Die Wanderzeichen der Zigeuner

Textdaten
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Autor: Eduard Schulte
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Titel: Die Wanderzeichen der Zigeuner
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 46
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Wanderzeichen der Zigeuner.

Von Eduard Schulte.

Die echten Zigeuner stammen aus Vorderindien, und so sind sie von der indogermanischen Vetterschaft her auch unsere Verwandten. Freilich sind diese Vettern durch ihre Lebensweise so weit von uns geschieden, daß zwischen ihnen und uns eine fast unüberbrückbare Kluft besteht, eine Kluft, die nur der zu überschreiten vermag, welcher trotz aller entgegenstehenden Schwierigkeiten die Sprache der Zigeuner lernt und sich ihr Vertrauen zu erringen weiß.

Ein solcher Mann ist der in Siebenbürgen lebende Dr. H. von Wlislocki, und seine jetzt erschienene Schrift „Aus dem inneren Leben der Zigeuner“ (Berlin, Emil Felber) bringt Aufschlüsse, die außer ihm zur Zeit niemand würde geben können, der nicht geborener Zigeuner ist. Der Zigeunersprache völlig kundig, ist Wlislocki jahrelang mit Zigeunern in den Donauländern, aus denen auch die in Deutschland lebenden Zigeuner eingewandert sind, umhergezogen und hat mit den einflußreichsten und kundigsten Männern und Frauen des merkwürdigen Volksstammes verkehrt. Von den vielen durch ihn mitgetheilten Einzelheiten über Sitte und Seelenleben der Zigeuner sollen uns hier ihre Wanderzeichen beschäftigen, die Zeichensprache, mit der die schweifenden Gruppen sich untereinander zu verständigen vermögen.

Für einen wandernden, halb wilden, der Schriftsprache wenig kundigen und mit nicht ungerechtfertigtem Mißtrauen verfolgten Volksstamm wie die Zigeuner ist es eine in den Verhältnissen liegende Nothwendigkeit, daß die eine Wandergruppe der anderen, die nach ihr des Weges zieht, in unauffälliger, für Nichtkenner unmerklicher Weise Benachrichtigungen zukommen läßt, Weisungen über die einzuschlagende Richtung, Anzeigen, Mahnungen und Warnungen verschiedener Art.

Denken wir uns einmal, es habe zu Anfang September des Jahres 1890 eine Zigeunerfamilie das Dorf N. berührt. Nicht weit von der Stelle, wo sie das Dorf verlassen hat, beginnt die Heide, und da spaltet sich die aus dem Dorfe führende Straße in drei Fahrwege. Der Leser, der dort seine Spaziergänge zu machen pflegt, kommt einen Tag später desselben Weges gegangen. Ist er ein guter Beobachter, etwa ein Insektensammler oder Botaniker, der gewohnt ist, sich auf seinen Gängen viel umzuschauen so wäre es möglich, daß sein Auge bei einem Baume am Kreuzweg auf einigen Dingen haftet, die er an den vorhergehenden Tagen nicht bemerkt hat. Neben dem Baume nämlich sind vier längliche Steine übereinander geschichtet. Da sie arg beschmutzt sind, wendet der Spaziergänger sich davon ab, ohne sie etwa mit dem Stock auseinander zu werfen. Darum entgeht ihm wohl, daß jeder Stein mit einem Pferdehaar umwickelt ist. Ganz dicht dabei ist ein kleines Aestchen mit drei Zweigen in die Erde gesteckt, und der mittelste Zweig zeigt auf den nach rechts führenden Arm des Kreuzweges. An dem Baume selbst ist ein kleines Stück Leder angenagelt, mit mehreren eingenähten Stichen von rother Wolle und einem quadratförmigen und zwei runden Löchern. Ein kleiner verkohlter Fliederzweig mit Stroh und zwei durcheinander gezogenen rothen Fädchen steckt hinter dem Lederstück, ebenso ein kleiner Birkenzweig mit zwei rothen, nicht verbundenen Fädchen. Angespritzter Kuhdünger schreckt die Neugier oder die Zerstörungslust des Beobachters zurück, und er geht weiter, ohne zu ahnen, daß er eine Reihe von Nachrichten vor sich gehabt hat, welche einer zweiten, vielleicht nach vier Tagen denselben Weg ziehenden Zigeunersippe durch die vorausgezogene Gruppe mitgetheilt werden sollen.

