Die Verlobung im Keller

Textdaten
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Autor: J. Baltz
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Titel: Die Verlobung im Keller
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 365–368
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Pfingstgeschichte aus der Zeit der Befreiungskriege
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Die Verlobung im Keller

Pfingstgeschichte aus der Zeit der Befreiungskriege.
Von J. Baltz.

Es war am Tage vor Pfingsten, im blühenden Mai, da saß ich, ein junges Ding von sechszehn Jahren, auf dem Fensterbrette in der tiefen Nische eines im Geschmacke des vorigen Jahrhunderts eingerichteten Zimmers. Mit Aufbietung all meiner Kräfte hatte ich das altmodische Guillotinen-Fenster in die Höhe geschoben, sodaß der Duft des Syringenbaums, der draußen dicht vor dem Fenster stand, hereindringen konnte und seine blüthenschweren Zweige mich wie eine Laube umgaben.

Manchmal, wenn starker Syringenduft mich umweht, sehe ich noch immer, nach so vielen Jahren, die Bilder vor mir, die jener Maimorgen mir zeigte: den Garten mit den phantastisch zugeschnittenen Taxus- und Buchsbaumhecken, den rosig blühenden Apfelbäumen und das holzgetäfelte Gemach mit der verblichenen Rosentapete, den verschnörkelten Truhen und Spinden, auf welchen wunderlich geformte Gläser mit künstlichen Wachsblumen und chinesischen Figürchen standen. Ich sehe auch durch die dreitheilige, weit geöffnete Thür in den Saal nebenan, bewundere die lange, prächtig geschmückte Tafel und die beiden bekränzten Sessel, vor welchen neben den Tellern goldene Myrthensträuße prangen. Vor Allem aber sehe ich mir gegenüber die alte Frau im tiefen Lehnstuhle, mit der weißen Spitzenhaube über dem vollen grauen Haar und dem Gebetbuche auf den Knieen, meine Großmutter. – Sie betete hier, weil sie nicht mit in die Capelle gehen konnte, die draußen vor dem Stadtthore lag. Ich aber war schnell hinausgelaufen, ehe ich die Großmutter in’s Hochzeitshaus geführt, und hatte mir das kleine Kirchlein angesehen. Es war wunderschön geschmückt; der Altar verschwand fast unter all den Blumen, und es herrschte ein Kerzenglanz, daß Einem schier die Augen weh thaten.

Dann wartete ich im Hochzeitshause mit der Großmutter, welche ich nicht so ganz allein lassen wollte, und zerbrach mir den Kopf darüber, warum in aller Welt „Ohm Dernau und Dernau’s Tant’“ – wie ich das Jubelpaar nach der patriarchalischen Sitte des Städtchens mit allen Verwandten und Nichtverwandten nannte – ihre kirchliche goldene Hochzeitsfeier in der kleinen Capelle da draußen auf dem Felde und nicht in der großen Stadtkirche hielten, und grübelte nach über manche Anspielung, die gestern am Polterabend, gemacht worden, und die, während sie die Andern höchlichst zu amüsiren schien, mir unverständlich und räthselhaft geblieben war. Dernau’s Tant’ war eine kleine, zierliche Erscheinung, mit hellen Augen, noch braunem Haare und ungewöhnlich kleinen Händen und Füßen. Sie hatte gestern in ihrem altmodischen Damastkleide mit der unglaublich kurzen Taille und dem dreieckigen Fichu, den kleinen absatzlosen Schuhen, die mit breiten Kreuzbändern über den gestickten Strümpfen befestigt waren, in einem reizenden Menuett, das ihr zu Ehren arrangirt, noch „zu guter Letzt“, wie sie sagte, mitgetanzt und allgemeine Bewunderung geerntet. Am Schlusse des Tanzes machte der Ohm, ihr Tänzer, eine tiefe Verbeugung und sagte, indeß der Schalk aus seinen Augen blitzte:

„Sie tanzen trotz einer Französin, Madame, und es war doch wohl ein Mißgriff, daß ich Sie damals den Franzosen entführte!“

Da lachten Alle, und Dernau’s Tant’ erröthete wie ein junges Mädchen.

