Die Ursachen der Bergkrankheit
Die Ursachen der Bergkrankheit.
In unserm Jahrhundert wurde das früher gemiedene Hochgebirge für die Menschheit erschlossen. Alljährlich wandern Tausende und aber Tausende zu ihm hinauf, um in der frischen Bergluft zu gesunden, beim Erklimmen der Höhen ihre Kraft zu stählen und Eindrücke, die den Geist erheben, zu genießen. Wie schön und nützlich aber der Alpinismus auch ist, er bringt dennoch Gefahren mit sich; alljährlich hört man von Unfällen im Hochgebirge, die zur Vorsicht mahnen, und auch über den Einfluß des Aufenthalts in den höchsten uns zugänglichen Bergregionen auf die Gesundheit des Menschen ist noch keineswegs eine klare Anschauung erlangt worden.
Wer 3000 m über den Meeresspiegel und höher hinaufsteigt, der versetzt sich allmählich in ungewöhnliche Lebensbedingungen. In diesen Höhen atmet er eine dünnere Luft und bemerkt je nach seiner Veranlagung früher oder später, daß seine Muskeln, seine Lungen und sein Herz anders arbeiten als in den tiefer gelegenen, von Menschen ständig bewohnten Gegenden. Unter Umständen nehmen die Störungen in den Lebensfunktionen des Bergsteigers zu und beeinträchtigen sein Wohlbefinden. Es stellt sich bei ihm die sogenannte Bergkrankheit ein, die zumeist in Herzklopfen und Atemnot, Uebelkeit und Erbrechen, Verfall der Körperkräfte bis zur Unfähigkeit, sich zu bewegen, bläulicher Färbung der Haut, Ohrensausen, Verdunkelung des Sehens und in Ohnmachtsanfällen besteht. Das eigenartige Leiden befällt nicht gleichmäßig alle Menschen; Kälte, Ermüdung, Aufregung und Furcht beschleunigen seinen Ausbruch; manche Bergsteiger erholen sich leicht und rasch von dem Anfall, andere wieder leiden dauernd in einer bestimmten Höhe. Alle diese Erscheinungen weisen darauf hin, daß die Bergsteiger sich der Grenze nähern, welche nach der Höhe hin dem menschlichen Leben gezogen ist. Die Bergkrankheit hat schon vor hundert Jahren Naturforscher wie Saussure und Alexander von Humboldt lebhaft beschäftigt, es ist aber bis heute nicht gelungen, ihre Ursachen völlig zu ergründen und Mittel zur wirksamen Bekämpfung des Leidens zu finden.
Einen sehr beachtenswerten Beitrag zur Erforschung der so rätselhaften Einwirkung der Höhenluft auf den Menschen hat neuerdings Angelo Mosso, Professor der Physiologie an der Universität in Turin, geliefert. Im Jahre 1894 unternahm er in Begleitung von zwei Aerzten und zehn Soldaten sowie den nötigen Führern eine Expedition auf den [318] Monte Rosa, um in der Hütte „Königin Margherita“ auf der Spitze Gnifetti, in der Höhe von 4560 m über dem Meere, mit Hilfe der nötigen Apparate physiologische Beobachtungen anzustellen. Die reichen Ergebnisse dieser Arbeiten hat er in dem Werke „Der Mensch auf den Hochalpen“ niedergelegt, das vor kurzem in deutscher Uebersetzung von Dr. F. Kiesow (Verlag von Veit u. Co., Leipzig) erschienen ist. Das mit zahlreichen Figuren, Ansichten und Tabellen ausgestattete Buch verdient nicht nur das Interesse der Alpinisten, sondern bietet auch jedem, der sich für die Lebenserscheinungen des menschlichen Körpers interessiert, eine Fülle neuer Mitteilungen. Mosso giebt uns Auskunft über die Bethätigung der Muskelkraft auf großen Höhen, über den Kreislauf des Blutes und die Ermüdung des Herzens in der verdünnten Luft. Sehr eingehend prüft er die Wirkung der Bergluft auf das Nervensystem, untersucht die Beschaffenheit des Schlafes bei Bergbesteigungen und den Einfluß des Lichtes auf den Menschen in bedeutenden Höhen der Alpen. Er gedenkt auch der Unfälle, welche durch eine hochgradige Ermüdung und durch nervöse Erschöpfung herbeigeführt werden, vor allem aber sucht er für die Erscheinungen der Bergkrankheit eine befriedigende Erklärung zu finden. Auf Grund seiner Beobachtungen sieht er sich berechtigt, an Stelle der früheren eine neue Anschauung zu setzen.
Die meisten Forscher haben bis jetzt angenommen, daß der Mangel an Sauerstoff in der verdünnten Luft die lästigen und mit zunehmender Höhe lebensgefährlichen Erscheinungen hervorrufe. Mosso behauptet dagegen, daß die Abnahme der Sauerstoffmenge nicht allein entscheidend sei, daß vielmehr unser Blut in der verdünnten Luft zu viel Kohlensäure verliere und dieser Umstand die Hauptursache der Bergkrankheit bilde. Seiner Ansicht nach muß das menschliche Blut einen gewissen Gehalt an Kohlensäure besitzen, damit der Körper normal funktioniere, vor allem die Atmung und der Herzschlag sich kräftig entwickeln. Tritt eine übermäßige Anhäufung dieses Gases im Blute ein, so wirkt dieselbe schädlich und lebensgefährlich; es handelt sich dann um den Zustand, den man längst als Erstickung kennt. Aehnlich soll auch eine übermäßige Verminderung des Kohlensäuregehaltes im Blute die Lebensfunktionen stören; die Folgen dieser Verminderung beobachtet man nun bei Bergsteigern und Luftschiffern in großen Höhen und bei Leuten, die in eigens dazu gebauten pneumatischen Kammern der Einwirkung einer durch Luftpumpen verdünnten Luft ausgesetzt werden.
