Die Westminster-Abtei in London

CCCLXXXIII. Das Wunder von Saragossa, in Spanien Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band (1842) von Joseph Meyer
CCCLXXXIV. Die Westminster-Abtei in London
CCCLXXXV. Teplitz in Böhmen
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DIE WESTMINSTER-ABTEY
in London

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CCCLXXXIV. Die Westminster-Abtei in London.




Als Archenholz vor fünf und vierzig Jahren in London war, rief der sonst geistreiche Mann aus: – „Was soll aus diesem Ungethum werden?“ – Als ich zwanzig Jahre später nach London kam, konnte ich mich in der Stadt, wie sie Archenholz beschrieben, kaum mehr zurecht finden. Wo er Gärten, Wiesen, Weiden, Felder gesehen, waren Straßen und Squares, und wo er Heerdengeläute gehört, hörte ich die Schelle des Postmanns. Da dachte ich auch wie Jener und meinte in meiner jugendlichen Einfalt: – Das London müßte bald ausgewachsen seyn. Nun liegt ein Plan von 1842 vor mir, und ich lache meiner damaligen Beschränktheit. Wo ich auf dem Lande gewohnt hatte, wohnt man jetzt in der Stadt, ganze Landschaften sehe ich zur Stadt gezogen, Dörfermassen, zwischen denen und der Hauptstadt Parks oder Güter gelegen, sind eingewachsen in das neue Babylon, und ließen von ihrem ländlichen Daseyn nichts als den Namen zurück. Pancras, Camberwell, Chelsea, Brompton, Kensington, Paddington, Islington, zu meiner Zeit die Country der Citizens, sind jetzt integrale Theile der Town, und das Land ist ein paar Stunden weiter zu suchen. – Kein Mensch denkt mehr an ein ne plus ultra für die Weltstadt. Jeder Plattkopf sieht ein, daß die bisherige Entwickelung Londons doch nur eine Vorbereitung zur künftigen, weit größern sey. Wie die Gegenwart weder in der Idee, noch in der Materie irgendwo etwas Abgeschlossenes, Vollendetes, Vollkommenes zeigt, so drängt auch das Menschenleben in London nach immer weiterer Ausdehnung. Die mechanischen Erfindungen erleichtern und fördern dieses Streben. Durch jene Entdeckungen, welche die Entfernungen kürzen und die Communikationsmittel auf eine Weise vervollkommnet haben, von der unsere Aeltern nicht einmal eine Ahnung im Traume haben konnten, wird das Unbequeme des räumlichen Zusammenlebens so ungeheurer Menschenmassen entfernt, und eben dadurch ist der Ausdehnung Londons eine Zukunft bereitet, deren Grenze unabsehlich ist. Welche Folgen aber aus solcher Geselligkeit von Millionen für englische Kultur und Gesittung, für die der Menschheit überhaupt hervorgeben werden? Der Maaßstab fehlt uns ganz und gar; – gewiß aber ist, sie werden groß, riesenhaft, dem Körper angemessen seyn.

Ich habe in einem frühern Bande versucht, das Gemälde des unermeßlichen Londons in einen Rahmen zu fassen; heute mögen wir eine kleinere Parthie des Bildes beschauen und mit der Betrachtung einer Einzelfigur schließen.

