für Bekanntschaften ich gemacht habe. Vier Jahre, in der weiten Welt! Geben Sie acht, Sie werden etwas abzurechnen finden.

Charlotte (lachend). Fast sollte ich Sie beym Worte nehmen.

Moritz. Immer zu. Doch halt! Da hätten Sie ja gestanden, nicht?

Charlotte. Gestanden! Was für Ausdrücke das sind.

Moritz. Ein wenig militärisch: stoßen Sie sich nicht daran. Ich habe ein Jahr lang bey meinem Regimente Kriegsrecht gehalten. Da hat’s mit den schönen Augen der Delinquenten nicht so viel auf sich. Man nimmt sich etwas heraus.

Charlotte. Sie sind allerliebst, mit ihren Delinquenten.

Moritz. Von schönen Augen – Was für Augen waren es doch, die unserm Flink vom Galgen halfen? Ja doch, Signora Bianchi. – Ach, Charlotte! Es war das gefährlichste Advocatengesicht, [276] das jemahls einem Richter vorgekommen ist. Der Kerl hätte hängen sollen, und wenn es den letzten Strick im Lande kostete. Signora Bianchi ließ sich einfallen, ihn los zu bitten. Widerstehe da, wer will! Sie hätten sie sehen sollen, Lotte. Eine Figur wie Juno; ein wenig größer als Sie: aber ganz das schwarze, trotzende, muthwillige Auge. Es war unmöglich, ihr etwas abzuschlagen.

Charlotte. Nun, Sie kommen ziemlich in ihren Text.

Moritz Ach, mein Kind! Man fängt mit so schönen Entschließungen an. Die Treue ist eine göttliche Sache; wenn nur der Versucher nicht wäre.

Charlotte lacht.

Moritz. Soll ich Ihnen erzählen, wie das so geht? Es ist eine erbauliche Geschichte. – Gleich Anfangs, wenn sich zwey Leute trennen, mochten sie vor Verdruß und Jammer vergehen. Sie schonen sich und andere nicht: sie können nicht aufhören zu erzählen, zu rühmen, zu preisen, und sich zu beklagen. Nach und nach wird [277] man stiller, und das ist gut. Es greift die Lunge an; wer hört auch am Ende zu? Das kaltlütige Volk kriegt es satt. Also eine andere Periode! – Man schweigt, man sondert sich ab, man sucht die Einsamkeit. Die Gesellschaft ist einem verhaßt, man mag keine fremden Gesichter leiden, und stößt man von ungefähr auf eines, so ist es ein so leeres, schaales, nichtsbedeutendes Gesicht. Ach, rufen wir aus: was ist Sie doch für ein Weib! Was ist Er doch für ein Mann! Einen solchen giebt’s nicht mehr.

Charlotte (lachend). Sie haben’s. Man sieht, die Erfahrung spricht aus Ihnen.

Moritz. In die Länge kann das auch nicht währen. Man wird mißmuthig und störrig. Das Sitzen und die Einsamkeit wirken auf die Eingeweide, der Hypochonder meldet sich. Aus Verdruß und langer Weile geht man wieder unter Menschen; und das ist die dritte Periode. – Man läßt einmahl die Blicke herumschweifen, wäre es auch nur, um zu sehen, wie tief alle andere unter ihm sind; unter ihr, sollte ich sagen. Das hilft. Die Satire schlägt sich dazu [278] und das ist gar ein köstlich Ding. Man beobachtet, man vergleicht; da und dort findet sich gleichwohl ein Zug, eine Miene, eine Wendung, die uns an jemand erinnert. Wahrhaftig, an ihn selbst! Man verwundert sich und kommt ein wenig näher, – und das ist das Letzte. Ein Wort giebt das andere: man spricht, man fragt, man unterrichtet sich, und ist erstaunt so viel Aehnliches zu finden; so viel Aehnliches! Das übrige giebt sich von selbst. Man wird einander gewohnt und vertrauter, und der Hahn hat gut krähen, bis wir uns an den erinnern, dem unser neue Freund so ähnlich sehen sollte.

Charlotte (lachend). Ich gestehe, Sie sind ein Meister. Sie mahlen nach dem Leben.

Moritz. Manchmahl ist es wohl auch der Contrast. Ihr Liebhaber hat schwarzes Haar: da fällt Ihnen einer auf, blond wie Gold. Man sehe nur, blond wie Gold! Moritz schwatzt und lacht, wie ein Unbesonnener; was gilt’s, ihr Wittheim ist ein Melancholicus?

Charlotte Nun, die Anwendung verbitte ich mir. So war es nicht gemeint.

[279] Moritz. Ich rede Vergleichungsweise, und meine nur mich selbst. Liebes Kind! ich habe das wohl hundertmahl erfahren.

Charlotte. Bewahre uns Gott, wohl hundertmahl!

Moritz. Ey doch! hundertmahl, das heißt, mehr als einmahl. Was Wittheimen betrifft, so will ich es an den Fingern hersagen. Er kam; Sie mußten’s leiden, und am Ende litten Sie es ohne großen Widerwillen, wie das ganz natürlich und vernünftig ist. Das ist alles.

Charlotte. Sie treffen ziemlich nahe.

Moritz. Sagt’ ich’s nicht.

Charlotte. Sie kennen mich. Warum sollt’ ich es läugnen? Ich bin ihm gut; Sie werden es auch, wenn Sie ihn erst kennen. Er ist etwas sonderbar, aber brav, und hat viel Freundschaft für uns.

Moritz. Er soll leben!

Charlotte (ungemein munter). Sie sind ein Mann, Moritz, einzig in ihrer Art. Man thut sich etwas zu gute auf Sie. Sie sind – so vornehm, möchte ich sagen. Man kann sich zeigen, [280] man kann Sie sehen lassen. Ein armer Grillenfänger, wie Wittheim, kann Ihnen nichts schaden. Er ist für’s Haus, man läßt ihn mitlaufen.

Moritz (lacht mit ihr).

Charlotte. Ich habe oft gedacht, wenn du ihn könntest wo unterkriechen lassen. Er verlangt nicht viel, und schickt sich immer, wie man auch ist. Sie wissen, ich bin ein närrisch Mädchen, Moritz. Ich habe tausend Launen; er erträgt sie alle, und ich geniere mich nicht viel. Es ist eine gar gute Seele! Bey Ihnen, ah! das ist gleich anders. Man nimmt sich zusammen, man denkt, man müsse im Staate seyn.

Moritz (für sich). Die liebe Aufrichtigkeit!

Charlotte. Sie werden über mich lachen. Aber ich bin im Plaudern, und da bleibt nichts zurück. – Manchmahl sage ich zu mir: da sind zwey Männer. Den Einen möchte man haben, da meine ich Sie; und den Andern sollte man nicht lassen, und da meine ich ihn. Der Eine wird dich auf den Händen tragen, den Andern [281] wirst du tragen sollen, wenn du es gut haben willst. – Habe ich nicht recht?

Moritz. Sie sind ein gutes, liebes, unvergleichliches Mädchen. Ich bin vernügt, Charlotte, recht sehr vergnügt. Wo doch Marie bleibt! Ich möchte –

Wittheim (tritt herein, in einiger Verwirrung, da er Moritzen sieht).

Moritz. Und das ist er, nicht?

Charlotte (in besonders guter Laune). Unser Moritz, Herr von Wittheim.

Wittheim (bestürzt). Ich bin ungemein erfreut, mein Herr.

Moritz (zuvorkommend und sehr freundlich). Und ich nicht minder, mein Herr, da ich einen Mann persönlich kennen lerne, der mir schon aus der Ferne so vortheilhaft bekannt ist; und dem ich von ganzem Herzen der Aufmerksamkeit wegen Dank sage, die er in meiner Abwesenheit für meine Freundinnen bezeigt hat.