Was mochte das Alles nur bedeuten? Ob ich die Großmutter fragte? Sie hatte mir, als ich einmal auf kurze Zeit ihr Gast war, gesagt, die Tant’, ihre liebste Jugendfreundin, habe seltsame Schicksale erlebt, und die wolle sie mir später, wenn ich älter sei, erzählen. Ob ich sie jetzt an ihr Versprechen erinnerte? Eben legte sie ihre Brille bei Seite und schlug das Gebetbuch zu. Schnell glitt ich von meinem Blüthenthrone herab und kauerte mich auf ein Bänkchen der alten Frau zu Füßen.

„Großmutter,“ sagte ich bittend, „könntest Du mir nicht heute die Geschichte Deiner Freundin erzählen? Weißt Du, Du hast mir’s versprochen!“

„Ei Lili, kleine Neugier,“ erwiderte sie, „das ist Nichts für solch Backfischchen wie Du bist! Warte noch ein paar Jährchen!“

Warten, mich gedulden war aber leider niemals meine Sache gewesen und so bat und schmeichelte ich weiter, recht wohl wissend, daß die Großmutter mir höchst selten Etwas abschlug.

„Heute paßt es so schön,“ schloß ich meine Rede, „und wir haben gute zwei Stunden Zeit; erst der Gottesdienst, dann die [366] Trauung mit der langen Rede, – die vielen Glückwünsche, und zuletzt der weite Weg hierher – Siehst Du, Großmutter, wir haben Zeit genug!“

„Du bist ein Quälgeist, Lili!“ sagte die Großmutter, allein sie rückte sich lächelnd in ihrem Sessel zurecht und war nach einigen Minuten im vollen Erzählen. Schmeichelnd umfloß uns der Blumenduft, und jetzt klang durch die klare Luft fernes Glockengeläute – der Brautzug näherte sich der Capelle.

„Ja, ja, mein Kind,“ begann die Großmutter, „das war eine schöne Zeit, als wir Beide noch jung waren, das Lorchen und ich! Ich sprang und lachte den ganzen Tag, und Lorchen erst – hast Du nicht gesehen! ein wilderes Ding gab es nimmer! Die Bachstelze nannte man sie, weil sie so flink und zierlich war und so helle Augen hatte in dem feinen, beweglichen Köpfchen. Weit und breit gab es kein schöneres Mädchen, als sie, und ihre Schönheit war so eigenartig, so zart und vornehm und so anmuthig dabei, daß man die Augen kaum von ihr abwenden konnte.

Das wußte Lorchen aber auch und führte ein unbeschränktes Regiment; alle Männer, jung und alt, huldigten ihr, und wie Mancher machte nicht in jener Zeit den Versuch, das Bachstelzchen für sein Haus einzufangen! Aber das ging nicht so leicht; Lorchen war ein Trotzkopf und kannte kein größeres Vergnügen als ihre Verehrer mitleidlos zu quälen, wo und wie sie nur konnte. Oft genug habe ich ihr darüber Vorwürfe gemacht, denn ich war ihre liebste Freundin, der sie alle kleinen Teufeleien, die sie verübte, ehrlich beichtete. Manchmal erzürnten wir uns ernstlich darüber, wenn nach einem Balle oder nach einer Waldfahrt ihr Sündenregister gar zu lang war; allein was half’s? Sie wußte doch, daß ich ihren Bitten, ‚ihr wieder gut zu sein‘, nicht widerstand (war eben gerade so eine kleine Schmeichelkatze, wie Du, Lili!) und daß bei der nächsten Gelegenheit all die jungen Männer, die sie genarrt und gequält, ihr wieder zu Füßen liegen würden. Ich habe Dich in diesen Tagen häufig ein Lied singen hören, Kleine,

‚Ich weiß ein Maidlein hübsch und fein,
0 Hüt’ Du Dich!
Sie kann wohl falsch und freundlich sein, –‘

war’s nicht so?“

„Gewiß, Großmutter,“ sagte ich und citirte ihr den zweiten Vers:

„Sie hat zwei Aeuglein, die sind braun,
0 Hüt’ Du Dich!
Sie wird Dich überzwerch anschau’n,
0 Hüt’ Du Dich!
Vertrau’ ihr nicht! sie narret Dich!“

„Nun sieh, Kind,“ fuhr die Erzählerin fort, „das beschreibt das Schelmentreiben der Lore, als sei es eigens für sie gemacht! Aber denke Du nicht schlecht von ihr, sie war doch ein liebes, süßes Geschöpf und hatte trotz ihrer vielen tollen Streiche das beste, bravste Herz.

Bei der allgemeinen Bewunderung, die das schöne Mädchen erregte, war es einigermaßen befremdlich, daß der junge Kaufmann Dernau, der sich neben Lorchen’s elterlichem Hause, demselben, in dem wir heute goldene Hochzeit feiern, angekauft, gegen seine reizende Nachbarin kalt und zurückhaltend blieb. Ich neckte sie zuweilen damit, daß er der Einzige sei, der ihrem Zauber widerstehe und der nie mit ihr getanzt habe, nicht ein einziges Mal! Da wurde sie denn stets böse, warf trotzig die rothen Lippen auf und sagte:

‚Mag er doch gehen, Christel, er ist ein Bär!‘

Nun brach aber über das Land eine schwere Zeit herein: die Franzosen wurden die Herren, unser König und die engelschöne Königin Louise mußten mit ihren Kindern flüchten, und wir Alle sollten französische Unterthanen werden. Wir hatten es schlimm, denn unser Städtchen erhielt eine neue Obrigkeit, die den Feinden wohlgesinnt war. Bald hörten wir in der Nähe Waffenlärm, und der heimathliche Friede wurde durch rohe Soldatenhorden gestört.

Ach, Kind, es war schrecklich und traurig zugleich! Der Wohlstand schwand unter dem beständigen Drucke, in Angst und Noth verbrachte man seine Tage.

Für Lorchen aber erwuchs in dieser Zeit noch eine besondere Trübsal. Das ging so zu. Von allen Seiten kam die Kunde, daß die Franzosen eine gar gewaltsame Art hätten, deutschen Schönen die Cour zu machen. Gefiel ihnen ein Mädchen, so ließen sie dasselbe ohne Weiteres durch ihre Soldaten rauben und schleppten die Unglückliche mit fort, hinein in das Kriegsgetümmel. Handlungen der rohesten Willkür waren an der Tagesordnung, gegen Diebstahl und Raub fand man wenig Schutz durch das Gesetz, das von den Franzosen oder deren Helfershelfern stets zu ihren eigenen Gunsten ausgelegt wurde. Was war zu thun? Man versteckte seine Schätze, Geld und Werthsachen vor der Gier der Fremden in hohle Bäume, in Mauern und in die Erde. Selbst Frauen und Töchter verbarg man aus Furcht vor rohen Beleidigungen, wenn Franzosen sich dem Städtchen näherten.

Das arme Lorchen hatte die härteste Zeit; die Mutter sah in ihrer Angst beständig Gespenster und zwang das Mädchen, die meiste Zeit in dem Keller des Hauses zu verbringen. Manch’ einen Nachmittag habe ich ihr dort Gesellschaft geleistet. ‚Schau,‘ sagte ich einmal, ‚durch das Fensterchen hier kannst Du ja direct in den Garten des Nachbars Dernau sehen! Nun, ist’s ein richtiger Bärenzwinger?‘ – Da wurde das Lorchen roth und wandte sich ab.