[30] Gewöhnlich läßt man den Reisenden von Osten her kommen – auf der Wasserroute, und führt ihn über Poplar und Wapping und durch den „langen Saal“ des Zollhauses, durch die Lanes und Alleys der City und ihres Lebens nach den leichten und glänzenden Regionen des Westends. Wir wollen’s einmal umkehren und von Westen her einwandern. Brentwood, ein 2 deutsche Meilen von Sankt Pauls anmuthig an der Themse gelegener Flecken, ist der erste Ort, dem sich ein Polypenarm Londons zugestreckt hat, um ihn zu verschlingen. Noch gehört zwar Brentwood zu den Orten, wo der Londoner Landluft athmet; aber nicht lange mehr, so wird der Häuserkanal dicht seyn, welcher den Strom der Stadtluft ohne Unterbrechung hinführen soll – und wo jetzt noch eine Lücke ist, da wird gebaut zu ihrer Ausfüllung. Eine halbe Stunde weiter, bei Parnhamgreen, rücken die Häuser zu beiden Seiten des Wegs schon enge an einander, und was vor ein paar Jahren zerstreute Villen waren, nimmt allmählig den Charakter einer städtischen Straße an. In Hammersmith ist dieser vollkommen ausgebildet. Nebenstraßen zweigen aus, immer breiter wird das Häusermeer, es wird Kensington erreicht, aufgethan ist die Pforte des Westends. Kensington mit seiner Umgebung war noch vor 25 Jahren das „Land“ – der Makler und Notare der City; jest ist’s die Stadt des Hochadels, der Mittelpunkt des glänzendsten Lebens. Links sind die Parks, Kensington-Garden und Hydepark, mit ihren imposanten Anlagen, ihren Seen, Monumenten und zwischen Baumgruppen versteckten Palästen; mit den zahllosen Lustwandlern in den schattigen, gewundenen Gängen, und den Corso’s, wo die Reiter und Equipagen der fashionabeln Welt glänzen; die Vista schließt die dreifache Porta triumphalis, deren bronzene Thore gleichsam diesen nobelsten Theil Neulondons von dem ältern der vornehmen Welt trennt. Alles ist hier großartig und prachtvoll, fashionabel, kostbar, Genuß und Ueppigkeit verkündend, und wo nur ein Fenster sich öffnet, blickt der Reichthum hochtrabend und stolz durch und jener unsägliche Luxus, welcher nicht zu rechnen nöthig hat. In Belgravesquare erreicht die Pracht den Gipfel. Er besteht ganz aus Palästen, deren Massenhaftigkeit um so mehr Staunen erregt, wenn man erfährt, daß sie das Werk weniger Jahre sind. Die Straßen, welche mit dem Square in Verbindung stehen, sind die herrlichsten Londons; aber sie sind menschenleer, und die Stille unterbricht nur in langen Zwischenräumen das Rasseln einer Karosse, oder der Donner an der Thüre eines Palastes, womit der klopfende Lakei den Herrn verkündigt. – In der City imponirt die Großartigkeit des geschäftlichen Treibens; hier die Großartigkeit der vornehmen Einsamkeit.

Von Belgravesquare führt eine Straße zu einer Reihe prächtiger Gebäude, deren Fronte gegen den Park gekehrt ist, der den Palast der Königin umgibt. Anmuthig und groß ist die Vista von diesem Punkte. Ueber Gesträuch und Bäume hinweg dringt der Blick in das Londoner Dunstmeer, in dem zahllose Thürme wie Geister stehen; erhaben über Alles aber ragt die Westminsterabtei, unser Ziel, hervor. Ihr Anblick öffnet eine neue Ideenwelt, [31] und die früher bewunderten Erscheinungen des Luxus, der Mode und Pracht, welche das Herz kalt gelassen haben, treten in den Hintergrund, oder verschwinden.

Die Westminsterabtei ist nicht nur ein Tempel Gottes, sie ist das Pantheon Englands und dem Britenvolk das, was die Heiligthümer in Delphi und Olympia dem Volke von Hellas gewesen sind: ein Ehrentempel, in deren Räumen die Monumente und Denkzeichen der meisten Menschen bewahrt sind, welche an Britanniens welthistorischer Größe gebaut haben von Geschlecht zu Geschlecht. Sie ist eine heilige Stiftung, an welcher die Enkel immer von Neuem schmücken und mit der Liebe pflegen, die nicht erkalten kann, so lange die britische Flagge auf den Wassern weht, der britische Dreizack das Panier der Civilisation bleibt und ein britischer Bote zum Rathe der Fürsten und Völker geht. Bei der allegorischen Beziehung, in welcher die Westminsterabtei mit dem britischen Leben steht, ist in der uralten Volkssage, „mit ihr steht, mit ihr fällt England,“ eine gar tiefe Wahrheit verborgen. So wird’s einmal in Bezug auf Deutschland von der Walhalla heißen, wenn die rechte Bedeutung jener folgenreichen Stiftung dem ein-deutschen Volke in’s Mark und Fleisch gedrungen ist. –