Wittheim. Mein Herr –

Moritz. Und die er, hoffe ich, keine Ursache [282] finden wird, in meiner Gegenwart zurück zu nehmen.

Wittheim (für sich). Unerhört! – Sie sind allzugütig mein Herr.

(Hohenberg aus dem Cabinet, gleich darauf ein Bedienter.)

Hohenberg. Sucht man dich nicht, Moritz?

Der Bediente (zu Moritz). Der Kammerdiener des Ministers, gnädiger Herr, und hier dieser Brief.

Moritz. Sehr ungelegen! (er liest). Ich muß nur gleich hin, daß ich Ruhe habe. – Charlotte, in einer Stunde längstens bin ich wieder da. (zu Wittheim). Wir werden Gelegenheit finden, mein Herr, uns näher zu treten, ich habe nie etwas mit mehr Ungeduld erwartet.

Charlotte. Erlauben Sie, meine Herren, daß ich Sie begleite.

Moritz. Mein Fräulein Braut. Sie vergeben sich von ihrer Würde.

Charlotte. Mein Herr Bräutigam, ich [283] thue nur meine Schuldigkeit. (Sie gehen unter Lachen und Complimenten ab).

Wittheim allein.

Der Bräutigam. Welch ein Auftritt! Ich komme nicht zu mir selbst. – Er kennt mich, er hat von mir gehört, er sieht es wohl gar gerne und es kitzelt ihn einen Nebenbuhler zu finden, den er mit seinem ersten Auftritte niederschlagen, mit dem er seinen Triumph ausschmücken kann. Ich möchte vor Verdruß und Scham vergehen. Es ist nicht voraus zu sehn! Nein, alles voraus zu sehen; und zu kommen, zu zaudern, zu hoffen – bis er da ist, und mich, mit einem Händedruck, aus meinem erbettelten Besitze wirft. Recht so! Ich habe es verdient.

Verdient? Geschieht auch was man verdient? Muß ich nicht überall auf einen Glücklichen stossen, der sorglos und tändelnd daher schlendert, mir lachend den Weg vertritt und den nahen Genuß ohne Mühe wegnimmt, um den ich mir’s so sauer werden ließ! Der Mensch muß nicht lieben; der Arbeitsame, der Treue, der Standhafte nicht. Ich will in mich selbst zurück kehren, [284] und mein Glück in meinem eigenen Herzen suchen. Mein Glück! Gleichgültigkeit, Kälte, das will ich erwerben, das kann ich erwerben.

Er lachte. Die Grausame lachte mit. Und ich bin noch hier? Was will ich noch? Ihre Freude sehen, ihren Übermuth? Seinen Sieg, meine Demüthigung auf ihrem Gesichte lesen, aus ihrem Munde hören? Ich gehe. Und ich ließe sie, ohne es mit einem Worte zu ahnden? Ohne ihren Leichtsinn, ihre verführerischen Künste mit einem Vorwurfe zu bezahlen? Sie hätte ungestraft ihren Muthwillen gehabt? Einen Redlichen mit verstellter Güte, mit tausend Gefälligkeiten und falschen Hoffnungen angezogen, und dann – Nein, Verrätherinn! Ich erwarte dich. Ich will dir einen Stachel in das Gewissen setzen. Ja, ich will! – – O Wittheim, du willst, was du nicht kannst! du ihr Vorwürfe machen, du? daß sie ist, wie alle sind? Geh, geh! Du gehörst unter diese Menschen nicht. (Er geht gegen die Thür).

Charlotte ihm entgegen kommend.

[285] Charlotte. Kommen Sie, Wittheim! Geschwind. Sind Sie nicht schwer, wie Bley! (Sie zieht ihn hinter sich an’s Fenster. Man hört einen Wagen vorfahren).

Charlotte (am Fenster). Sehen Sie doch! Ein schönes Paar Pferde. Ach! (Sie grüßt durch’s Fenster). Sehen Sie doch! – Weg sind sie.

Wittheim (steht verlegen da. Er möchte gehen und kann nicht).

Charlotte (in ihrem Vergnügen, sich gegen ihn wendend). Nun, Wittheim! Wie finden Sie unsern Moritz?

Wittheim ist stille.

Charlotte. Sie antworten nicht?

Wittheim. Ich finde ihn glücklich.

Charlotte. Mehr nicht?

Wittheim. Und wie alle Glücklichen, guten Muths.

Charlotte. Wie?

Wittheim. Uebermuth werden Sie’s nicht nennen wollen.

Charlotte. Das ist seltsam. (Auf einmahl [286] niedergeschlagen. Sie sucht auf dem Tische, und setzt sich dann mit ihrer Arbeit).

Wittheim (nach einer Pause). Charlotte. –

Charlotte. Was verlangen Sie?

Wittheim. Mein Fräulein – Erlauben Sie, daß ich mich Ihnen empfehle.

Charlotte. Warum das?

Wittheim. Ich bin Ihnen lästig.

Charlotte (ohne aufzusehen). Gar nicht, mein Freund.

'Wittheim. O Charlotte, wenn Sie fähig wären, wenn Sie fühlen könnten, was in mir vorgeht!

Charlotte (schweigt).

Wittheim. Sie würden in meiner Gegenwart wenigstens, diese Augenblicke wenigstens –

Charlotte (zu ihrer Arbeit). Daß dich!

Wittheim. Sie würden mich geschont haben, nur geschont.

Charlotte. (steht auf).

Wittheim. Er ist ja da. Sie haben ihn ja. Es ist billig, daß ich zurück trete, ich hätte es lange thun sollen.

[287] Charlotte. Wissen Sie auch was Sie reden, mein Herr?

Wittheim. Ich habe mich geirrt. Ich verstehe mich nicht auf die Weiber: ich habe Sie unrecht ausgelegt. Sie nahmen keinen Antheil an mir. Wer nimmt Antheil an einem Unglücklichen?

Charlotte (verdrießlich und auffahrend). Sie sind auch unerträglich!

Wittheim. Gut, mein Fräulein. – Leben sie wohl.

Charlotte. Wo wollen Sie hin?

Wittheim. Fort.

Charlotte. Haben Sie beschlossen, mir Verdruß zu machen?

Wittheim (gehend.) Ich erspare Ihnen einen.

Charlotte. Bleiben Sie.

(Wittheim steht in einiger Entfernung, halb abgekehrt. Charlotte macht einige Schritte, dann geht sie ans Clavier. Sie scheint mehr unwillig als gerührt.

Wittheim. Befehlen sie etwas?

[288] Charlotte (einen Stuhl zückend.) Setzen Sie sich.

Wittheim. Fräulein!

Charlotte. Hier, neben mich.

Wittheim (steht unentschlossen.)

Charlotte. Was zaudern Sie denn?

Wittheim (mit verbissenem Unmuth.) Sie spielen mit mir, Fräulein.

Charlotte (äusserst aufgebracht). Sie sind nicht klug. Gehn Sie, wohin Sie wollen.

Wittheim (gemäßigt, halb für sich). Was hat sie nun vor?

Charlotte. Nun! so gehn Sie doch. Ich hindere Sie nicht.

Wittheim (bleibt stehen).

Charlotte (macht einige rasche Gänge auf dem Clavier. Dann nimmt sie ein Stück vor, und fängt an es zu spielen).

Wittheim (sich nähernd. Er nimmt die Violin). Befehlen Sie, daß ich accompagnire?

Charlotte. Wie Sie wollen.

(Sie fangen zusammen das Stück an).

Charlotte. Ah! Sie fehlen ja.

[289] Wittheim. Ich nicht, Fräulein.

(Sie fahren fort).

Charlotte. Es geht nicht. Sehen Sie doch zu.

Wittheim, (er macht einige Striche).

Charlotte. Unausstehlich! Wer fehlt nun? – Die Hände zittern Ihnen.

Wittheim (legt die Geige weg). Ja, mein Fräulein, ich zittere.