Für die Richtigkeit der Auffassung Mossos sprechen verschiedene Thatsachen. Es ist zunächst bekannt, daß Stoffe, die Kohlensäure enthalten, durch Verminderung des Luftdruckes zersetzt werden. Legt man z. B. in eine gesättigte Lösung von doppeltkohlensaurem Natron einige Krystalle dieser Substanz und setzt das Ganze alsdann unter die Glocke einer Luftpumpe, so sieht man auch bei einem der Höhe des Monte Rosa oder dem des Montblanc entsprechenden Luftdruck, wie sich Kohlensäure entwickelt. Die Gasbläschen lösen sich in Menge von den Krystallen ab und steigen auf, solange die Herabsetzung des Barometerdruckes andauert. Es können also durch einen niedrigen Luftdruck kohlensaure Verbindungen auch in unseren Körpersäften zersetzt werden.
Ferner wissen wir, daß unser Blut flüchtige Stoffe in der verdünnten Luft leichter ausscheidet als in der normalen. Seit längerer Zeit kennt man die Thatsache, daß der Wein aus den Alpen an Berauschungskraft verliert. Das hat darin seinen Grund, daß ein Teil des genossenen Alkohols durch die Lunge ausgeschieden wird. Versuche im Laboratorium haben nun gezeigt, daß die Lunge in verdünnter Luft reichlicher Alkohol ausscheidet als beim gewöhnlichen Luftdrucke. Schon eine Luftverdünnung, die einer Höhe von nur 2000 m entspricht, ist auf diesen Vorgang von wesentlichem Einfluß. In derselben Weise ändert sich die Wirkung des Chloroforms bei Abnahme des Luftdruckes. So ist es auch wohl möglich, daß in der verdünnten Luft der Hochalpen ein übermäßiges Entweichen der Kohlensäure aus dem Blute stattfindet.
Unter den weiteren Beweisen für die Richtigkeit seiner Anschauung führt Mosso noch folgende an:
Die Bergkrankheit tritt auch in der Nacht während des Ruhezustandes auf. Es kommt auf hohen Bergen häufig vor, daß jemand, der sich beim Zubettgehen noch ganz wohl befunden, in der Nacht plötzlich mit Unwohlsein oder mit einem Druck auf der Brust und mit Atembeschwerden aus dem Schlafe erwacht. Bergreisende in allen Weltgegenden haben darüber geklagt. So schrieb Frau Hervey, die auf ihrer berühmten Reise durch Centralasien eine Höhe von 5700 m erreicht hatte: „Der Kopfschmerz war stärker als gewöhnlich, ich litt an einem schrecklichen Druck auf der Brust. Vor allem war die Nacht wegen schmerzhafter Atembeschwerden und Herzklopfen peinlich. Ich konnte kaum eine Stunde lang ununterbrochen schlafen, dann mußte ich mich auf das Bett setzen, weil ich liegend nicht atmen konnte.“ Aehnlich berichtet Poeppig über den Zustand, in dem er sich zu Cerro de Pasco in Südamerika (4350 m hoch) befand, daß die Nacht ein wahres Martyrium sei, weil man das Liegen nicht vertragen könne. Diese Beschwerden können nicht ohne weiteres durch den Mangel an Sauerstoff in der verdünnten Luft erklärt werden; denn das Sauerstoffbedürfnis wird im ruhenden Zustande und während des Schlafes vermindert. Auch der Bruder Angelo Mossos, Professor der Pharmakologie in Genua, litt während des Aufenthaltes in der Hütte „Margherita“ an diesen nächtlichen Anfällen, und bei dieser Gelegenheit fand Mosso, daß die Beschwerden sich linderten, sobald der Bergkranke aufstand und einige Bewegungen ausführte. Durch diese Thätigkeit wurde aber von den Muskeln Kohlensäure erzeugt und dem Blute zugeführt.
Schließlich hat Mosso im Laboratorium an sich selbst und an anderen in einer pneumatischen Kammer Versuche angestellt und gefunden, daß man sich in der verdünnten Luft wohler befinde, wenn dieselbe nicht allein verhältnismäßig reicher an Sauerstoff, sondern auch an Kohlensäure sei. So vertrug er selbst ohne Beschwerden einen Luftdruck von nur 192 mm, der einer Höhe von 11650 m über dem Meere entspricht, in einer Luft, die 29,18% Sauerstoff und 2,1% Kohlensäure enthielt, während in der normalen Luft etwa 20% Sauerstoff und nur 0,04% Kohlensäure enthalten sind.
Für den Mangel an Kohlensäure im Blute hat Mosso als wissenschaftliche Bezeichnung das aus dem Griechischen hergeleitete Wort „Akapnie“ gewählt. Sie wird sicher noch den Gegenstand weiterer Forschungen bilden, so daß in naher Zukunft über die wahren Ursachen der Bergkrankheit ein immer klareres Licht verbreitet werden wird. M. Hagenau.