Die Westminsterkirche war, wie der Name schon kund gibt, ursprünglich die Kirche eines Münsters oder Klosters, welches ein König der Ostsachsen, Sebert, nach seiner Bekehrung im 7. Jahrhundert auf der Stelle stiftete, wo ehedem ein Apollotempel gestanden hatte. Auf einem Raubzuge der Dänen wurden Kloster und Kirche bald nachher zerstört. König Edgar baute sie um 958 wieder auf. Auch dieser Bau litt hundert Jahre nachher durch Feuer so sehr, daß König Eduard, der Bekenner, 1065 ihn fast ganz neu bauen ließ. Abermals dauerte das Werk 160 Jahre, nach deren Verlauf es so baufällig war, daß es größtentheils eingelegt werden mußte. Auf dem uralten Grunde erhob sich nun in der Zeit von 1220 bis 1297 der jetzige Tempel. Er ist einer der schönsten im gothischen Styl und einer der größten in der Welt; denn mit Einschluß der Kapelle Heinrich’s VII. hat er eine Länge von 518 Fuß; der Querarm ist 190 Fuß lang und das Hauptschiff hat 102 Fuß Höhe. Die Thürme sind nur bis zur Hälfte ihrer ursprünglich-beabsichtigten Höhe ausgebaut worden; jeder ist 225 Fuß hoch. Der ganze Bau ist von grauem Kalkstein aufgeführt, bis auf die Gewölbe der Schiffe, zu denen man Ziegeln nahm. Alle Fenster (fast hundert) haben Glasmalereien. Noch sieht man an den Rippen der Tragpfeiler, der Decke etc. etc. die Spuren ehemaliger Vergoldung und Malerei; – doch hat 600jähriger Rauch und Staub Alles bis zur Unkenntlichkeit überdeckt, und die englische Pietät scheut vor dem Gedanken einer tüchtigen Restauration zurück. Erst in neuester Zeit hat man einige Ausbesserungen im Innern gewagt, aber, was ganz recht ist, die alten Formen stets mit gewissenhafter Treue wieder hergestellt oder erneuert.

Ein Gang in die Westminsterkirche gehörte während meines langen Aufenthaltes in London zu den [32] Festen meines Lebens; nie betrat ich den Tempel ohne Ehrfurchtsschauer und nie habe ich ihn verlassen ohne das Bewußtseyn des gebesserten Menschen. Mehre Pforten und Pförtchen führen in das Heiligthum; hatte ich aber die rechte Stunde gewählt, so konnte ich durch das Hauptthor der Westfronte eintreten und den gewaltigen Eindruck in ganzer Fülle genießen. Hier steht man mit dem ersten Schritte sogleich in der Mitte der größten Männer Englands, deren Mausoleen rundum an den Wänden in die Höhe wachsen, schimmernd in dem bunten, geisterhaften Farbenspiel der gemalten Fenster. Unten am Boden stehen eine Menge Sarkophage, und von den Statuen Chatam’s und Pitt’s, dem hier sein großer Gegner Fox ganz friedlich gegenüber steht, gleitet der Blick gerne auf diese alten, ernsten, umpanzerten Gestalten, die so recht aus dem Grunde ihrer Seele zum ewigen Vater zu beten scheinen, und in ihrem steinernen Auge sah meine lebendige Phantasie eine Pforte in die unsichtbare Welt des Glaubens. In Sankt Paul, wo blos die neue Kunst die großartigsten Denkmäler versammelt, schärft der Verstand alle Umrisse, der Zauber der Poesie findet keine Stätte und die Betrachtung bleibt kalt. Hier dagegen, wo die herrlichsten Mausoleen der Neuzeit an die einfachen Denkmäler der alten Kunst sich reihen, wo die Grundfesten vor’s Auge treten, auf denen der gewaltige Bau des Nationalruhms ruht, zu dem jeder Brite voller Stolz und Hochgefühl den Blick richtet, erhält das Gemüth volle Nahrung. Das Ganze erscheint wie ein reiches, tief ergreifendes Epos, welches das Leben eines großen Volkes besingt. –