(Sie sitzt schweigend. Er wendet sich weg, seine Bewegung zu verbergen).

Charlotte. In der That, Wittheim, Sie fangen an mich zu verwirren.

Wittheim. Ich habe Unrecht. Es ist der Lauf der Welt. Ich gestehe es, ich bin beschämt, daß ich mich ausser Fassung bringen lasse.

Charlotte. Ihre Entschuldigungen sind schlimmer als ihre Vorwürfe. Sie haben Ausdrücke – Was habe ich gethan? Ich leide das nicht.

Wittheim. Sie haben’s nicht Ursache.

Charlotte. Der Mann kommt an, dem [290] man mich bestimmt hat. Sie wußten zwey Jahre lang, daß er erwartet wird. Was befremdet Sie dabey?

Wittheim. Der Mann dem man Sie bestimmt hat; ja, Charlotte.

Charlotte. Ein Mann von bewunderten Eigenschaften, den alle Welt liebt und schätzt, den alle Welt mit zuvorkommender Achtung empfängt.

Wittheim. Sie lassen ihm Gerechtigkeit widerfahren.

Charlotte. Und den ich nicht anders aufgenommen habe, als es sich geziemt.

Wittheim. Sie haben vollkommen Recht, mein Fräulein; und ich weiß nicht, warum Sie sich die Mühe geben, sich gegen mich noch zu rechtfertigen.

Charlotte. Ja wohl. Ich weiß es selbst nicht.

Wittheim. Ich bin nicht so verblendet, mein Fräulein, um den Vorzug nicht einzusehen der diesem Manne gebührt. Es ist ein außerordentlicher Mensch, ich bin ein gewöhnlicher, [291] ein ganz gewöhnlicher. Dieß allein wäre genug. Es ist noch mehr, er ist zugleich ihr Bräutigam.

Charlotte. Das ist etwas anderes. Das gehört nicht hier her.

Wittheim. Er hat Rechte und Ansprüche. Ich habe mich nie erkühnt einen Anspruch zu machen; und wenn ihr Betragen, mein Fräulein, mir einigen gegeben hätte –

Charlotte. Mein Betragen, mein Herr?

Wittheim. Die Nachsicht meine ich, die mich durch zwey Jahre geduldet, die Güte, womit Sie mich öfters angehört, die Theilnahme, die ich manchmahl an Ihnen zu bemerken glaubte.

Charlotte. Lassen Sie mich! Sie peinigen mich und haben ihre Freude daran.

Wittheim. Charlotte! Ich habe mancherley Schicksale gehabt. Das Glück ist mir günstig gewesen. Hier schien es mich zum erstenmahl anzulächeln. Ich fing an, mich aufzuheitern; mein gepreßtes Herz belebte und erweiterte sich: allmählig ward es wieder der [292] Freundschaft offen, der Freundschaft und – der Liebe. Ich wahr fühllos und stumpf: Ihr Umgang gab mir die Empfindlichkeit wieder, die nur die Kinder des Glückes haben sollten. – Ich habe das Reden verlernt, Charlotte; ich weiß nicht, ob Sie mich genug verstehen. Ich möchte den Schmerz äußern, der in meiner Brust wühlt: ich habe die Kraft verlohren, ihn auszuschütten.

Charlotte. Das ist eine traurige, niederschlagende Sprache, mein Freund. Ihr Trübsinn ist ansteckend, spüre ich.

Wittheim. An wem liegt es, daß es nicht die aufmunternde Sprache, der Zufriedenheit ist? – Liebste Charlotte! Sie haben mich glücklich und froh gesehen. Was auch Moritz für Verdienste hat, in Einem thue ich es ihm zuvor. Er kann das Gefühl nicht für Sie haben, daß ich habe: Sie können ihm nicht soviel, so völlig alles seyn, wie Sie es mir sind. Was fragt das Herz nach Gütern und Vergnügen, die es nicht genießt? Die Liebe sucht nur Liebe, das Herz will nur das Herz, und selten verträgt [293] sich ein außerordentlicher Geist mit dem einen und dem andern.

Charlotte. Sie sagten das schon oft, und ich glaube empfunden zu haben, daß es wahr ist.

Wittheim. Darf ich Sie an das Vergangene erinnern? Wie oft haben Sie über dieses erzwungene Verhältniß gescherzt! „Ich komme mir vor, sagten Sie lachend, wie eine Kronerbinn, die man an den galantesten Prinzen seiner Zeit verlobt hat.“ – Welche Betrachtungen habe ich Sie über seine Briefe machen hören! Briefe, die alle die gewandte Artigkeit, alle den Leichtsinn, alle die gefällige Kälte eines vollendeten Weltmanns athmen, ohne eine Spur von Aufrichtigkeit und Liebe zu zeigen.

Charlotte. Ey Wittheim! Sie sind ziemlich absprechend, was das betrifft.

Wittheim. O mein Kind! Ich durchschaue Sie. Es ist die Eitelkeit, die mich um ihr Herz betriegt, die Sie selbst darum betriegt. – Ich fühle mich frey und offen, meine Zunge ist gelöst: ich habe nie den Muth gehabt, Ihnen alles so zu sagen. – Sie müssen es hören; Sie sind es [294] mir schuldig. Es schmeichelt Ihnen, von diesem Manne geliebt, von ihm gewählt zu werden. Es schmeichelt Ihnen diesen Mann zu besitzen: einen Mann – sagten Sie nicht so? einen Mann von bewunderten Gaben, den alle Welt liebt und schätzt, um den sich alle Welt bewirbt. Ich rede nicht vom Aeußeren, von der Gestalt, und dem Schimmer des Glückes der ihn umgiebt, und der seinen Eindruck auf die Weiber nie verfehlet.

Charlotte. Was für Gedanken haben Sie da!

Wittheim. Es sind wahre Gedanken: verhehlen Sie sich’s nicht. – Charlotte, ich habe genug gesagt; mehr als ich sagen wollte, mehr als ich jemahls sagen zu können glaubte. Ich habe Ihnen nichts anzubiethen als das Herz eines Redlichen, als mich selbst. Das ist wenig, und ich verstehe mich nicht darauf, dieß wenige geltend zu machen.

Charlotte. Ich bin Ihnen gut, Wittheim. Ich habe Sie immer wie einen Bruder angesehen, mehr als einen Bruder.

[295] Wittheim. Charlotte! und Sie heurathen ihn?

Charlotte. Ach! Sie fragen so viel! Ich denke freylich wohl. Es muß ja seyn. Moritz und Charlotte, das war so vom Anfang her. Ich habe mich daran gewöhnt; ich würde den hassen, der mir ihn nähme. Dann aber – ich weiß nicht; ich habe auch nie recht darüber nachgedacht. Mir ist das Heurathen immer als eine sehr gleichgültige Sache vorgekommen.

Wittheim. Sie ist es nicht, mein Kind! Sie ist es nicht. (Er faßt ihre Hand, und betrachtet sie schweigend und mit Zärtlichkeit).

Charlotte. Sie machen mir bange. Was fehlt Ihnen? – Thränen, Wittheim?

Wittheim. Die ganze Freude des Lebens ist eine Thräne werth.

Charlotte. Wahrhaftig, Sie machen, daß ich Ihnen gram bin und mir selbst. Sie sind seltsam, recht seltsam. Ich habe in meinem Leben nicht so viel Lust gehabt, mich mit jemand zu zanken.

[296] Wittheim. Zürnen sie nicht, Charlotte. Ich bin ruhig.

Charlotte. Was wollen Sie denn, daß ich thun soll?

Wittheim. Was Ihnen ihr Herz eingiebt. Ich möchte Sie nicht überreden, wenn ich auch könnte, und um der Versuchung nicht widerstehen zu müssen, entferne ich mich. (Er küßt ihre Hand und geht).