Eines Tages nun, es war am Sonnabend vor dem Pfingstfeste und ein blühender Maitag wie heute, da durchzog ein großer Trupp Feinde die Stadt. Lore saß natürlich im Keller und führte ein unterirdisches, beschauliches Leben. Als die gefürchteten Partelewuhs zum Thore hinaus waren, wurde die Eingesperrte an’s Licht geholt, und was thut das naseweise Ding? Lehnt sich im Wohnzimmer in’s offene Fenster! Nach der langen Haft war es so wonnig, die würzige Frühlingsluft einzuathmen und dem Treiben auf der Straße zuzuschauen. Aber Unglück schläft nicht! – Sein Pferd, das ein Hufeisen verloren hatte, am Zügel führend, kam ein junger französischer Officier daher. Das reizende Mädchengesicht hinter den Rosen und Gelbveigelein erblicken, seine Zügel einem Jungen zuwerfen und die Treppe hinan stürmen in’s Haus, war nur das Werk eines Augenblicks. Schnell entschlüpfte zwar die Kleine in ihr Versteck, allein was half’s? Der Franzose hatte sie nun einmal gesehen und stürmte wie toll durch’s Haus.

„Ick will die schöne Mäd!“ so schrie er unaufhörlich, und von der zitternden Mutter gefolgt, kletterte er, nachdem er alle Zimmer und auch die Böden vergeblich durchsucht, zuletzt auch in den Keller. Aber o Wunder! Das Nest war leer, das Vögelein entflohen! Durch die vergebliche Haussuchung noch wüthender gemacht, schwur der Officier, er würde am andern Tage mit einer ganzen Schwadron zurückkommen und dann das Mädchen schon finden. Nachdem er im Wohnzimmer noch ein kleines, auf Elfenbein gemaltes Portrait Lorchen’s von der Wand gerissen und zu sich gesteckt, verschwand er unter Verwünschungen und Drohungen.

In Thränen aufgelöst blieb die Mutter zurück, verwirrt und vollkommen rathlos.

Doch wer beschreibt ihre Verwunderung, als plötzlich ihr Nachbar, der junge Dernau, erscheint und sie in aller Form und Feierlichkeit um die Hand ihrer Tochter bittet!

‚Ach Gott,‘ meint die Arme, ‚das Lorchen ist ja verschwunden, sie ist nicht mehr in ihrem Versteck! Und fände ich sie auch heute, was hülf’s? morgen raubt mir der Franzose sie doch! Was fang’ ich Unglückliche an? O, der Krieg, der Krieg!‘

Da hat der junge Mann recht verlegen gelacht und gemeint: „Verlassen Sie sich nur ganz auf mich, Mama – wenn ich Sie so nennen darf! – ich werde das Lorchen schon beschützen, ist sie erst meine Frau! Und im Keller – ist sie doch! Zwar nicht in dem Ihrigen – aber in meinem Keller!“

Er führte die übeeraschte Dame in sein Haus, viele Treppen hinunter. Die jetzt doppelt Gefangene fand sich richtig; ein bischen beschämt und verweint, aber dennoch mit sehr glücklichem Gesichtchen fiel sie der Mutter um den Hals und bat, ihren Karl und sie zu segnen als Brautpaar.

Dann folgte in den beiden Nachbarhäusern allerlei geheimnißvolles Gethue, zuletzt wurde sogar der gute alte Pastor zur Berathung geholt. Spät Abends aber, eine Stunde vor Mitternacht, begab sich das Verwunderlichste, was unser friedsames nüchternes Städtchen je erlebt: in der alten Capelle auf freiem Felde, da vor dem Martini-Thor, wurde bei Nacht und Nebel ein junges Paar getraut.

Lili, Kind, stelle Dir mein Erstaunen vor, als ich geheimnißvoll hergeholt und in der Finsterniß zur Capelle gebracht wurde, um dort zusammen mit Lorchen’s Mutter und Fritz Berger, dem [367] besten Freunde Dernaus, Trauzeuge bei meiner Lore zu sein! Wundervoll gruselig für einen siebenzehnjährigen Kopf, in welchem alle Vehmgerichtsgeschichten, deren ich als echtes Kind der rothen Erde viele gehört und gelesen, lebendig wurden!

Es war eine weiche, dunkle Frühlingsnacht; der Himmel theilweise mit dunklen Wolken überzogen, aus denen ferne Blitze das Herannahen des ernsten Gewitters verkündeten.