Der Führer der zweiten Zigeunergruppe findet, an allen Kreuzwegen ausspähend, die angegebenen Zeichen und übersetzt sie den übrigen Zigeunern mit folgenden Worten:

„Der bei der ersten Gruppe anwesende Stammesvorsteher thut uns kund: die Frau des Vorstehers ist gestorben, sein Sohn ist verhaftet. Wir alle müssen auf der Hut sein, weil die Behörden uns wegen Diebstahls verfolgen. Wir haben von den drei Wegen den Weg rechts einzuschlagen. In dem Dorfe, welches jenseit der nächsten auf diesem Wege anzutreffenden Stadt und des dann folgenden Dorfes liegt, sollen wir uns spätestens bis zum Dienstag den 16. September einfinden.“

Es hat nämlich mit den erwähnten Zeichen folgende Bewandtniß: jeder Stamm hat sein von allen ihm zugehörigen Familien geführtes Wanderzeichen, und das besteht in unserem Falle in einem Pferdehaar. Die geschichteten, mit einem Pferdehaar umwundenen Steine bedeuten, daß die hier abzulesenden Nachrichten für diesen Stamm und nur für ihn bestimmt sind. Wäre dies Zeichen nicht gegeben worden, so würde die zweite Gruppe die Benachrichtigung nicht auf sich beziehen, sondern voraussetzen, daß die Angehörigen eines anderen Stammes hier eine Benachrichtigung finden sollen.

Die Richtung des mittleren Zweiges zeigt natürlich den zu wählenden Weg an; drei in eine Linie gelegte, an die aufgeschichteten Steine stoßende kleinere Steine würden dieselbe Bedeutung haben.

Ein angekohlter Fliederzweig mit Stroh bedeutet einen Todesfall. Das Zeichen des Vorstehers ist die rothe Farbe, und zwei verbundene rothe Fäden bezeichnen seine Frau. Der Birkenzweig kündigt eine Verhaftung an, und zwei getrennte rothe Fäden verrathen, daß es der Sohn des Vorstehers ist, der verhaftet wurde; drei Fäden würden auf den Enkel deuten

Die Verwendung von Fell oder Leder schließt immer den Befehl ein, sich zu einer wichtigen Zusammenkunft einzufinden. Die Nähstiche geben einen Zeitpunkt an. Die Zeitrechnung geht von den drei hohen Festen und dem Michaelistage aus, in der Weise, daß Nähstiche, der Länge nach in das Leder gezogen, die seit dem letzten Hauptfeste laufenden Sonntage, die quer gezogenen Nähstiche aber die Wochentage bezeichnen. Nun sind auf dem Lederstück sechzehn Längsstiche und zwei Querstriche zu finden; es ist also der zweite Wochentag nach dem sechzehnten Sonntag nach Pfingsten als Termin gesetzt, d. h. Dienstag der 16. September.

Von den Löchern im Leder deuten die viereckigen auf Städte, die runden auf Dörfer. Jenseit der nächsten Stadt wird sich noch einmal ein solches Lederstück an einem durch seine Stellung auffallenden Baume finden, und in diesem Stücke wird das viereckige Loch fehlen. Der wandernde Zigeuner sieht darin die Bestätigung der ersten Nachricht und er weiß, daß das zweite der beiden Dörfer, die er jenseit der Stadt antreffen wird, sein Ziel ist. Der Kuhdünger meldet, daß Verfolgung wegen Diebstahls stattfindet. Alle Arten von Schmutz dienen zugleich dazu, die Zerstörung der Wanderzeichen zu verhindern.