Charlotte. Ich weiß auch gar nicht wie Sie sind. Ich bin so erhitzt. Das Blut brennt mir in den Wangen. – Er geht wirklich. Wittheim!

Wittheim (bleibt einen Augenblick stehen, dann geht er schnell ab).

Charlotte. Der eigensinnige Mensch! Wie ist mir denn? Wunderbar genug. Aber ich liebe ihn nicht; nein, ich liebe ihn nicht. (ab).


[297]
Zweyter Act.

Moritz und Charlotte. Die letztere vor dem Spiegel; sie ist gekleidet um auszugehen.

Marie. Du bist muthwillig, Schwester.

Charlotte. Das Leben ist, wie man’s nimmt, sagt Moritz. Die Lustigkeit und der frische Muth sind das Beste daran, und der Muthwille grenzt hart an diese köstlichen Dinge. – Ich schicke mich in ihn, wie es einer gehorsamen Frau geziemt.

Marie. Du bist in seinem Ton; so wirst du ihm gefallen.

Charlotte. Meinst du? O, ich finde mich leicht in anderer Leute Ton, wenn es mein eigener ist. Aber gleichwohl, findest du diesen Herrn Bräutigam nicht ein wenig langsam? Er hält mich eben nicht belagert, er läßt mich zu Athem kommen. Wittheim wäre schon anders.

Marie. Du kannst doch deinen Wittheim nicht weglassen.

Charlotte. Daß ich Dir’s nur gestehe, Schwesterchen! ich habe wunderliche Gelüste. (Sie lacht in sich).

[298] Marie. Nun, Charlotte?

Charlotte. Mir ist, ich behalte sie beyde. Ich fürchte immer ein Mann wird mir zu wenig, und die zwey wären gerade recht. Was dem Einen fehlt, davon hat der Andere desto mehr. Moritz ist ohnehin kein Mann für alle Tage.

Marie (lachend). Nun, das ist nicht übel.

Charlotte. Es ist doch besonders. Wenn er da ist, so drückt mich etwas, ich habe die frohe Laune nicht. Sein Witz läßt keinen andern neben sich aufkommen. Es ist, als ob er Dir die Rede vom Munde wegnähme, und wenn Du einen Einfall vorbringen willst, so hat er ihn schon gehabt.

Marie. Es ist etwas Wahres an der Bemerkung.

Charlotte. Heut bey Tische war ich verstimmt. Ich besinne mich auf die Ursache. Warte! Ich denke, es war Eifersucht.

Marie. Bist du nicht klug?

Charlotte. Ganz recht! ich habe ihn auf ein Paar Blicken ertappt. Es waren Blicke! Weißt du auch, wem sie galten?

[299] Marie. Nein.

Charlotte. Dir, mein Schatz.

Marie. Kind!

Charlotte. Und das soll nicht seyn, ich verbitte mir’s. Was den Punct betrifft, neide und geitze ich ohne Ansehung der Person. Ich möchte alles was liebenswürdiges unter den Männern ist, zu meinen Füßen versammelt sehen. Und wenn ich ihn auch nicht liebte diesen Herrn Moritz –

Marie. Wenn Du ihn nicht liebtest?

Charlotte. Wenn ich ihn auch nicht liebte, so sollte er sich doch nicht gelüsten lassen, seine Augen auf eine andere zu werfen. Denn das geht nicht, und schickt sich nicht, und darf nicht seyn.

Ein Mädchen kommt mit Mariens Kindern.

Charlotte. Seyd ihr fertig Kinder? Wir wollen zum Onkel; ist’s recht? – Ich bleibe nicht lange. Diesen Abend wird er zusprechen, sagte er. Ich bin neugierig, wie er sich hält. Er mag sich in Acht nehmen: Adieu, Marie.

(Sie und die Kinder gehen ab).

Marie (allein, nachdem sie Charlotten nachgesehen).

[300] Was ist das? Sie ist mir weniger lieb; oft fängt sie mir an unerträglich zu werden. – Ist das Neid? Marie, Marie! Wohin geräthst du? – Er ist da. Jetzt darf ich mir’s gestehen, da ich allein bin, da mich niemand hört. Seine großen Anlagen stehen in ihrer Reife; er ist ein vollkommener Mann geworden. Wenn er mich noch liebte! – Gott im Himmel! Als ich noch ein Mädchen war, als ich das erstemahl das Geständniß hörte, er liebe mich, und mit Zittern empfand, wie ein fremdes Feuer von seinen Worten ausgieng; und ich’s nicht zu denken wagte, daß er das Bild des guten Menschen in mir verdrängte, dem ich mich in kindlicher Genügsamkeit ergeben hatte – – Moritz! Nein, ich klage ihn nicht an. Selbst damahls, als er einen Augenblick vergaß, als er es mich beynahe vergessen machte, ich sey Gattin, wie gleich blieb er sich! Es ist ein edler Mensch. Und ich darf nicht, auch jetzt, da diese Bande gelöst sind, soll ich’s nicht gestehen, wie ich ihn liebe. O, es ist eine klägliche Geschichte! (Sie weint). Nimm [301] ihn hin, Charlotte! Du ahndest nicht, gutes Kind, was du mir nimmst.

(Moritz. tritt herein. Sie erschrickt.)

Moritz. Guten Abend, gnädige Frau.

Marie (nickt mit dem Kopfe, ohne zu sprechen).

Moritz (setzt sich neben dem Soffa). Sie sind so allein.

Marie. Charlotte hat die Kinder mitgenommen.

Moritz. Ist sie ausgegangen?

Marie. Zum Bruder, Sie wissen’s ja.

Moritz. Es ist wahr. (Eine Pause. Marie hat ihre Arbeit vorgenommen und scheint eifrig damit beschäftigt). Marie, Sie sind das glücklichste Geschöpf unter der Sonne.

Marie (bey ihrer Arbeit, ohne ihn anzusehen). Wie verstehen Sie das?

Moritz. Wie Sie es nehmen: das harmloseste. Ihre Bildung, ihre Erfahrungen, ihre Leiden selbst, haben den Geist der Ruhe und Genügsamkeit nicht verscheuchen können, der ihre Kindheit begleitete. Außer den Heiligen im Paradiese, [302] sind es nur die Kinder, die einer Seligkeit fähig sind.

Marie (mit einem leichten Lächeln). Klingt das nicht ungefähr wie eine Unhöflichkeit?

Moritz. Bey einer andern wär’ es vielleicht eine.

Marie (nach einem Stillschweigen). Haben Sie ihren Freund nicht mitgebracht?

Moritz. Ich sah ihn den Nachmittag nicht.

Marie. Er ist noch fremde in der Stadt?

Moritz. Vor Jahren war er hier. (Ein längeres Stillschweigen. Moritz steht auf und tritt an den Tisch; er neigt sich gegen Marien, als wollte er reden. Sie hat ihre Augen auf ihre Arbeit geheftet).

Moritz (der sich etwas zurückzieht, halb für sich). Es ist ein wunderliches Ding um die Verlegenheit.

Marie (getroffen und aufsehend). Wie?

Moritz. Nichts als eine alte Bekanntschaft, die mir unvermuthet in den Weg kömmt und mich lächeln macht.

Marie. Ich verstehe Sie nicht.

Moritz. Sehen Sie, Marie. Ich entschliesse [303] mich plötzlich, von dem Fuße der Alpen hierher zu eilen, um Ihnen etwas zu sagen. Ich werfe mich in einen Wagen. Meine Wünsche scheinen seine Räder zu beflügeln, und meine Ungeduld die Adern unsrer dürren Rosse zu schwellen. Die tausend neuen Gegenstände schwimmen und tanzen vor meinen Augen; ich unterscheide sie nicht. Kaum daß ich den Wechsel des Himmels bemerke, so völlig hat eine einzige Empfindung mein ganzes Wesen eingenommen. Ich komme an. Ich fliege hierher. Ich finde, ich sehe Sie und –

Marie. Und Sie sind stumm? (Sie lacht). An Ihnen ist ein moderner Tragiker verdorben, Moritz.