William Pitt’s colossale Statue hat den Ehrenplatz über dem großen Thore. Er ist als Redner dargestellt, in einem jener weltgeschichtlichen Momente, wo er durch die Allgewalt seiner Worte das Parlament Englands zu jenen großen Maßregeln hinriß, welche der Geschichte seiner Zeit Richtung und Ziel anwiesen. Unfern sind die Denkmäler der Seehelden Bayne, Blair und Manners; dann Flaxmann’s Verherrlichung des Weisen im Richterstuhle, des Grafen Mansfield; sodann folgt ein Strauß aus dem britischen Ehrenkranz der Schlachten, die Monumentengruppe der Admirale Warren, Vernon, Wager, Temple, West und Saumarez. Am entgegengesetzten Ende aber nimmt der Stolz des Jahrtausends den Ehrenplatz ein – die Colossalstatue Newton’s, „ein Columbus für viele neue Welten“. Ein weiter Kreis von berühmten Staatsmännern, Dichtern, Kriegern, Entdeckern, umgibt diesen Heros der Wissenschaft und des Denkens. – Der südliche Chorflügel umfängt und zunächst. Hier ragt über Alle ein fremder Gast – Pascal Paoli, - der große Corse, welcher aus dem unterjochten Vaterlande sich verbannte, nachdem er das freie so lange und mit ewigem Ruhme gegen fremde Uebermacht vertheidigt hatte; um ihn drängt sich ein Cyklus von britischen Helden, Staatsmännern und Männern der Wissenschaft. Das eigentliche Sanktuarium im Tempel aber ist der südliche Flügel des Querschiffes: die Dichterecke, (the Poets’ Corner), wo die Sänger und Dichter Englands zum Chore versammelt sind, von jenen begabten [33] Gotteskindern welche, die seit Homer mit ihren Tönen und Klängen die Völker aus ihrem Schlafe wecken, von jenen Geisterbannern, die die Gedanken der Menschen heraufbeschwören aus den innersten Tiefen der Seele. Nicht Kanonenkugeln und blutgetränkte Lappen häufen sich an den Füßen ihrer Denksteine, auch reden nicht Daten von Friedensschlüssen und Länderraub aus ihrem Leben: eine schmucklose Tafel mit dem Namen, eine Büste, hie und da ein einfaches Standbild – das sind die bescheidenen Denkzeichen der Lieblinge Gottes. Shakespeare, Milton, Spencer, Chaucer, Ben Jonson, Butler, Gray, Thomson, Rowe, Addison, Gay, Dryden, Cowley, Sheridan, Cumberland, Garrik, Goldsmith, Drayton und viele andere Namen flößen Ehrfurcht, Bewunderung oder Liebe ein. Nie ist die Dichterecke leer von Besuchern, und während die Menge an den colossalen Prachtmonumenten der Könige und Kriegsfürsten kalt vorüber eilt, hier weilt sie, und Jeder forscht und betrachtet die Bilder und liest die Namen wie von lieben Freunden und Bekannten. –

Die Mausoleen der britischen Herrscher und ihrer Familien, sie befinden sich meistens in den Kapellen des Bekenners und Heinrich’s VII. In jener steht der Sarkophag des Stifters selbst, ein hölzerner, geschnitzter Kasten mit eisernen Bändern; dabei die Monumente von Heinrich III., Eduard I., Heinrich V., Eduard III. und anderer Könige. In den Grüften der Heinrichskapelle aber ruhen, außer ihrem Stifter, alle Regenten Englands, von der Elisabeth an bis zu Georg II. – Die Pracht dieser Mausoleen schlechter und guter Kronenträger ist nicht geringer, als die Pracht der Kapelle selbst, in welcher der harte Stein vom Boden an bis zur Decke wie Spitzenwerk ausgearbeitet erscheint, und die Ornamentik des germanischen Styls Unbegreifliches wagte und ausgeführt hat. Drum hieß auch diese Kapelle früher orbis miraculum – das Wunder der Welt – und in der That ist sie eine Wunderblume der Baukunst.