Hatte dieser Zigeunerstamm ein Pferdehaar als Wanderzeichen, so haben andere Stämme eine Anzahl Schweinsborsten, Kürbiskerne, Stechapfelsamen, Längs- oder Querschnitte in Holz, geschälte oder gespaltene Zweige oder Hölzer, Risse in Tuch- oder Lederlappen, mit Kohle ausgeführte Zeichnungen. Familienhäupter haben außer dem Stammeszeichen noch ein persönliches Zeichen, wie der erwähnte Vorsteher die rothe Farbe. Jüngere Männer bekommen vom Stammeshaupt erst dann ein Abzeichen verliehen, wenn sie sich einer solchen Ehre würdig gemacht haben. Das Verleihen des besonderen Abzeichens verpflichtet den also Geehrten, den Vorsteher und die Verwandten mit Wein oder Branntwein zu bewirthen.

Bedeutete ein angebrannter Fliederzweig einen Todesfall, so deutet ein frischer auf Krankheit. Mehrfach zerknickte Fliederzweige mit Stroh kündigen einen Armbruch, ohne Stroh einen Beinbruch an. Ein Tannenzweig meldet Verlobung, ein Weidenzweig mit rothem oder weißem Faden die Geburt eines Knaben oder Mädchens, ein Eichenzweig die Rückkehr eines entsandten Zigeuners zu seiner Truppe. Ein Büschel Hundshaare am Wanderzeichen mahnt die nachfolgende Gruppe, die Richtung des Wanderzuges sofort abzuändern. Kleine Glasscherben besagen, daß ein Hausthier der Gruppe tot sei, große, daß ein Hausthier sich verirrt habe oder daß es gestohlen worden sei; reine Scherben weisen auf ein Pferd, beschmutzte auf ein Schwein hin.

Von den Zeichnungen, welche die Zigeuner mit Kohle an Gebäuden anbringen, sagt ein Kreuz, daß hier nichts zu haben sei, ein Doppelkreuz, daß man hier unmenschlich behandelt werde, ein Kreuz in einem Kreise, daß man an den Einwohnern dieses Hauses Rache nehmen möge, ein Kreis allein, daß man Geschenke erhalten habe, ein Dreieck, daß durch Kartenschlagen Geld zu verdienen sei, zwei schlangenförmige Linen, daß die Hausfrau sich Kinder wünsche, ein Dreieck mit einer Schlangenlinie, daß der Hausherr gestorben sei. Weil auf diesem Wege eine Zigeunergruppe die nachfolgende über die Hausbewohner unterrichtet, können die Kartenschlägerinnen und Wahrsagerinnen der zweiten Gruppe in dem betreffenden Hause oft Angaben machen, welche die Bewohner in Erstaunen setzen, da diese von dem Benachrichtigungssystem keine Ahnung haben.

Auf der Wanderung kündigen zwei Pfiffe und zwei Eulenrufe eines voranziehenden Zigeuners eine zum Rasten geeignete Stelle an. Pfiffe und Kuckucksrufe abwechselnd warnen vor Gefahr. Rasches Schwenken beider Arme dient ebenfalls als Warnungszeichen. Das Emporstrecken des linken Armes heißt: „Die Bahn ist frei“. während der rechte Arm emporgestreckt zur Vorsicht räth.

In Gegenwart einer fremden Person, z. B. vor Gericht, oder wenn sie einer Wahrsagerin einen vorher von ihnen etwas ausgefragten Kunden zuführen, verständigen sich die Zigeuner untereinander z. B. so, daß der eine den rechten kleinen Finger bewegt; dann weiß der andere, daß die fremde Person nach einem gestohlenen Gegenstand sucht.

Ein Verrathen dieser Zeichen durch Zigeuner an Nichtzigeuner ist außerordentlich selten. Selbst ausgestoßene Zigeuner hüten sich, diese Geheimnisse preiszugeben oder Wanderzeichen zu zerstören, weil sie der Ueberzeugung sind, daß der Verräther oder Zerstörer von bösen Dämonen und vom Unglück verfolgt werde.