Moritz (ihre Hand ergreifend). So wollt’ ich Sie (Er macht sich Platz und setzt sich geschwind neben sie). Laß uns der Gefahr eine heitere Stirn biethen, meine Theure, und dem heranschleichenden Unmuth mit Lachen begegnen. (Er hebt ihre beyden Hände empor). Möge ewig nur Muth und Freude aus meiner Seele in die Ihrige übergehen, und mein unruhiger Geist sich wonnetrunken [304] in diesem Himmel von Frieden und Liebe versenken.

Marie (in seiner Art). Und der Strom des Lebens unter den Sorglosen schwellend und brausend –

Moritz. Und sie gleiten darüber hin, und wissen’s nicht. Kind, Kind! Sie sind es noch, wie ich Sie kennen lernte – Marie –

Marie (offen und theilnehmend). Was, Moritz?

Moritz. Ich heurathe Charlotten nicht.

Marie, (die ihre Hände schnell zurück zieht). Wie ist das?

Moritz. Es ist heraus. Sie mußten’s wissen, Sie hätten’s lange wissen sollen. Aber ich wollte selbst zur Hand seyn, um zu sehen was zu thun ist, und gegenwärtig Rath zu schaffen. Ich bin hier. Ich habe bedacht, ich habe alles erwogen, es giebt ein Mittel, Marie.

Marie (ist still).

Moritz. Sie ist gut, sie ist lieb und brav; ich kann nichts gegen Sie aufbringen.

Marie. Moritz!

[305] Moritz. Ich liebe sie nicht, ich habe sie nie geliebt. Ich will sie nicht hintergehen. Sie kann mit einem andern glücklich werden.

Marie. Mit einem andern? Das sagen Sie, das glauben Sie?

Moritz. Warum nicht? Wie ich sie kenne, kann ich’s glauben. Hören Sie, Marie; ich habe eine Entdeckung gemacht.

Marie. Der Schlag kommt so unerwartet, ich erhohle mich kaum.

Moritz. Beruhigen Sie sich. Ich kenne das Kind, ich weiß, es giebt etwas, das meinen Platz in ihrem Herzen ausfüllen wird.

Marie. Und wenn Sie sich irren?

Moritz. Nein, nein. Und wenn es wäre, soll ich das Glück meines Lebens aufopfern, weil mir ein Mädchen wohl will? Marie – (Sie macht eine Bewegung. Er läßt seine Arme sinken und steht auf). Was für eine Gestalt ist das, die sich zwischen uns eindrängt? Marie! Machen Sie nicht, daß ich das Mädchen hassen muß.

Marie. Moritz, vor dem sprachen Sie anders. Und ist es Charlottens Schuld, wenn Sie [306] ihr nach und nach so theuer, so unentbehrlich geworden sind?

Moritz. Marie, Marie! an was erinnern Sie mich? Ich habe mich getäuscht, mein Herz hinterging mich. Aber Sie? Haben Sie nie zu viel gehofft? Haben Sie nie erfahren, daß wir das Übermenschliche zwar begreifen und fassen, aber nicht tragen können? Ich habe Sie geliebt, Marie; ich hoffte Sie in ihrer Schwester auf’s neue zu lieben. Sie wünschten es selbst. Es ward nicht. Was ist zu thun? Wollen wir der Natur und den Neigungen gebiethen, nicht sich zu legen oder zu unterwerfen, sondern zu entstehen und zu gedeihen, wo wir’s für gut finden? Willst du die Leidenschaften eines Mannes zu deinen Füßen versammeln, sie stillen und bereden, und ihnen ihre Spielwerke austheilen, wie du’s mit deinen Kindern machst?

Marie. Wohin verirren Sie sich?

Moritz. Ich bin nicht aus meinem Gleise. Ich will mich nicht entschuldigen, ich will mich nur begreiflich machen.

Marie. Mir war lange, als ob ich Sie [307] begriffe. Ihre ganze Geschichte zeugt von einem Muthwillen, von einer Kälte, die mich schaudern macht. – Sie lachen? – Moritz, Sie sind leichtfertig geworden, und ich fürchte, Sie schweifen aus. Ich habe Dinge gehört, die mir nimmermehr gefallen können. Die gute Willau war wohl nicht die erste, die Sie in Versuchung führten. Dieß alles verräth eine Fertigkeit, eine Gewandtheit, die man nicht vom Hörensagen hat.

Moritz. Sind Sie so unterrichtet? Und sey es. Ich läugne nicht, daß mich der Galanterie manchmahl unterhält.

Marie. Mir mißfällt sie immer. Die Weiber sollten euch heilig seyn. Es ist keine so gut oder so schlimm, daß sie nicht schlimmer werden könnte. Nein, Moritz! Ich bin für die Redlichkeit, die Treue, und für die Liebe von ächtem Gehalt.

Moritz. Marie, Sie wissen nicht was für Worte Sie reden.

Marie. Es war eine Zeit, wo Sie auch mir mit einer Neigung schmeichelten, wäre ich [308] sicherer vor diesem Wankelmuth, vor diesem Muthwillen gewesen? (Abgewandt). Mensch, du siehst einem Bösewicht ziemlich ähnlich.

Moritz. Sie sehen Geister, Marie.

Marie. Sagen Sie mir, was ich von Ihnen denken soll.

Moritz. Daß ich Sie liebte, Sie allein. Marie! Verstehen Sie sich so wenig auf das Herz des Menschen, und wissen Sie so gar nicht, was für Gefühle Sie erwecken? – Entziehen Sie mir ihre Blicke nicht, Marie. Sehen Sie mich an.

Marie. Nun, mein Herr?

Moritz, (abgekehrt und mit dem Fuße stampfend). Die Fühllosigkeit, der Mißverstand! O, es ist tödtend!

Marie (ihm die Hand biethend). Nun, Moritz?

Moritz (ihre Hand fassend). Liebste, Theuerste!

Marie. Wie wird Ihnen?

Moritz. Marie, denken Sie zurück! An den Abend, da ich auf’s neue zu ihren Füßen lag, da ich Sie in mein Herz schauen ließ, das [309] Sie für geheilt hielten, da sich mir das ihrige einen Augenblick aufschloß; denken Sie zurück! Ich bin es noch, ich bin der Alte. Es ist kein Gedanke in mir, der nicht Ihnen gehörte. Ich liebe Sie noch, ich werde Sie ewig lieben.

Marie (ist still und in sich gekehrt).

Moritz (vor ihr knieend). Das ist’s, das erklärt alles. Hören Sie mich, Marie. Ich habe die Welt gesehen; ich habe viel Weiber kennen gelernt, schön, voll Geist, voll Empfindung. Sie hat mir keine ersetzen können. Sie waren die erste, Sie sind die einzige. Als ich noch ein ungebildeter, unerfahrner Junge war, unterschied ich Sie schon vor tausenden. Sie schienen Theil an mir zu nehmen. Verschmähen Sie mich jetzt nicht. Marie, es ist die innigste, die treueste, die reinste Liebe. Verstoßen Sie mich nicht.

Marie (in äußerster Verlegenheit). Um Gotteswillen, Moritz, stehen Sie auf.

Moritz. Nein. Und es ist das erstemahl, daß ich ganz ausschütten darf, was ich so lang in mir trage. O Marie! Ich bin es, es ist Moritz; ewig, einzig der Ihrige. Betrog ich mich, [310] als ich diesen Wunsch, Ihnen selber unbewußt, in diesen holden Augen las? – Nein! Ich weiß es, sollt’ ich es nicht wissen? Ich weiß, daß ich Ihnen nicht gleichgültig bin. Nehmen Sie mich an, verhehlen Sie mir mein Glück nicht länger. – – O du, Geschöpf der Liebe, die Liebe selber! laß mich den süßesten Trieb in deinen Blicken tagen sehen, laß mich diesen Ton hören, den lieblichsten in der Natur – Marie, Marie! liebst du mich?