Das schwache Licht zweier Kerzen auf dem Altare schien die in der kleinen Capelle herrschende Finsterniß noch zu erhöhen. Ein plötzlich sich erhebender Wind ließ die Flammen ängstlich hin und her schwanken und schlug die Zweige der mächtigen Linden draußen gegen die Kirchenfenster. Es war schaurig!

Der alte würdige Pfarrer, der die Mutter schon getraut und Lorchen getauft hatte, hielt eine kurze, aber um so ergreifendere Rede, die uns Alle auf’s Tiefste rührte. Nach der Trauung half ich schluchzend dem Lorchen den Myrthenkranz aus dem Haar lösen und mit einer mächtigen Haube – Fladus’ genannt –, wie die Bauernfrauen, deren Costüm sie auch als Verkleidung gewählt, sie in unserer Gegend trugen, vertauschen. Die Mutter war sprachlos vor Schmerz und wie betäubt durch den plötzlichen Verlust der geliebten Tochter. Karl Dernau hatte inzwischen ebenfalls die Tracht eines Bauern angelegt, leitete einen armseligen, einspännigen Bauernwagen vor. die Thür der Capelle und hob nach einem herzzerreißenden Abschiede von uns Allen das bitterlich weinende Lorchen unter das schützende Zeltdach. Grell beleuchtete der Blitz die traurige Scene, in der Ferne grollte dumpf der Donner, die Nacht war rabenschwarz geworden, und unter ihrem Schutze entkamen die Beiden glücklich über die nahegelegene Grenze, wo die Franzosen damals noch keine Geltung hatten. Lorchen galt als kranke Bäuerin, die zu einem berühmten Wunderdoctor und ‚Krankheitsbesprecher‘ gebracht werden sollte. Karl Dernau sah, als er das Rößlein des kleinen überdachten Bauernwagens, auf dem sie ihre seltsame Hochzeitsreise antraten, zu schnellem Trabe antrieb, so kühn und zuversichtlich aus, daß uns Zurückbleibenden die Ueberzeugung kam, die kleine Bachstelze sei bei ihm in einem sicheren Neste geborgen.

*               *
*

„Zwei Jahre vergingen. Ich hatte mich indessen auch verheirathet, regelrecht, am lichten Tage mit Brautjungfern und Hochzeitsessen, und ohne all die ein bischen spukhafte Romantik, welche Lorchen’s Trauung ausgezeichnet. Allein, wer weiß, eben diese damals gemeinsam erlebte Romantik hatte vielleicht dennoch auch mit meiner Hochzeit zu thun, war am Ende gar die Veranlassung zu derselben gewesen. Ob sie zuerst den Keim der Liebe in unsere Herzen gepflanzt, ob diese schon längst darin war und plötzlich unter dem Banne jenes seltsamen Ereignisses um Mitternacht in der kleinen halbdunklen Kirche ihren Wunderkelch entfaltete, ist schwer zu sagen. So viel nur ist gewiß, als Fritz Berger und ich das nächste Mal vor dem Altare zusammenstanden, da war es nicht, um Andern als Trauzeugen zu dienen, sondern um selbst mit einander einen glücklichen Ehebund zu schließen.

Die Stadt bekam eine neue, weniger franzosenfreundliche Obrigkeit, und das flüchtige Paar kehrte in die Heimath zurück. Karl erwarb, als sein alter Vater gestorben war, Lorchen’s elterliches Haus, die Mutter zog zu ihnen und sie lebten sehr glücklich.

Das war eine Freude, als wir uns wiedersahen! Gleich in der ersten ruhigen Stunde erzählte mir Lorchen die Geschichte ihrer Verlobung, denn die konnte ich ja noch immer nicht recht begreifen.