Marie (in Thränen ausbrechend, indem sie sich über ihn neigt). O Moritz!

Moritz (sie umfassend). Sie sind’s. Sie sind’s! Jetzt erkenn’ ich Sie. Es ist der unwiderstehliche Klang ihrer Stimme, der alle meine Nerven erbeben macht. Meine Geliebte! Meine Gattinn! – Keine Thränen, Marie; diesen Himmel muß keine Wolke trüben. Acht Jahre erwarte ich ihn, diesen Einen seligen Augenblick. Laß mich ihn völlig, laß mich ihn unvergällt genießen.

Marie (ohne Sprache, sie drückt ihn sanft zurück).

[311] Moritz (der sie fest umschlungen hält). Er ist gekommen. Ich halte dich in meinen Armen; du bist mein. – Die Liebe ist beredt, aber der Genuß ist stumm. – O Marie –

Marie (schluchzend, sie neigt sich gegen ihn. Ihre Lippen begegnen sich. Er ist wie außer sich. Eine lange Stille. Sie scheint sich zu erholen, und sich seinen Armen entziehen zu wollen. Er läßt die Hände sinken, und verbirgt sein Gesicht in ihrem Schoos).

Charlotte erscheint an der Thür.

Marie. Ich bin überrascht. Schonen Sie mich. Es ist so unerwartet, so seltsam!

Moritz. Und Sie hätten mich nicht errathen, Marie? Sie hätten ihren Moritz da nicht vermuthet? vielleicht auch nicht gewünscht?

Marie (mit Feinheit und Liebe). Gewünscht, Moritz?

Moritz. Engel, lieber Engel! – Laß mich Dir’s sagen, mich, den Du kennst, den Du achten müßtest, wenn Du ihn auch nicht liebtest, der seinen Geist nie vor einem Menschen und sein Knie vor keinem Weibe gebeugt hat; [312] laß mich Dir’s ewig wiederhohlen, Du bist das liebenswürdigste Geschöpf auf der Erde.

Marie (in einem stillen, angenehmen Erstaunen, und indem sie sich seinem Anblicke zu überlassen scheint). Und Sie lieben mich wirklich, Moritz? Sie lieben mich!

Moritz (schweigend; er küßt ihre Hand mit tiefer Rührung).

Marie. O, die Menschen sind so glücklich! (Indem sie die Arme um seinen Hals wirft). Moritz! Verdienen wir es denn?

Charlotte hat sich indessen genähert, und tritt in der heftigsten Bewegung zwischen sie. Ihre Schritte sind wankend und ihre Stimme zittert.

Charlotte. Nein. Nein. Nein.

Marie (zurücksinkend, sie fährt mit den Händen vor’s Gesicht. Moritz springt auf).

Moritz. Sie kommen zu früh, Charlotte.

Charlotte. Entsetzlicher Mensch! – Nun ist’s klar. Darum, ja darum! – O ich Thörinn, ich zehnfache Thörin! – – Und du –

Moritz. Schonen Sie ihre Schwester, Charlotte.

[313] Charlotte. Ich habe keine Schwester. Ich habe keinen Freund. Ich hasse euch alle. Ihr hattet es abgekartet, es war lange das. – Die Erniedrigung, den Schimpf!

Marie (versucht es aufzustehen; die Kräfte fehlen ihr[WS 2]. Moritz richtet sie auf und führt sie in ihr Zimmer).

Charlotte. Wie gefällig er war, wie nachsichtig! Darum also? O sie sind schlau diese Menschen, ungemein schlau.

Moritz. Charlotte, hören Sie ein vernünftig Wort.

Charlotte. Ich habe nichts zu hören, mein Herr! Sie haben mir nichts zu sagen. Ich kenne Sie: ihre schönen Künste täuschen mich nicht mehr. Verlassen Sie mich! Ich verabscheue Sie.

Moritz. Sie sind außer sich. So habe ich Ihnen nichts zu sagen. (Er geht).

Charlotte (allein). Gehe nur. – Ob ich ihn nicht dennoch hören sollte? Er ist ja ein Redner, alle Redner sind Betrüger; ich wäre neugierig was er vorzubringen hätte. – [314] O, die Männer sind Elende, und die Weiber – verdienen es nicht besser. Die Menschen sind alle unerträglich.

Wittheim (eilig).

Wittheim. Was ist hier vorgefallen, Fräulein?

Charlotte (da sie ihn erblickt, sich schnell wegwendend). Das ist auch Einer.

Wittheim. Sie fliehen mich, Fräulein? Ich verfolge Sie nicht.

Charlotte. Gehn Sie mir aus den Augen, ich kann Sie nicht ausstehen.

Wittheim. Charlotte!

Charlotte. Dort. Gehn Sie ihm nach! Er ist ihr guter, lieber Freund. Macht es zusammen aus, was aus mir werden soll.

Wittheim. Ich verstehe kein Wort.

Charlotte. Das dacht’ ich wohl. Sie verstehen nie etwas. (Sie geht. Plötzlich bleibt sie stehen und sieht sich um. Nachdem sie Wittheimen eine Weile angesehen, mit einem tiefen Athemhohlen). Ah! Mir wird auf einmahl leicht.

[315] Wittheim. Um Gottes Willen, Charlotte! was haben Sie?

Charlotte. Dachte ich doch nie, daß die Rache ein so süßes Gefühl ist!

Wittheim. Rache, mein Fräulein?

Charlotte. Ja, mein Herr, Rache. Sie sollen mich rächen, Wittheim, Sie.

Wittheim. Besinnen Sie sich.

Charlotte. Ah, ich bin besonnen. – Sie lieben mich, sagten Sie?

Wittheim. Aber, mein Fräulein.

Charlotte. Sie lieben mich also nicht? Nein? Sie auch nicht?

Wittheim. Sie spotten meiner Charlotte. – Ich bethe Sie an.

Charlotte. Gut, sehr gut. Das ist mir lieb, das freut mich. – Setzen Sie sich! Sie sollen es beweisen.

Wittheim. Ich sitze, Fräulein.

Charlotte. Hier ist Dinte und Feder. Schreiben Sie.

Wittheim. An wen, Charlotte?

Charlotte. An ihn.

[316] Wittheim. An ihn? Was an ihn? Ich kenne ihn nicht.

Charlotte. An Moritz, weil Sie doch den Nahmen hören müssen. Eine Ausforderung. Schreiben Sie!

Wittheim. Liebste Charlotte!

Charlotte. Schreckt Sie das schon? Ist ihre Liebe schon am Ende?

Wittheim. Erhohlen Sie sich, mein Kind. Weswegen denn? Was ist geschehen? Was hat er gethan? Ich weiß von nichts.

Charlotte, (sie bricht in Thränen aus). Er hat mich beleidigt, unmenschlich beleidigt. Aber darnach fragen Sie nicht, das kümmert Sie nicht, das ist Ihnen gleichgültig, das ist aller Welt gleichgültig.

Wittheim. Ich schreibe, Charlotte, ich schreibe.

Charlotte. Er liebt Sie; hören Sie nicht? Sie liebt ihn auch. Ich bin hintergangen, verschmäht, verstoßen! Er wird sie heurathen seine Marie, ganz gewiß, er wird.

Wittheim. Sie lieben ihn noch?

[317] Charlotte. Ich hasse ihn, ich habe ihn nie geliebt.

Wittheim. Und mir tragen Sie ihre Rache auf, Charlotte, mir? selbst dem Verschmähten, dem Verworfenen?

Charlotte. Ach, es ist wahr! Auch Sie sind mein Freund nicht mehr. Ich habe überall keinen Freund mehr.

Wittheim. Sie haben einen, Charlotte; den aufrichtigsten, den treuesten, den unveränderlichsten. Vergessen Sie einen Wankelmüthigen, und seyen Sie ganz mein. Das Glück begünstigt mich in einem Augenblicke, wo es von seinen Lieblingen zu weichen scheint. Vereinigen Sie sich mit mir, um es beständig zu machen. – Vielleicht ist Moritz weniger strafbar. Sie liebten sich lange: ihre Schwester ist unversehends Wittwe geworden; ein alter Wunsch kommt oft mit neuer Lebhaftigkeit zurück.

Charlotte. Sie vertheidigen ihn, den Verräther.

Wittheim. Lassen Sie uns gerecht seyn. Wenn er errieth, daß Sie gleichgültiger geworden, [318] daß Sie sich seiner wenigstens entschlagen könnten; ist es ihm zu verdenken, daß er zu der zurück kehrte, die ihm so theuer ward, mit der er stets ein Herz und ein Sinn gewesen? Ich kann Marien keiner Niedrigkeit fähig halten.

Charlotte. Es steht Ihnen schön, ihren Nebenbuhler zu loben, wahrhaftig!

Wittheim. Möchte dieser Nahme von heute an für immer aufhören, möchte ich von heute an nur den Freund, den Bruder in ihm sehen! Charlotte! Die Zukunft zeigt sich mir in einer ungewöhnlichen Heiterkeit. Lassen Sie uns dem Fingerzeig des Schicksals folgen. Oft hat mir der Gedanke geschmeichelt, daß es mich einst noch an ihrer Hand aufrichten werde. Die Zeit ist gekommen. Machen Sie meine Hoffnungen wahr! Geben Sie mir diese Hand, von der ich allein das Glück meines Lebens erwarte.

Charlotte. Ach! Ich mag nun von Liebe und von Heurath nichts mehr wissen.

Wittheim. Sie sind bewegt, das geht vorüber. Es ist doch kein Vergnügen als in der Liebe, und kein Glück als im häuslichen Leben.

[319] Charlotte. Wollen Sie ihr Herz an eine Verlassene hängen? Wollen Sie eine Waare auflesen, die ein anderer weggeworfen hat?

Wittheim. Sie lästern, Charlotte! Seyn Sie nicht wunderlich. – Was ist aus uns geworden? Muß ich Sie munter machen und ihre frohe Laune beschwören, ich, der Düstere, der Trübsinnige, wie Sie mich so oft nannten? Quälen Sie sich nicht länger, liebstes Mädchen! Willigen Sie ein.

Charlotte. Sie nehmen ihre Zeit so gerne unrecht, Wittheim. In dem Zustande worin ich bin, was verlangen Sie von mir?

Wittheim. Jetzt ist die Zeit, oder nie. Sie wollten sich rächen, Charlotte. Sie können es. Kommen Sie ihnen zuvor. Wählen Sie, ehe er es vermuthen, ehe er seine Anstalt treffen kann. Beschämen Sie ihn. – Diese Rache ist Ihrer werth.

Charlotte (aufmerksam und halb lächelnd). Wie? – – Ich hätte Ihnen die List nicht zugetraut, Wittheim.

[320] Wittheim. Und nun, liebes Kind! Erhohlen Sie sich. Sie haben es nöthig.

Charlotte. Dieser unglückliche Besuch! Hätte ich den Bruder gefunden, ich wäre nicht da, und der verhaßte Auftritt wäre unterblieben. – Folgen Sie mir, Wittheim. Folgen Sie mir nicht! – Ich weiß nicht was ich thue, noch was ich will. (Sie geht in ihr Zimmer. Wittheim steht einen Augenblick und folgt ihr dann).

Marie tritt aus ihrer Thür und kommt langsam hervor.

Ich hörte Sie reden. Wittheim ist bey ihr. Sie scheint ruhiger. – Wie ist mir? Habe ich denn ein Verbrechen begangen? Ein Verbrechen! – Ja, Marie; habe den Muth es so zu nennen. Du hattest ihm auf immer entsagt, du hast begehrt, was einer andern ist; deiner Schwester! – – Unglückliche Gebrechlichkeit! Ist mein Wille nicht gut? Ich zittere, in mein Herz zu schauen. Ein Abgott sitzt darinn, den keine Segenssprüche daraus vertreiben. (Die Hände über die Brust legend). O, ich bin ein Weib! Können [321] meine Nerven keine gute That aushalten? – Was finde ich hier? (Sie hält eine rothe Schleife, die aus ihrem Busen gefallen ist). Seine Farbe! Es ist die Schleife, die er mir bey seiner Abreise gab. (Sie läßt das Band fallen). Fahre hin, schöner Traum! Der Traum war Sünde; die Wirklichkeit würde eine Laster seyn. (Sie steht schweigend).

Moritz, der sich am Eingange umsieht.

Moritz. Es ist hier stiller geworden.

Marie. Es wird, Moritz.

Moritz. Wie ist Ihnen, meine Liebe? Sie haben sich erholt.

Marie. Ich habe mich besonnen, mein Freund. – Diesen Nahmen soll mir niemand streitig machen. Ich bitte um ihre Freundschaft, um ihre brüderliche Zärtlichkeit. Das übrige sey abgethan und vergessen.

Moritz. Übereilen Sie sich nicht, Marie.

Marie. Es ist von keiner Übereilung mehr die Rede. Die Übereilung ist geschehen. Ich [322] habe ein Unrecht gethan: wollen Sie, daß ich darinn beharre und mir gütlich thue?

Moritz. Ich hätte auch ein Unrecht gut zu machen.

Marie. Sie werden es gut machen; gewiß Sie werden es, oder ich kenne Sie nicht mehr.

Moritz. Sie verwerfen mich. Es ist Ihnen leicht, der Liebe zu entsagen.

Marie. Fragen Sie mich nicht. – – Moritz! Sie werden die Sprache der Empfindung nicht mehr von mir hören.

Moritz. So entschieden! – Marie, Sie bringen jemand ein Opfer, den Sie nicht kennen. Charlotte hat den Bund aufgehoben, der zwischen uns war. Wittheim liebt sie; sie giebt ihm Gehör. Es ist nicht Liebe, es ist beleidigter Stolz, was sie außer Fassung bringt.

Marie. Ich frage nicht, ob andere auch fehlen, wenn ich selbst gefehlt habe. Wir sind nicht zu entschuldigen.

Moritz. Und bin ich denn nichts? Ich bin nicht verhärtet, Marie. Ich kann mich vergehen, ich habe mich oft vergangen; ein Lasterhafter [323] bin ich nicht. Meine stärkere Seele zittert vor der Sünde, wie die ihrige. Wenn ich auf etwas bestehe, Marie, so muß es kein Verbrechen seyn. Vertrauen Sei sich mir!

Marie (auf das Herz deutend). Hier sagt etwas, nein. Ich will ihrem besseren Verstande überall folgen, darinn nicht. Seine Pflicht zu thun, ist keine große Einsicht nöthig: das Gewissen leidet keinen Rathgeber.

Moritz. Ich verehre Sie, Marie. Lassen Sie mich schweigen.

(Eine Pause. Marie sieht stille vor sich hin, dann wendet sie sich ein wenig weg, mit der Hand über die Augen fahrend.)

Moritz (der ihre Hand hält). Wische sie nicht weg.

Marie. Mein Freund, Sie haben mich gehört. Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Ich bitte, entfernen Sie sich.

Moritz, (indem er sich etwas bückt, erblickt er die Schleife. Er hebt sie auf). Und diese Schleife! O Marie, Sie haben mein Herz fallen lassen. –

[324] Charlotte kommt von Zeit zu Zeit an die Thür um sie zu bemerken. Hinter ihr ist Wittheim.