‚Schau, Christel,‘ erzählte sie, ‚Du kanntest mich genau und wußtest all’ meine Geheimnisse; aber daß ich dem Karl schon so lange gut war, das wußtest Du nicht! Ich schämte mich, Dir’s zu gestehen, und mir selbst. Als er aber an jenem schrecklichen Tage vor dem Kellerfenster erschien, im Augenblicke der höchsten Gefahr, das Fenster, welches ich in meiner Betäubung nicht zu öffnen wagte, einstieß, mich auf seine Arme hob und, ehe ich noch recht zur Besinnung kam, in den Keller seines Hauses gebracht hatte, da wußte ich, daß mein Herz ihm gehörte, und ich brach in ein heftiges Weinen aus. Er aber setzte sich zu mir und faßte still meine Hand. Endlich konnte ich sprechen und bat ihn herzlich um Verzeihung wegen meines seitherigen spöttischen Benehmens und dankte ihm. Was weiter folgte, kannst Du Dir denken! Romantisch war unsere Verlobung nicht, Christel! Wir saßen auf einer alten Zuckerkiste, mein Kleid war bestäubt und zerrissen, dumpfe Kellerluft wehte uns an. Doch was kümmerte es uns? Um uns blühten die Rosen, wir waren in einem Paradiese des Glücks. Und was das Romantische anbelangt, so leisteten wir ja am selben Tage noch so Erstaunliches darin, daß es für ein ganzes Menschenleben ausreichend war.‘

So beichtete mir Lorchen und wir dankten beide Gott, der uns glücklich gemacht durch die Liebe und uns wieder zusammengeführt. Dieses Glücksgefühl ließ uns die Sorgen unseres täglichen Lebens leichter tragen; denn wir lebten noch immer in Noth und Bedrückung und am politischen Himmel hingen schwarz und düster die Wolkenmassen. Die Tauffestlichkeiten unserer Kinder wurden daher aller Sitte zuwider in der Stille gefeiert, und trotz unseres Glückes fiel manche Thräne auf die blonden Köpfchen der Kleinen. Tausende fühlten, litten wie wir. Aber aus dem tiefen Weh so viel edler deutscher Herzen keimte, Gott sei es gedankt, eine herrliche Saat auf und reifte still der Ernte entgegen. Es war plötzlich, als wehe ein frischer Luftzug durchs Land; woher er kam, wußte so recht Niemand, allein er war da, und wir fühlten seinen erfrischenden Athem.

Auch bemerkten die Lola und ich bald allerlei heimliches Treiben, das uns viel Verwundern und Besinnen machte. Fuhrleute, [368] die eigentlich gar nicht aussahen wie solche, brachten Karl Dernau häufig schwere Waarenladungen, und mein Fritz, der doch als Advocat niemals mit solchen Sachen zu thun hatte, war stets beim Ausladen der Waaren, die dann bei anbrechender Dunkelheit im Keller verpackt wurden, beschäftigt. Unsere Männer hatten ein Geheimniß vor uns, das war klar! Eine Zeitlang ertrugen wir geduldig diesen unnatürlichen Zustand, dann aber verschworen wir uns, der Sache durch List auf den Grund zu kommen, und da hatte die Heimlichkeit bald ein Ende, wenigstens für die Lore und für mich. Kind, wir triumphirten nicht schlecht, das kannst Du mir glauben!

Karl und Fritz, so erfuhren wir, waren Mitglieder jenes Bundes, der heimlich und über ganz Deutschland verzweigt dahin strebte, das Vaterland von der Fremdherrschaft zu befreien. Die sogenannten Fuhrleute waren ebenfalls Bundesbrüder, und ihre Waaren Waffen, die in Dernau’s Keller versteckt wurden. Dort, wo Lorchen als Opfer französischer Willkür gefangen gesessen, hielten die Verbündeten ihre Berathungen. Dann zündeten wir Frauen oben im Saale die Kronleuchter an, klirrten mit Gläsern und trugen Flaschen und Schalen hin und her, um den Verdacht von den unterirdischen Versammlungen abzulenken und den Leuten Sand in die Augen zu streuen.