Moritz. Ich will den Frieden ihrer schönen Seele nicht länger stören, Marie. Ich will die Gluth nicht auf’s neue anfachen, die vielleicht noch in diesem Herzen glimmt. Seyn Sie ruhig. Ihre Tugend macht alle meine Wünsche verstummen, selbst indem sie ihnen ein neues, inneres Leben mittheilt. Von nun an seyen Sie in meine Brust verschlossen. Ich werde Sie ewig lieben, ich habe es Ihnen zum letztenmahle gesagt.

Marie. Leben Sie wohl.

Moritz. Aber erklären muß ich mich. Sie haben mich zweydeutig gesehen: ich kann nicht leiden, daß die Edelste ihres Geschlechts unrecht von mir denke. Das Urtheil der Welt ist mir allezeit sehr gleichgültig gewesen: das ihrige habe ich mich gewöhnt, wie mein eigenes zu betrachten, und darüber muß ich befriedigt seyn.

Marie. Ich verkenne Sie nicht. Ersparen Sie mir eine gefährliche Zergliederung.

[325] Moritz. Nein, Marie! Wir wollen nicht auseinander gehen wie Fremde, die das Ungefähr zusammen gebracht hat. Ich bin gefaßt genug, meine Verweisung mit Ruhe zu ertragen. Aber die Achtung derjenigen, deren zarte Denkungsart mich von sich entfernet, soll mich in meine Verbannung begleiten.

Marie. Ich habe sie Ihnen nie entzogen.

Moritz. Es war eine stürmische Jugend, in der ich zuerst ihren Blicken begegnete. Ich habe Ihnen viel Kummer verursacht; es ist nicht mehr Zeit, Sie deswegen um Verzeihung zu bitten. Marie war es, in der meiner jungen Seele zuerst ein Vorbild des Guten und Schönen vorschwebte. Sie haben meinen schlafenden Genius geweckt, und meine Thätigkeit auf die Bahn gebracht, worauf ich manchmahl irrte und fiel, von der ich aber niemahls mehr abgewichen bin. Ich betete Sie an. Ihre Rechtschaffenheit gab einem Manne den Vorzug, der ältere Ansprüche hatte als ich; ich verlohr Sie, und ich danke es Ihnen. – Die Geschichte mit Charlotten [326] fällt in diese Zeit: es war ein Traum, ich schweige davon.

Marie. O mein Freund! Welche Erinnerungen wecken Sie auf!

Moritz. Dem Menschen müssen seine ersten Pläne nicht gelingen. Er muß entbehren lernen, und seine Wünsche der Zucht der Pflichten unterwerfen. Wir sind nicht zum Genießen gebohren, sondern zur Arbeit. Hätte ich damahls schon ihren Besitz erhalten, ich wäre nie geworden, was ich werden sollte. – Nach einigen halbverlohrenen Jahren ermannte ich mich. Ein neues Leben schien in meinen Adern zu pochen; ich war der alte Mensch nicht mehr. Das Gute, das Nützliche, das Ehrenvolle; die Cultur, die Freyheit, die Würde der Menschheit, dieß war es, was meine ganze Seele in Bewegung setzte. Ihre schöne Gestalt, Marie, trat vor den erhabenen Schutzgeistern meines Geschlechtes zurück; ich fing an Sie zu vergessen, ja ich hatte Sie vergessen. Mit einer Beharrlichkeit, die nur Grundsätze geben können, arbeitete ich in allen Fächern, wozu mich meine Geburt, [327] meine Umstände, meine Neigungen und Talente auszuzeichnen schienen. Ich trat öffentlich auf, und war abwechselnd Schriftsteller, Staatsmann und Soldat. Ich durchreisete Europa und Amerika, und zuletzt machte ich noch den Versuch, einen bedrohten Welttheil gegen das auswandernde Frankreich vertheidigen zu helfen. Nach sechs Jahren ununterbrochener Beschäftigung vernahm ich, in einer Art von Abspannung, den Tod ihres Gemahls.

Marie. Nicht weiter, Moritz.

Moritz. Die Veränderung, die bey dieser Nachricht mit mir vorging, gehört zu den Dingen, die ich gerne unerklärt lasse. Ich fühlte mich plötzlich wieder, wie ich mich in den Tagen empfunden habe, da ich, nur an ihren Blicken hangend, kein Glück kannte als Mariens Liebe. Fast ohne Abschied zu nehmen, machte ich mich auf den Weg, in der frohen Hoffnung, mich auf ewig mit Ihnen zu verbinden. Des Gewühles der großen Welt und der Thorheiten der Fürsten eben so wohl, als der Rasereyen unreifer Republikaner überdrüßig, entschloß ich [328] mich, in meinem Vaterlande mir selbst und den Wissenschaften zu leben, die einige ausserordentliche Köpfe in Deutschland ihrer höchsten Stufe nahe gebracht haben. Die Nachrichten, die ich von Charlotten eingezogen hatte, ließen mich erwarten, daß sie meinem Wunsche, der Ihrige zu werden, nicht entgegen seyn würde. – – Marie! Ich bin keiner von denen, die mit immer vollen Segeln nach ihrem Glücke jagen; das Vergnügen ist nicht das erste, wonach ich trachte; ich habe gelernt mir vieles zu versagen, und mich mit wenigem zu begnügen. Aber wo ich glaube, daß der Verstand und die Rechtschaffenheit ihr Geschäft gethan haben, wo ich glaube, daß sich ein Glück mit meiner Pflicht verträgt, wo ich es mir für erlaubt halte zu genießen: da, ich gestehe es, da lasse ich meinem Herzen und meiner Einbildungskraft die Zügel, da will ich nicht gehemmt, nicht gebunden seyn, da will ich ganz, da will ich ungestört genießen. Dieß war es, Marie, als Sie vorhin einen Mann mit dem Feuer eines Jünglings zu ihren Füßen aufbrausen sahen. Es war ein Mann, der seinen [329] strengen Ernst an ihrer Schwelle abgeworfen hatte.

Marie. Moritz, ich bewundere Sie. Sie sind ein edler, ein großer Mensch. Entziehen Sie mir ihre Achtung nicht; ich werde nie aufhören Sie über alles hochzuschätzen.

Moritz (nach einem Stillschweigen). Gute Nacht, Marie. – (Sie hält seine Hand). Sie halten mich nun?

Marie. Gute Nacht.

(Er geht. Charlotte vertritt ihm den Weg).

Moritz. Sie hier, Fräulein? Was verlangen Sie noch?

Charlotte. Genugthuung.

Moritz. Ich kann Ihnen keine geben, Charlotte. Ihre Ungeduld hat Sie selbst darum gebracht.

Charlotte. So werde ich mir sie nehmen. Hier! (Sie nimmt seine Hand und legt sie in die Hand ihrer Schwester. Wittheim tritt hinzu und vereinigt sich mit ihr).

Moritz. Wie ist das?

Hohenberg mit Mariens Kindern.

[330] Hohenberg. Ich bringe Ihnen ihre Kinder, gnädige Frau. Ich fand sie unten auf der Straße. Sie verlangen nach ihrer schönen Mutter.

(Die Kinder versammeln sich um Marien, die von Moritz abläßt, und sich über die Kleinen niederbeugt, um ihre Thränen zu verbergen).

Hohenberg. Wie ich sehe, ist hier schon alles in Ordnung.

Moritz (auf Charlotten zeigend). Weiß ich denn, was dieser boshafte Engel mit uns vor hat?

Charlotte. Sie haben eine schöne Rede gehalten, Moritz. Ich vergebe Ihnen. Seyn Sie glücklich.

Moritz. O meine Schwester! – O, Marie!

(Marie reicht ihm mit abgewandtem Gesichte die eine Hand, indem sie die andere nach ihrer Schwester ausstreckt, die sie mit der größten Rührung an ihr Herz drückt).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Charlottte
  2. Vorlage: ihm