Was überall in der Stille vorbereitet war, das trat zu Tage, als der Aufruf des guten Königs erschien: „An mein Volk!“ In hellen Flammen loderte die Begeisterung empor und entzündete alle deutschen Herzen. O Kind. es war eine große Zeit! Nie werde ich den Tag vergessen, an dem der Pfarrer auf dem Marktplatze, denn die Kirche faßte die Menschenmenge nicht, die Worte des Königs las und die Männer aufforderte in den heiligen Befreiungskrieg zu ziehen. Es war eine Bewegung ohne Gleichen; weinend umarmten sich Freunde und Bekannte, die ärgsten Feinde reichten sich die Hand. Die Ersten, die sich stellten als freiwillige Kämpfer für’s Vaterland, für den heimischen Herd, für Weib und Kind, waren Karl Dernau und mein Fritz, und Viele, Viele folgten ihrem Beispiele. Und dann kam der Abschied, der schwere Abschied! Ohnmächtig brach ich zusammen, aber das Lorchen hat sich wie eine Heldin gehalten.

Wir Beiden blieben treu zusammen in der Zeit des qualvollen Wartens, der Zeit des Kampfes und der Trübsal. Endlich, endlich kamen die Siegesbotschaften! In trunkener Begeisterung trug man sie von Stadt zu Stadt, und von allen Bergen loderten die Freudenfeuer himmelan. Ein Rausch hatte sich Aller bemächtigt: Das Vaterland war frei! Der Feind vertrieben! Und unsere Lieben lebten! Im Lorbeer des Sieges kehrten sie zurück! Wir hatten viel Leid erduldet, allein wir priesen uns glücklich, daß es uns vergönnt war, solch große Zeit zu schauen!

Aber kleine Lili, wie bin ich in’s Plaudern gekommen! Ich wollte Dir ja nur –“

„O Großmutter,“ unterbrach ich sie, stürmisch dankend, „laß Dich’s nicht gereuen! Ich möchte Dir noch den ganzen Tag zuhören!“

„Nun,“ lächelte sie, „so hast Du doch Deinen Lohn dafür, daß Du die Kirchenfeier opfertest, um mir alten Frau Gesellschaft zu leisten. Eigentlich wollte ich Dir nur die Geschichte der Einsperrung von Dernau’s Tant’ erzählen, damit Du daraus ersehen könntest, welch’ gefährliche Gabe die Schönheit ist!“

„Ei, Großmutter,“ erwiderte ich, „Deine Moral gefällt mir nicht! Die Franzosen sind weit, und was mich anbelangt, so möchte ich es schon mit ein bischen Schönheit versuchen!“

Sie wollte böse werden, allein es zuckte verrätherisch um ihren Mund, wie verhaltenes Lachen, und ehe sie das bekämpft hatte und mit mir schelten konnte, sprang ich auf.

„Hörst Du,“ rief ich, „es läutet schon eine ganze Weile; die Trauung ist aus, nun müssen sie gleich kommen!“

Eilig ging ich noch durch alle Zimmer, ob’s überall recht schön geordnet sei, und streute Blumen bis vor die Hausthür. Dann warteten wir am Fenster, die, Großmutter und ich. Und nicht lange währte es, da kamen sie. Ein langer, langer Zug! Erst die Alten, viele Paare, dann das junge Volk; manch Brautpärchen unter diesen, die von der Zukunft einen ähnlichen Tag erhofften. Zum Schluß kamen die Urenkel, blühende Kinder, die blumengeschmückt wie Genien des Mai auf leichten Füßchen daher trippelten.

Am schönsten aber war das goldene Brautpaar! Wie gut der Tant’ das blaugeblümte Damastkleid stand, das gestickte Spitzentuch und im Haar die Goldmyrthen! Ohm Dernau sah gar stattlich aus mit seinen krausen, schneeweißen Haaren; ungebeugt, eine hohe, würdevolle Gestalt, neben dem Goldsträußchen im Knopfloch die Orden aus den Freiheitskriegen tragend. Er führte mit sorgsamer Liebe das Lorchen und sah so zärtlich auf die kleine zierliche Gestalt nieder, wie er es wohl damals gethan, als sie noch die junge Schönheit war, die sein Weib wurde vor fünfzig Jahren im sonnigen Mai am Tage vor Pfingsten.